OLG Karlsruhe – Az.: 2 Rb 37 Ss 25/22 – Beschluss vom 25. April 2022
1. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts S. vom 06. Juli 2021 aufgehoben.
Die Betroffene wird freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Betroffenen trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat die Betroffene mit Urteil vom 06.07.2021 wegen einer vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit des Nichttragens einer nicht medizinischen Alltagsmaske oder einer vergleichbaren Mund-Nasenbedeckung entgegen der zur Tatzeit gültigen Corona-Verordnung gemäß §§ 28 Abs. 1 Satz 1, 28a, 32, 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG i.V.m. §§ 19 Nr. 2, 3 Abs. 1 Nr. 4 CoronaVO (BW) zu einer Geldbuße von 70 EUR verurteilt.
Nach den vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen hielt sich die Betroffene am 12.12.2020 um 13:26 Uhr in den Geschäftsräumen des R. Marktes in d. auf, ohne die erforderliche Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Dabei habe die Betroffene gewusst, dass sie sich in einem Ladengeschäft aufhielt, in dem eine Mund-Nasen-Bedeckung getragen werden muss. Dass der Betroffenen das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aus gesundheitlichen oder sonstigen zwingenden Gründen nicht möglich oder zumutbar gewesen sei, habe sie nicht glaubhaft gemacht. Das von ihr vorgelegte ärztliche Attest habe dazu nicht ausgereicht, weil sich aus ihm nicht nachvollziehbar ergebe, welche konkret zu benennenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufgrund der Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung zu erwarten seien, woraus diese im Einzelnen resultieren, ob und wenn ja welche Vorerkrankungen vorliegen und auf welcher Grundlage der attestierende Arzt zu seiner Einschätzung gelangt sei. Die bloße Feststellung, dass die Betroffene aus medizinischen Gründen keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen müsse, genüge insoweit nicht.
Gegen dieses Urteil hat die Betroffene form- und fristgerecht Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt. Sie macht die Verletzung formellen und materiellen Rechts geltend.
Die Generalstaatsanwaltschaft K. hat am 17.01.2022 beantragt, den Antrag der Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs.4 OWiG als unbegründet zu verwerfen, weil die auf die allgemeine Sachrüge hin vorzunehmende materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils nicht zur Aufdeckung einer Rechtsfrage führe, die die Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts gemäß § 80 Abs. 2 N.r 1 OWiG gebiete.
Die Einzelrichterin hat mit Beschluss vom 19.04.2022 die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts zugelassen und die Sache gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.
II.
Die zugelassene und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde der Betroffenen ist mit der Sachrüge begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Freisprechung der Betroffenen.
1. § 3 der zum Zeitpunkt der Tat gültigen Corona-Verordnung vom 30.11.2020 lautete, soweit vorliegend von Belang, wie folgt:
§ 3
Mund-Nasen-Bedeckung
(1) Eine nicht medizinische Alltagsmaske oder eine vergleichbare Mund-Nasen-Bedeckung muss getragen werden
…
4. in und im Warte- und Zugangsbereich von Einkaufszentren, Ladengeschäften und auf Märkten im Sinne der §§ 66 bis 68 Gewerbeordnung (GewO) sowie auf diesen räumlich zugeordneten Parkflächen,
§ 3 Absatz 2 der genannten Corona-Verordnung enthielt, soweit vorliegend relevant, folgende Ausnahmeregelung:
(2) Eine Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung besteht nicht
…
2. für Personen, die glaubhaft machen können, dass ihnen das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aus gesundheitlichen Gründen oder sonstigen zwingenden Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist, wobei die Glaubhaftmachung gesundheitlicher Gründe in der Regel durch eine ärztliche Bescheinigung zu erfolgen hat,
…
§ 19 Nr. 2 der Verordnung in der zum Zeitpunkt der Tat maßgeblichen Fassung lautete wie folgt:
Ordnungswidrig im Sinne des § 73 Absatz 1a Nummer 24 des Infektionsschutzgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig
…
2. entgegen § 3 Abs. 1 keine Mund-Nasen-Bedeckung trägt
2. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdeführerin enthielt das Infektionsschutzgesetz mit den in §§ 28, 28a, 32, 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG in der zur Tatzeit gültigen Fassung getroffenen Regelungen eine ausreichende, verfassungskonforme Ermächtigung für die in § 3 Abs. 1 CoronaVO angeordnete Maskenpflicht und deren Bußgeldbewehrung.
