OVG NRW
Az: 16 B 820/13
Beschluss vom 02.12.2013
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 21. Juni 2013 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller entsprechend seinem Antrag vom 22. September 2011 eine Fahrerlaubnis der Klassen A1 und B zu erteilen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet. Er kann vorläufig beanspruchen, die am 22. September 2011 beantragte Fahrerlaubnis zu erhalten.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. den §§ 920 Abs. 2 und 294 ZPO). Dabei ist das Gericht entsprechend dem Sicherungszweck des Anordnungsverfahrens grundsätzlich auf den Ausspruch einer vorläufigen Regelung beschränkt, die der Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren im Hauptsacheverfahren nicht vorgreifen darf. Ein solcher Fall der Vorwegnahme der Hauptsache, der besondere Anforderungen im Hinblick auf den Anordnungsgrund mit sich bringt, ist hier indessen nicht gegeben. Denn das Begehren des Antragstellers bezieht sich lediglich auf eine vorläufige Regelung. Bezogen auf den begrenzten Regelungszeitraum handelt es sich zwar um die abschließende Gestaltung eines Zustands; das ist aber bei jeder einstweiligen Anordnung der Fall. Eine über den geregelten Zeitraum hinausreichend unabänderliche Regelung – nur eine solche nähme wirklich die Hauptsache vorweg – wird vom Antragsteller nicht begehrt und ist auch nicht nach der Natur der Sache mit seinem Begehren verbunden.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. September 2013 – 16 B 1022/13 – und eingehend Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Loseblatt- Kommentar (Stand: August 2012), § 123 Rn. 147 ff.
Ein Anordnungsanspruch ist gegeben.
Der Antragsgegner und diesem folgend das Verwaltungsgericht gehen insoweit zu Unrecht davon aus, dass dem Wiedererwerb einer Fahrerlaubnis der vormals innegehabten Klassen A1 und B Eignungsdefizite des Antragstellers entgegenstehen. Das folgt insbesondere nicht daraus, dass der Antragsteller als derzeit fahrungeeignet gilt, weil er eine ihm aufgegebene (hier: medizinisch-psychologische) Untersuchung verweigert habe (§ 11 Abs. 8 FeV). Der Anwendung der Nichteignungsfiktion des § 11 Abs. 8 FeV stehen möglicherweise schon formelle Mängel der Begutachtungsanordnung des Antragsgegners entgegen. In jedem Fall fehlte es an der materiellen Berechtigung des Antragsgegners, von dem Antragsteller eine neuerliche vollständige Begutachtung zu verlangen, nachdem dieser bereits im Januar 2012 bzw. – nach Beseitigung formaler Beanstandungsgründe und teilweiser Umformulierung durch die beauftragte DEKRA – im Mai 2012 ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorgelegt hatte.
Die Begutachtungsanordnung des Antragsgegners, die das Datum des 25. Juni 2012 trägt, konnte gegenüber dem Antragsteller mit hoher Wahrscheinlichkeit keine ihm nachteiligen rechtlichen Wirkungen erzeugen. Dabei muss dem Vorbringen des Antragstellers, er habe diese Aufforderung gar nicht erhalten, nicht weiter nachgegangen werden; die Akte enthält allerdings für dieses Aufforderungsschreiben – anders als etwa für die angefochtene Ordnungsverfügung vom 1. Oktober 2012 – weder einen Zustellungsnachweis noch auch nur den sog. Ab-Vermerk des verantwortlichen Mitarbeiters. In jedem Fall fehlte es in dieser Aufforderung an einer wirksamen Fristbestimmung für die Vorlage des geforderten Gutachtens. Als Fristende für die Vorlage des Gutachtens wird in der genannten Aufforderung der „20.12.2011“ angegeben; dies und auch der im Übrigen übereinstimmende Wortlaut der Aufforderung lassen zwanglos darauf schließen, dass der Antragsgegner am 25. Juni 2012 die alte Begut-achtungsanordnung vom 20. Oktober 2011 nochmals ausgedruckt und lediglich mit einem neuen Erstellungsdatum versehen hat, wobei auch die alte, längst überholte Fristbestimmung nicht angepasst worden ist. Abgesehen vom Fehlen der Fristbestimmung konnte der Antragsteller gerade wegen der wortwörtlichen Wiederholung des Aufforderungstextes nicht zwingend davon ausgehen, er müsse wegen der zwischenzeitlich zutagegetretenen Zweifel an den zugrundeliegenden Abstinenznachweisen die gesamte Begutachtung, also auch die unproblematischen, von den aufgetretenen Zweifelsgründen nicht berührten Teile, komplett wiederholen. Der rechtlich unerfahrene und anwaltlich nicht vertretene Antragsteller durfte das Schreiben mit dem Datum des 25. Juni 2012 wegen der Verwendung des alten Aufforderungstextes vielmehr als bloße Erinnerung daran verstehen, dass das im Oktober 2011 geforderte Gutachten noch nicht in vollem Umfang, also einschließlich zweifelsfreier Abstinenznachweise, erbracht worden war. Hierfür sprach auch, dass die Aufforderung keine Begründung dafür enthielt, warum eine Neubegutachtung – sei es eine vollständige, sei es eine teilweise – für erforderlich gehalten wurde. Schließlich ist die Versendung der nur hinsichtlich des Erstellungsdatums aktualisierten „alten“ Begut-achtungsaufforderung – insbesondere das Festhalten an der zeitlich überholten Fristsetzung – ganz allgemein und umfassend dem Einwand mangelnder Verbindlichkeit und Ernstlichkeit ausgesetzt; der Antragsteller konnte nach dem Erhalt dieses Schreibens – wenn er es denn überhaupt erhalten hat – begründetermaßen argwöhnen, es müsse bei der Fahrerlaubnisbehörde „irgendetwas schief gelaufen“ sein, was er im Übrigen nicht zum Anlass genommen hat, völlig untätig zu bleiben; vielmehr hat er sich um die Beibringung der vom Antragsgegner beanstandenden Abstinenznachweise bemüht und diese schließlich auch dem Antragsgegner vorgelegt.
