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Zustellung eines Urteilsentwurfs – Revisionsbegründungsfrist

KG – Az.: (2) 121 Ss 110/21 (16/21) – Beschluss vom 30.03.2022

In der Strafsache wegen Erpressung u.a. hat der 2. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 30. März 2022 beschlossen:

Der Beschluss des Senats vom 10. Januar 2022, durch den das Urteil des Landgerichts Berlin vom 18. März 2021 unter anderem im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen wurde, wird aufgehoben – auch soweit die weitergehende Revision verworfen wurde.

Das Verfahren wird fortgesetzt.

Gründe:

I.

Zustellung eines Urteilsentwurfs – Revisionsbegründungsfrist
(Symbolfoto: Kzenon /Shutterstock.com)

1. Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin – erweitertes Schöffengericht – verurteilte den Angeklagten am 12. April 2018 wegen Erpressung und wegen Betruges in sechs Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch geblieben ist, und wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug sowie wegen Urkundenfälschung in zwei Fällen und wegen Anstiftung zum Vortäuschen einer Straftat zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Zudem hat es die Einziehung von Wertersatz in Höhe von 126.786,00 Euro angeordnet.

Seine Berufung hat der Angeklagte auf die vom erweiterten Schöffengericht zu den Punkten II. 1. und 2. seines Urteils vom 12. April 2018 getroffenen Feststellungen und auf den Strafausspruch insgesamt beschränkt. In tatsächlicher Hinsicht handelt es sich dabei um die betrügerische Erlangung eines Audi R8 Spyder im Wert von 83.000 Euro gegen eine Zahlung von 4.000 Euro und die Anstiftung zum Vortäuschen des Diebstahls des Fahrzeugs. Auch die Einziehungsentscheidung des Amtsgerichts hinsichtlich der Verurteilung zu II. 3. – 11. seines Urteils (mithin in Höhe von 43.768 Euro) griff er nicht mehr an.

Daraufhin hat das Landgericht Berlin – erweiterte kleine Strafkammer – mit seinem am 18. März 2021 in Gegenwart des Angeklagten verkündeten Urteil die Entscheidung des erweiterten Schöffengerichts im Rechtsfolgenausspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt wird. Es hat ferner ausgesprochen, dass von der Gesamtfreiheitsstrafe drei Monate wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten. Außerdem hat es die Einziehung von Wertersatz des Taterlangten in Höhe von 122.786 Euro angeordnet. Die weitergehende Berufung hat das Landgericht verworfen.

Auf die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts gerügt hatte, hat der Senat das Urteil im Gesamtstrafenausspruch und hinsichtlich der Einzelfreiheitstrafen zu III. 5. – 10. (UA S. 21) sowie hinsichtlich des gewährten Vollstreckungsabschlages aufgehoben. Die Einziehungsentscheidung hatte er klarstellend dahingehend abgeändert, dass die Einziehung von Wertersatz des Taterlangten in Höhe von 122.768 (statt 122.786) Euro angeordnet wird. Im Umfang der Aufhebung hatte er die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten und Auslagen der Revision an eine andere Strafkammer des Landgerichts Berlin zurückverwiesen.

2. Eine erneute Hauptverhandlung hat bislang nicht stattgefunden. Vielmehr hat die Staatsanwaltschaft Berlin dem Senat die Akten durch Vermittlung der Generalstaatsanwaltschaft Berlin erneut zugeleitet und bittet um Aufhebung des Senatsbeschlusses vom 10. Januar 2022.

Dem liegt Folgendes zugrunde:

Nach Rückkehr der Akten an das Landgericht und Prüfung durch den Vorsitzenden der nun (vermeintlich) zuständigen 19. (erweiterten kleinen) Strafkammer stellte dieser fest, dass wahrscheinlich das in der Akte befindliche Urteilsoriginal mit der (dem Senat im Senatsheft zur Prüfung vorgelegten) „beglaubigten Abschrift“ des Urteils nicht übereinstimmt. Vielmehr zeigte sich, dass das 25-seitige Originalurteil (Bd. XVl Bl. 119-143) in wesentlichen Teilen von der nur 22-seitigen Leseabschrift (Bd. XVl Bl. 144-165), die Grundlage der „beglaubigten Abschrift“ war, abweicht. Grund der Abweichung dürfte sein, dass in dem beim Landgericht Berlin verwendeten IT-Verfahren „AULAK“ nur eine frühere Entwurfsversion abgespeichert worden ist, die durch die Geschäftsstelle offenbar ohne Kontrolle ausgedruckt und fehlerhaft als beglaubigte Abschrift des (nochmals überarbeiteten, ersichtlich längeren und schließlich unterschriebenen) Originalurteils ausgegeben wurde.

In der Leseabschrift fehlt u. a. auch ein ganzer Abschnitt, der sich zu den Voraus-setzungen des § 47 StGB verhält und im Originalurteil enthalten ist (vgl. S. 23 des Originalurteils, Bd. XVl Bl. 141).