Der Senat hat das bereits für den bußgeldbewehrten Verstoß gegen die Maskenpflicht bei der Nutzung des öffentlichen und des touristischen Personenverkehrs gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 19 Nr. 2 der Corona-Verordnung vom 23.06.2020 in der Fassung vom 22.09.2020 (vgl. Senat, Beschluss vom 14.06.2021 – 2 Rb 35 Ss 94/21 -, juris) und in Fußgängerzonen gemäß 3 Abs. 1 Nr. 11 i.V.m. § 19 Nr. 2 der Corona-Verordnung vom 23.06.2020 in der Fassung vom 01.11.2020 (vgl. Senat, Beschluss vom 16.12.2021 – 2 Rb 37 Ss 423/21 -, juris) entschieden.
Die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung stellt einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 oder auch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG von nur geringer Intensität dar, der bis zur Einführung des § 28a IfSG durch Gesetz vom 18.11.2020 (BGBl. I, S. 2397) auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG gestützt werden konnte, solange und soweit sie verhältnismäßig war (Kießling, Infektionsschutzgesetz, IfSG 2. Aufl. 2021, § 28 Rn. 46, 47). Mit Einführung des § 28a IfSG durch Gesetz vom 18.11.2020 hat der Bundesgesetzgeber selbst die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (Maskenpflicht) neben vielen anderen Maßnahmen, beispielhaft als eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG definiert (§ 28a Abs. 1 Nr. 2 IfSG).
Die jedermann, auch nicht infizierte Personen treffende, bußgeldbewehrte Pflicht zum Tragen einer nicht-medizinischen Alltagsmaske oder einer vergleichbaren Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten öffentlichen Bereichen ist im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet und auch erforderlich, um das vom Gesetz- und Verordnungsgeber verfolgte legitime Ziel, Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu schützen und die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sicherzustellen, zu erreichen. Sie ist hinreichend bestimmt und auch im engeren Sinne verhältnismäßig (vgl. Senat, Beschlüsse vom 14.06.2021 und vom 16.12.2021, a.a.O.).
3. Die vom Amtsgericht geforderten inhaltlichen Anforderungen an ein ärztliches Attest zur Glaubhaftmachung einer Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung und damit vom Vorliegen eines Befreiungstatbestandes sind allerdings vom Wortlaut des § 3 Abs. 2 Nr. 2 CoronaVO nicht gedeckt und stellen eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende, vom Verordnungsgeber nicht gewollte Auslegung dar, auf die die Verhängung einer Geldbuße nicht gestützt werden kann.
a) Nach Art. 103 Abs. 2 GG, der auch für Bußgeldtatbestände gilt (BVerfGE 81, 132 m.w.N.) kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Nach der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht enthält diese Regelung nicht nur ein Rückwirkungsverbot für Strafvorschriften. Sie verpflichtet den Gesetzgeber vielmehr auch, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen. Diese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Sie soll einerseits sicherstellen, dass die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Sie soll andererseits gewährleisten, dass die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten im Voraus vom Gesetzgeber und nicht erst nachträglich von der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt gefällt wird. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der die Strafgerichte auf die Rechtsanwendung beschränkt. Auch das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht kann allerdings nicht völlig darauf verzichten, allgemeine Begriffe zu verwenden, die nicht eindeutig allgemein umschrieben werden können und die in besonderem Maße der Auslegung durch den Richter bedürfen. Sonst würden die Gesetze zu starr und kasuistisch und könnten dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden. Ohne die Verwendung auslegungsfähiger „flüssiger Begriffe“ wäre der Gesetzgeber nicht in der Lage, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden. Ferner ist es wegen der Allgemeinheit und Abstraktheit von Strafnormen unvermeidlich, dass es in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Gegen die Verwendung von Generalklauseln oder unbestimmten, wertausfüllenden Begriffen im Strafrecht und im Ordnungswidrigkeitenrecht bestehen danach jedenfalls dann keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, begrenzt durch den möglichen Wortsinn des Gesetzes, unter Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs und des Normzwecks oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt. Der Normadressat muss aber anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder in Grenzfällen wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar ist (zum Ganzen BVerfGE 41, 314, bei juris Rn. 20 f.; 45, 363, bei juris Rn. 36 f.; 92, 1, bei juris Rn. 44 f.; 96, 68, bei juris Rn. 84; 143, 38, bei juris Rn. 34 – 37; jew. m.w.N.; vgl. Senat, Beschlüsse vom 30.03.2021 – 2 Rb 34 Ss 1/21 und 2 Rb 34 Ss 2/21 -, juris). Auch ein verwaltungsrechtlicher Erlaubnistatbestand, den eine Straf- oder Bußgeldvorschrift in Bezug nimmt (wie vorliegend die Bußgeldbewehrung eines Verstoßes gegen die Maskenpflicht in § 19 Nr. 2 CoronaVO, sofern keiner der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 CoronaVO vorliegt), unterliegt jedenfalls dann den strengen Beschränkungen des Art. 103 Abs. 2 GG, wenn er zur Ausfüllung der straf- oder bußgeldrechtlichen Blankettnorm herangezogen und damit selbst zum Teil der Straf- bzw. Bußgeldnorm wird (vgl. BVerfGE, Beschluss vom 05.04.2006 – 1 BvR 2780/04 -, NJW 2006, 2240). Unter diesem Aspekt ist für die Bestimmtheit einer Straf- oder Bußgeldvorschrift in erster Linie der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestandes maßgeblich (BVerfG, NJW 2010, 754; BVerfG, NJW 1978, 933). Führt erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende Interpretation zu dem Ergebnis der Straf- bzw. Ordnungswidrigkeit eines Verhaltens, so kann dies nicht zu Lasten des Bürgers gehen (vgl. BVerfG, NJW 1987, 3175, NJW 1978, 933 und NJW 1984, 225).