Unter den genannten Umständen ergibt sich eine wirksame Begutachtungsanordnung auch nicht bei Einbeziehung der weiteren Aufforderungsschreiben des Antragsgegners vom 27. August und vom 10. September 2012. Das erstgenannte Schreiben bezieht sich nicht ausdrücklich auf die vorangegangene Aufforderung vom 25. Juni 2012 mit den darin enthaltenen näheren Maßgaben und Erläuterungen. Es weist lediglich auf die Rückübersendung der Begutachtungsunterlagen durch die DEKRA hin und verlautbart, aufgrund dieses Umstandes werde davon ausgegangen, dass sich der Antragsteller inzwischen einer medizinisch-psychologischen Untersuchung unterzogen habe; es werde um die Vorlage einer Ausfertigung des Gutachtens bis zum 10. September 2012 gebeten. Auch diese kurze Aufforderung verdeutlicht nicht, dass und vor allem warum vom Antragsteller eine vollständige Neubegutachtung gefordert war. Auch diese Aufforderung konnte daher so verstanden werden, dass durch die Nachholung der beanstandeten bzw. mit Zweifeln behafteten Untersuchungen, d.h. durch neue Abstinenznachweise für Cannabis und Alkohol, die im Übrigen schon vorliegende Begutachtung komplettiert werden solle. Nichts anderes gilt für das Schreiben des Antragsgegners vom 10. September 2012, mit welchem dem Antragsteller eine weitere Frist gesetzt worden ist. In diesem Zusammenhang ist im Übrigen beachtenswert, dass offensichtlich auch die Begutachtungsstelle, also die DEKRA, aufgrund der vom Antragsgegner erhaltenen Informationen nicht von der Erforderlichkeit einer vollständig neuen Begutachtung ausgegangen ist.
Unabhängig von den dargestellten Bedenken gegen die Annahme, der Antragsgegner habe den Antragsteller formell ordnungsgemäß zu einer umfassenden Neubegutachtung aufgefordert, erwiese sich eine solche Forderung auch aus materiellen Gründen als ungerechtfertigt. Der Antragsteller hat sich auf die Anordnung des Antragsgegners vom 20. Oktober 2011 hin begutachten lassen; in diesem Zusammenhang ist insbesondere auch eine psychologische Befunderhebung erfolgt, die im Zusammenwirken mit den medizinischen Untersuchungen und den vom Antragsteller „mitgebrachten“ Befunden zu einer positiven Prognose hinsichtlich des zukünftigen Verkehrsverhaltens des Antragstellers gelangte. Die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vom Antragsteller zu verantwortenden äußerlichen Mängel des im Januar 2012 von ihm vorgelegten Gutachtens, die einer zweifelsfreien Feststellung der Authentizität des Gutachtens entgegenstanden, sind durch das im Mai 2012 vorgelegte Zweitexemplar beseitigt worden. Die fortbestehenden Zweifel des Antragsgegners an der Ordnungsgemäßheit der dem Gutachten zugrunde gelegten Abstinenznachweise sind dadurch obsolet geworden, dass der Antragsteller im September 2012 sowohl für Cannabis als auch für Alkohol die Ergebnisse von Haaranalysen vorgelegt hat, die für etwa neun (weitere) Monate bzgl. Cannabis bzw. drei (weitere) Monate bzgl. Alkohol eine Abstinenz belegen. Da der Antragsteller zwischenzeitlich ein weiteres Zertifikat über eine Haaranalyse des TÜV Nord (Probenentnahme am 23. Oktober 2012) vorgelegt hat, nach dem für die letzten ca. drei Monate keine der aufgeführten Substanzen, darunter Cannabinoide und der Alkoholmarker Ethylglucuronid, nachweisbar waren, wobei allerdings – wie typischerweise bei Haaranalysen – ein einmaliger oder sehr seltener Konsum nicht ausgeschlossen werden konnte, ist in Verbindung mit den im September 2012 vorgelegten Befunden und den bei der Begutachtung durch die DEKRA am 19. Dezember 2011 gewonnenen Untersuchungsergebnissen (unauffällige Leberwerte, kein Nachweis von Cannabis oder anderen Betäubungsmitteln im Urin) ein insgesamt hinreichender Abstinenznachweis anzuerkennen. Da im Mittelpunkt der seinerzeitigen psychologischen Exploration die Abstinenzbehauptung des Antragstellers und dessen innere Einstellung zu den Gründen und zur Fortsetzung dieser Abstinenz standen, war für das prognostische Ergebnis