Die Vermutung des Vorsitzenden trifft zu. Die dem Senat im Rahmen des Revisionsverfahrens mit dem Senatsheft vorgelegte „beglaubigte Abschrift“ stimmt mit dem Originalurteil in wesentlichen Teilen nicht überein. Überdies zeigt eine Prüfung, dass auch die „Leseabschrift“ in den Akten nicht mit dem unmittelbar davor eingehefteten Original des Urteils übereinstimmt und dass den Verfahrensbeteiligten offenbar keine vollständige beglaubigte Abschrift des Originalurteils zugestellt wurde.

3. Der Beschluss des Senats vom 10. Januar 2022 ist aufzuheben, das Verfahren ist fortzusetzen. Das Urteil des Landgerichts ist noch nicht ordnungsgemäß zugestellt worden, die Revisionsbegründungsfrist hat mithin noch nicht begonnen zu laufen (§ 345 Abs. 1 Satz 3 StPO).

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Entscheidungen des Revisionsgerichts grundsätzlich weder aufgehoben noch abgeändert werden. Das gilt nicht nur für nach § 349 Abs. 2 StPO ergangene Beschlüsse über die Verwerfung der Revision, durch die das Verfahren wie durch ein Verwerfungsurteil (§ 349 Abs. 5 StPO) rechtskräftig abgeschlossen wird (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 1962 – 4 StR 392/61 – = BGHSt 17, 94, 95 und vom 24. März 2011 – 4 StR 637/10 – = StraFo 2011, 218; vgl. auch Beschluss vom 4. April 2006 – 5 StR 514/04 – = wistra 2006, 271 für Entscheidungen nach § 349 Abs. 2 i.V.m. Abs. 4 StPO). Auch ein allein nach § 349 Abs. 4 StPO gefasster Beschluss, mit dem die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an den Tatrichter zurückverwiesen wird und der deshalb lediglich formelle Rechtskraft erlangt, ist regelmäßig nicht abänderbar und kann nicht aufgehoben werden (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 1991 – 5 StR 449/91 – mwN). Das Bedürfnis der Rechtspflege und der Allgemeinheit nach Rechtssicherheit verbietet es auch im Revisionsverfahren, einen Eingriff in die Rechtskraft einer gerichtlichen Sachentscheidung zuzulassen (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 1962, aaO), es sei denn, die Voraussetzungen der speziell für diesen Verfahrensabschnitt geltenden Ausnahmevorschrift des § 356a StPO wären erfüllt, wonach die Entscheidung des Revisionsgerichts unter Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör zustande gekommen ist, was hier nicht der Fall ist.

b) Hier hat der Senat über das Rechtsmittel des Revisionsführers auf der Grundlage eines bloßen Urteilsentwurfs des Landgerichts entschieden und von diesem Umstand erst nach Erlass seiner Entscheidung Kenntnis erlangt.

Der Bundesgerichtshof hat in der Vergangenheit in Fällen, in denen eine Entscheidung über das Rechtsmittel der Revision lediglich infolge Unregelmäßigkeiten oder Versehen oder wegen der Gegebenheiten des gerichtlichen Geschäftsgangs auf unvollständiger oder unzutreffender tatsächlicher Grundlage getroffen wurde und sich dies erst nachträglich herausstellt, das Bedürfnis nach einer Korrektur der getroffenen, formell oder materiell rechtskräftigen Entscheidung anerkannt. Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gebieten es in einem solchen Fall, den Widerspruch zwischen der auf einer unzutreffenden Grundlage ergangenen Entscheidung und der abweichenden Tatsachenlage zu beseitigen; der damit verbundene Eingriff in die Rechtskraft wiegt hier weniger schwer (vgl. BGH, Beschluss vom 10. September 2015 – 4 StR 24/15 – mwN, juris).

Im vorliegenden Fall hat der Senat über das Rechtsmittel des Angeklagten weder in Verkennung der prozessualen Lage noch aus Rechtsirrtum entschieden, sondern auf einer unzutreffenden tatsächlichen Grundlage, die ihren Grund allein in einer Unregelmäßigkeit im Geschäftsgang des Landgerichts hatte. Denn die dem Senat vorgelegte Urteilsfassung, die lediglich einen Entwurf darstellte und die sich – anders als die Endfassung – auch im AULAK-Textverarbeitungssystem befand, wurde aus letztlich ungeklärten, im Geschäftsablauf des Landgerichts zu suchenden Gründen – entgegen der Anordnung des Vorsitzenden – dem Verteidiger des Angeklagten zugestellt, zu den Senatsakten genommen und so zur Grundlage der Senatsentscheidung. Der Fall ist tatsächlich nahezu identisch mit dem durch den Bundesgerichtshof am 10. September 2015 entschiedenen (vgl. BGH aaO).

c) Die Zustellung der Entwurfsfassung des landgerichtlichen Urteils an die Verfahrensbeteiligten konnte die Revisionsbegründungsfrist nicht in Lauf setzen (vgl. BGH aaO). Der Senat hebt daher seinen Beschluss vom 10. Januar 2022 auf. Dem Verfahren ist nunmehr durch Zustellung der richtigen Fassung Fortgang zu geben.

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