b) § 3 Abs. 2 Nr. 2 der hier maßgeblichen zur Tatzeit gültigen baden-württembergischen CoronaVO enthielt, anders als etwa die bayrische CoronaVO (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 3 der 12. BayIfSMV) keine ausdrückliche Definition des Begriffs der „ärztlichen Bescheinigung“ oder qualitative Vorgaben hierzu (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.07.2021 – 1 S 2111/21 -, juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 22.06.2021 – 4 K 1827/21 -, juris; VG Freiburg, Beschluss vom 10.03.2021 – 3 K 477/21 -, BeckRS 2021, 4317). Der § 3 Abs. 2 Nr. 2 CoronaVO vom 30.11.2020 in der zur Tatzeit gültigen Fassung zugrundeliegende Regelungsgehalt ist daher durch Auslegung zu ermitteln.
c) Die in § 3 Abs. 2 Nr. 2 CoronaVO geforderte Glaubhaftmachung eines medizinischen Befreiungsgrundes erfordert mehr als die bloße Behauptung, aber keinen Nachweis gesundheitlicher Gründe. Nach der Regelung in § 3 Abs. 2 Nr. 2 CoronaVO hat die Glaubhaftmachung „in der Regel durch eine ärztliche Bescheinigung“ zu erfolgen.
Ein ärztliches Attest oder eine ärztliche Bescheinigung ist eine urkundliche Bescheinigung, durch die der Arzt dem Patienten bestimmte Krankheitszustände, Vorgänge oder Behandlungssituationen bescheinigt. Sie kommen in unterschiedlichsten Rechtsbereichen vor, so z.B. als Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Gesundheitszeugnisse, Zeugnisse über krankheitsbedingte Prüfungsunfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit, zur Befreiung vom Schulbesuch oder von der Maskenpflicht in der Schule, als Bescheinigung über das Bestehen einer Schwangerschaft für den Arbeitgeber, zur Begründung einer vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung i.S.v. § 60a AufenthG, als Todesbescheinigungen oder Zeugnisse für Lebensversicherungen oder als Bescheinigung über die Verhandlungsunfähigkeit im Prozess (vgl. Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, 5. Aufl. 2019, § 55 Rn. 4 und 6). Die inhaltlichen Anforderungen an ein ärztliches Attest oder eine ärztliche Bescheinigung unterscheiden sich, je nachdem in welchem Zusammenhang sie gefordert wird. So enthält eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur die Feststellung, dass Arbeitsunfähigkeit besteht und wie lange sie voraussichtlich andauern wird. Der Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, Art, Ursache und Umfang der Erkrankung mitzuteilen (vgl. Gorbys/Panzer-Heemeier, Sichtwortkommentar Arbeitsrecht, 3. Aufl., Arbeitsunfähigkeit Rn. 22). Gleiches gilt für die in § 2 PflegeZG geforderte ärztliche Bescheinigung zum Nachweis der Pflegebedürftigkeit eines nahen Angehörigen (vgl. Gallner in Erfurter Kommentar zur Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, § 2 PflegeZG Rn. 3; Joussen in BeckOK Arbeitsrecht, 63. Ed. Stand 01.03.2022, § 2 PflegeZG, Rn. 13). In § 60a Abs. 2c AufenthG sind hingegen bereits im Gesetz das Erfordernis einer „qualifizierten ärztlichen Bescheinigung“ und die inhaltlichen Anforderungen an eine solche Bescheinigung zur Glaubhaftmachung einer der Abschiebung entgegenstehenden Erkrankung normiert. Bei der Befreiung vom Schulbesuch wegen Krankheit sind die inhaltlichen Anforderungen an ein ärztliches Attest nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte geringere als bei der Befreiung von der Maskenpflicht, was damit begründet wird, dass bei der Befreiung von der Maskenpflicht auch Grundrechtspositionen insbesondere anderer Schülerinnen und Schüler sowie des Schulpersonals – das Recht auf Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – betroffen sind, für die die Schule eine besondere Verantwortung trage (vgl. VGH München, Beschluss vom 26.10.2020 – 20 CE 20.2185 -, juris; VGH München, Beschluss vom 10.12.2020 – 20 CE 20.2868 -, BeckRS 2020, 35627). Zur Glaubhaftmachung einer Verhandlungsunfähigkeit im Straf- oder Verwaltungsprozess muss das ärztliche Attest nach der Rechtsprechung in der Regel Angaben zu Art, Schwere und Dauer der Erkrankung enthalten, um dem Gericht die Beurteilung zu ermöglichen, ob Verhandlungs- oder Reiseunfähigkeit besteht. Hierfür genügt die bloße Feststellung der Verhandlungsunfähigkeit durch den ausstellenden Arzt ebenso wenig wie die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (vgl. KG, Beschluss vom 18.11.2019 – 3 Ws 352/19 – 161 AR 250/19 -, BeckRS 2019, 42699; OLG Hamm, Beschluss vom 28.02.2008 – 3 Ws 28/07; VGH München, NVwZ-RR 2018, 374).