der psychologischen Begutachtung unter anderem maßgeblich, ob diese Abstinenz tatsächlich bestätigt werden konnte. Nachdem dies nunmehr der Fall ist und jedenfalls zu wesentlichen Teilen auch schon zur Zeit des Erlasses der die Wiedererteilung der beantragten Fahrerlaubnis ablehnenden Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 1. Oktober 2012 der Fall war, erscheint es als unnötig und daher auch unverhältnismäßig, diesen besonders intensiv in Persönlichkeitsrechte eingreifenden Teil der Begutachtung vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1993 – 1 BvR 689/92 -, BVerfGE 89, 69 = NJW 1993, 2365 = VRS 86 (1994), 1 = juris, Rn. 52 bis 56; BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2005 – 3 C 25.04 -, NJW 2005, 581 = VRS 109 (2005), 300 = DAR 2005, 581 = Blutalkohol 43 (2006), 49 = juris, Rn. 22
nochmals durchführen zu lassen. Denn wenn die untersuchende Diplompsychologin im Dezember 2011 – auf der Grundlage eines von ihr für plausibel gehaltenen Abstinenznachweises – eine positive Prognose hinsichtlich der Fortsetzung der Abstinenz gestellt hat, spricht nichts Überzeugendes dafür, dass sie oder ein anderer Gutachter bei wiederum glaubhafter Abstinenz nunmehr zu einer anderen Prognose gelangen könnten. Das wäre allenfalls dann anders zu bewerten, wenn sich erwiesen hätte, dass der beim Antragsgegner entstandene Manipulationsverdacht hinsichtlich der vom Antragsteller zum Untersuchungstermin bei der DEKRA im Dezember 2011 vorgelegten Abstinenznachweise den Verdacht einschlösse, der Antragsteller sei in das manipulative Geschehen einbezogen gewesen; das würde auf einen charakterlichen Mangel des Antragstellers hindeuten, der Einfluss auf die durch psychologische Exploration zu ergründende Fahreignungsprognose haben könnte. Für eine solche Beteiligung des Antragstellers spricht indessen nach Aktenlage nichts. Der beim Antragsgegner aufgekommene Manipulationsverdacht bezieht sich ausschließlich darauf, dass die Ärztin aus E. , die beim Antragsteller die Haarprobe entnommen und an das Analyselabor gesandt hat, mit anderweitigen Manipulationsfällen in Verbindung gebracht worden ist, wobei nicht einmal abschließend feststehen dürfte, dass die gegen die Ärztin erhobenen Vorwürfe wirklich zutreffen. Soweit der Antragsgegner – wie aus einem Schreiben an die DEKRA vom 15. Mai 2012 hervorgeht – angenommen hat, der Antragsteller sei nach einer Auskunft der DEKRA vom 13. Februar 2012 mit extrem kurzen Haaren zu der dortigen Untersuchung am 19. Dezember 2011 gekommen, während eine Probe mit 12 cm langen Haaren am 22. Dezember 2011 im Labor eingegangen sei, beruht das auf einem offenkundig fehlerhaften Verständnis des besagten DEKRA-Schreibens vom 13. Februar 2012. In diesem Schreiben heißt es ausdrücklich, im Fall des Antragstellers seien nach nochmaliger Prüfung aller vorliegenden Unterlagen keine Belege dafür gefunden worden, die auf manipulierte oder gefälschte Befunde hinwiesen. Anschließend berichtet die DEKRA in diesem Schreiben von einen anderen Fall, in dem der dort Betroffene etwa zeitgleich über die in Verdacht geratene Ärztin eine Haarprobe eingereicht habe und mit extrem kurzen Haaren zur Untersuchung bei der DEKRA erschienen sei. Diese zusätzliche Information hat der Antragsgegner anscheinend auf den Antragsteller bezogen, was der Wortlaut des Schreibens indessen nicht hergibt. Es fehlt auch jeder sonstige Hinweis darauf, dass sich die seinerzeitige Haarprobe beim Antragsteller ähnlich abgespielt haben könnte wie in dem beschriebenen anderen Fall.
Auch ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht. Der Antragsteller bzw. seine für ihn Stellung nehmende Mutter haben anschaulich und nachvollziehbar beschrieben, dass sich das Fehlen der Fahrerlaubnis erheblich belastend auf den in der Berufsausbildung befindlichen Antragsteller auswirkt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2 sowie 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).