Allein aus der Verwendung des Begriffs „ärztliche Bescheinigung“ in § 3 Abs. 2 Nr. 2 CoronaVO ist – auch in Verbindung mit dem jedenfalls durch gefestigte Rechtsprechung konkretisierten (dazu BVerfGE 143,38 – bei juris Rn. 41; NJW 2022, 139 – bei juris Rn. 156) Begriff der „Glaubhaftmachung“ – für den Normadressaten daher nicht erkennbar, welche inhaltlichen Anforderungen an eine solche Bescheinigung gestellt werden.
d) In der Begründung zu § 3 Abs. 2 zur Corona-Verordnung vom 30.11.2020 findet sich nichts dazu, welche inhaltlichen Anforderungen an die ärztliche Bescheinigung nach dem Willen des Verordnungsgebers zu stellen sind. Dort heißt es lediglich: „Von Ärztinnen und Ärzten attestierte gesundheitliche Gründe zur Befreiung von der MNB-Pflicht nach Nummer 2 können sowohl körperlich als auch psychisch bedingt sein. Die Einschätzung, dass ein gesundheitlicher Ausnahmegrund vorliegt, kann auch von approbierten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten beziehungsweise approbierten Kinder- und Jugendtherapeuten bescheinigt werden. Ein Fall der Unzumutbarkeit kommt etwa in Betracht, wenn eine MNB von Menschen mit geistigen Behinderungen nicht toleriert wird oder Menschen mit Angststörungen das Tragen nicht möglich ist; dies kann durch ein ärztliches Attest („Gesundheitszeugnis“) glaubhaft gemacht werden.“
Aus anderen Quellen lässt sich zur Überzeugung des Senats aber der Wille des Verordnungsgebers erkennen, keine besonderen inhaltlichen Anforderungen an die in § 3 Abs. 2 Nr. 2 genannte „ärztliche Bescheinigung“ zu stellen. So hat das Sozialministerium zu der Frage aus dem Antrag der Abgeordneten Sabine Wölfle u.a. vom 22.10.2020 (LT-Drs. 16/9117), „in welchen Fällen von wem über die ärztliche Bescheinigung hinaus die Vorlage eines qualifizierten Attests (ggf. auch vom Gesundheitsamt) verlangt werden darf“, am 01.12.2020 wie folgt Stellung genommen: „Nach der Corona-Verordnung wird in keiner Weise die Vorlage eines qualifizierten Attests verlangt“. Dass nach der Vorstellung des Verordnungsgebers mit dem Begriff „ärztliche Bescheinigung“ kein qualifiziertes ärztliches Attest gemeint war, welches Angaben zur Diagnose, den Befundtatsachen und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufgrund der Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung enthalten muss, lässt sich auch der Internetseite des Sozial- und Gesundheitsministeriums Baden-Württemberg (zuletzt abgerufen am 12.04.2022 unter https//www.sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/de/ministerium/antidiskiminierungsstelle-des-landes-baden-wuerttemberg/faq-corona/) entnehmen. Dort heißt es: „Informationen zur Gesundheit und Erkrankung eines Menschen stellen sehr sensible persönliche Daten dar, sie stehen deshalb unter besonderem Schutz. Daher hat die Landesregierung Baden-Württemberg festgelegt, dass die Nennung konkreter medizinischer Befunde bzw. Diagnosen in ärztlichen Bescheinigungen nicht erforderlich sind. Die ärztliche Bescheinigung muss den Namen, die Anschrift und die Fachrichtung des ausstellenden Arztes erkennen lassen und von diesem unterschrieben sein. Die Nennung konkreter medizinischer Befunde ist nicht erforderlich“. Derselbe Eintrag fand sich auch im Juni 2021 auf der Internetseite des Landes unter https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/aktuelle-infos-zu-corona/faq-corona-verordnung (vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 22.06.2021 – 4 K 1827/21 -, juris) zur gleichlautenden Regelung in der CoronaVO des Landes vom 21.06.2020.
d) Damit finden die vom Amtsgericht S. in dem angefochtenen Urteil aufgestellten Anforderungen an die Glaubhaftmachung gesundheitlicher Gründe durch ein ärztliches Attest, in dem „die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die aufgrund der Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung zu erwarten sind und woraus diese im Einzelnen resultieren“, ebenso konkret zu benennen seien wie „relevante Vorerkrankungen“ und „auf welcher Grundlage der attestierende Arzt zu seiner Einschätzung gelangt sei“ in der zur Tatzeit gültigen CoronaVO keine Stütze. Eine derart weite, vom Willen des Verordnungsgebers offensichtlich abweichende Auslegung der Ausnahmevorschrift verletzt das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG, denn die Legislative ist von Verfassungswegen verpflichtet, die Grenzen der Strafbarkeit selbst zu bestimmen; sie darf diese Entscheidung nicht anderen Gewalten, etwa der Strafjustiz überlassen. Das Bestimmtheitsgebot ist Handlungsanweisung an den Strafgesetzgeber und Handlungsbegrenzung für den Strafrichter zugleich. Aus diesem Grund versagt Art. 103 Abs. 2 GG es dem Straf- und Bußgeldrichter auch, ein unbestimmtes Gesetz von sich aus im Wege der Auslegung „nachzubessern“ (BVerfG, NJW 2002, 1779). Es ist Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er die sich daraus ergebende Lage bestehen lassen oder ob er die Regelung durch eine präzisere oder andere Regelung ersetzen will (vgl. BVerfG, NJW 1978, 933).
Dass in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung möglicherweise höhere Anforderungen an den Inhalt der in § 3 Abs.2 CoronaVO bezeichneten ärztlichen Bescheinigungen gestellt werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.07.2021, a.a.O.; Bayrischer VGH, Beschluss vom 26.10.2020 – 20 CE 20.2185 -, juris zu der anderslautenden Ausnahmeregelung in § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 der 11. BayIfSMV; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.04.2021 – 13 B 104/21 -, juris zu der Regelung in § 2 Abs. 3 S. 2 Halbsatz 2 der CoronaSchVO NRW), steht diesem Befund nicht entgegen, weil der verwaltungsverfahrensrechtliche Grundsatz, wonach die Darlegungslast für das Vorliegen eines Befreiungstatbestandes denjenigen trifft, der sich auf den Befreiungstatbestand beruft und dessen Einflussbereich die darzulegenden Tatsachen unterliegen (vgl. Kallerhoff/Fellenberg in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 24 Rn. 54; VGH München, Beschluss vom 01.02.2021 – 20 NE 21.172 -, BeckRS 2021, 1835) auf den Bereich des Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrechts nicht übertragbar ist.
e) Das nach den Feststellungen im Urteil von der Betroffenen vorgelegte ärztliche Attest vom 26.08.2020 wurde von einer namentlich bezeichneten Ärztin ausgestellt und enthält die Feststellung, dass die Betroffene „aus medizinischen Gründen bis auf weiteres keine Gesichtsmaske tragen kann“ und genügte damit den vom Verordnungsgeber normierten Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer Befreiung von der Maskenpflicht nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 CoronaVO. Die Betroffene war daher freizusprechen.
III.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 467 Abs. 1 StPO).