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Fahrerlaubnisentziehung wegen Straftaten im Zusammenhang mit der Fahreignung

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof – Az.: 11 B 20.2996 – Urteil vom 17.10.2022

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 13. März 2020 und der Bescheid der Beklagten vom 12. Juli 2018 werden aufgehoben.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Zusammenfassung

Gericht entzieht Fahrerlaubnis wegen sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung.

Das Verwaltungsgericht München hat die Klage eines Mannes abgewiesen, der gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, C1, C1E, L, M und S vorgegangen war. Der Kläger hatte wegen sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung bereits eine Freiheitsstrafe erhalten. Die Beklagte hatte daraufhin den Antrag des Klägers auf Erteilung der Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung abgelehnt. Später hatte der Kläger erneut eine Fahrerlaubnis beantragt, woraufhin die Beklagte ihn zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens aufforderte. Da der Kläger kein Gutachten vorlegte, entzog ihm die Beklagte die Fahrerlaubnis.

Das Gericht bestätigte nun die Entscheidung der Beklagten, da die begangenen Straftaten Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial und eine Neigung zur impulsiven Durchsetzung eigener Interessen lieferten. Eine medizinisch-psychologische Untersuchung sei daher geeignet gewesen, die Fahreignung des Klägers zu klären. Das Gericht betonte zudem, dass die Tatzeitpunkte zwar lange zurücklägen, die Straftaten aber im Zeitpunkt der Gutachtensanordnung noch verwertbar waren. Der Kläger hatte die Entziehung seiner Fahrerlaubnis mit dem Argument angefochten, dass die Beklagte keine medizinisch-psychologische Untersuchung angeordnet hatte, als er 2014 und 2016 die Verlängerung seines Personenbeförderungsscheins beantragte. Das Gericht wies diesen Einwand jedoch ab und stellte fest, dass die Anordnung im Ermessen der Beklagten lag und sie dieses fehlerfrei ausgeübt hatte

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, C1, C1E, L, M und S.

Im Mai 2008 erhielt die Beklagte eine polizeiliche Auskunft, aus der sich u.a. ergibt, dass gegen den Kläger, der zum damaligen Zeitpunkt auch Inhaber einer Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung war, wegen sexueller Nötigung/Vergewaltigung (Tattag 24.1.2008) eines Fahrgastes ermittelt wurde und sich im Mai 2006 ein ähnlicher Vorfall ereignet hatte. Ende November 2008 wurde der Beklagten bekannt, dass das Amtsgericht Starnberg den Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch widerstandsunfähiger Personen (Tattag 25.5.2006) durch Strafbefehl vom 28. Januar 2008, rechtskräftig seit 18. September 2008, zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt und die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zum Tatvorwurf vom 24. Januar 2008 mit Verfügung vom 30. Juli 2008 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt hatte. Mit Bescheid vom 2. März 2010 hatte die Beklagte wegen bekannt gewordener Straftaten, darunter der Tat vom 25. Mai 2006 und einer rechtskräftigen Verurteilung wegen Einschleusens von Ausländern vom 6. Juni 2000 (Tattag 24.12.1999), den Antrag des Klägers vom 10. März 2009 auf Erteilung der Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung mit Taxen und Mietwagen abgelehnt. Am 7. Juni 2017 beantragte der Kläger erneut, ihm eine Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung zu erteilen. Nach der Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts vom 9. Juni 2017 war zu diesem Zeitpunkt ausschließlich die Versagung der Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung vom 2. März 2010 im Fahreignungsregister eingetragen. Aus einem Bundeszentralregisterauszug vom 12. Juni 2017 ergab sich darüber hinaus, dass das Amtsgericht München den Kläger am 7. Juli 2010 unter Einbeziehung des Strafbefehls vom 28. Januar 2008 wegen sexueller Nötigung in drei Fällen (Tattag 2.8.2003) rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt hatte.

Daraufhin forderte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 30. Oktober 2017 auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten zu der Frage beizubringen, ob trotz der aktenkundigen Straftaten (hohes Aggressionspotenzial außerhalb des Straßenverkehrs) zu erwarten sei, dass er die Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs der Gruppe 1 und 2 erfülle und nicht erheblich oder wiederholt gegen strafrechtliche Bestimmungen verstoßen werde, sodass dadurch die Fahreignung ausgeschlossen werde. Mit weiterem Schreiben vom selben Tag forderte die Beklagte den Kläger auf, auch ein medizinisch-psychologisches Gutachten zu der Frage beizubringen, ob er die Gewähr dafür biete, dass er die Voraussetzungen der besonderen Verantwortung für die Beförderung von Fahrgästen erfülle. Ein Gutachten legte der Kläger in der Folge nicht vor.

Nach Anhörung zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis und zur Versagung der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung nahm der Kläger mit Schreiben vom 30. März 2018 seinen Erteilungsantrag zurück und stellte klar, dass er nicht auf seine Fahrerlaubnis verzichten werde.

Mit Bescheid vom 12. Juli 2018 entzog die Beklagte dem Kläger gestützt auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 i.V.m. Abs. 8 FeV die Fahrerlaubnis und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgelds auf, seinen Führerschein innerhalb von einer Woche ab Bestandskraft des Bescheids abzugeben. Die Begehung von sexuellen Nötigungen, gefährlichen Körperverletzungen und sexuellem Missbrauch widerstandsunfähiger Personen sei geeignet, Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial zu liefern. Der Zusammenhang zwischen Straftaten mit hohem Aggressionspotenzial und einer erhöhten Auffälligkeit im Straßenverkehr sei wissenschaftlich belegt. Wer wie der Kläger aufgrund der rücksichtslosen Durchsetzung eigener Interessen, seines großen Aggressionspotenzials, nicht beherrschter Affekte und unkontrollierter Impulse in schwerwiegender Weise die Rechte anderer verletze, lasse nicht erwarten, dass er im motorisierten Straßenverkehr die Rechte anderer Verkehrsteilnehmer – zumindest in den sehr häufig auftretenden Konfliktsituationen – respektieren werde.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 16. August 2018 Klage zum Verwaltungsgericht München und teilte mit, er fahre seit 2006 nicht mehr Taxi. Die Straftaten lägen schon sehr lange zurück und er habe alle Strafen bezahlt und verbüßt. Seither habe er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen. In den Jahren 2014 und 2016, als er die Verlängerung seines Personenbeförderungsscheins beantragt habe, habe die Beklagte keine medizinisch-psychologische Untersuchung verlangt und auch keine Entziehung der Fahrerlaubnis in die Wege geleitet.

Mit Urteil vom 13. März 2020 wies das Verwaltungsgericht die Klage im Wesentlichen mit der Begründung ab, der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig, da die Beklagte gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV zu Recht von der fehlenden Fahreignung des Klägers ausgegangen sei. Die auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV gestützte Gutachtensanordnung sei rechtmäßig gewesen. Bei den ihr zugrundeliegenden Taten der sexuellen Nötigung, der gefährlichen Körperverletzung und des sexuellen Missbrauchs handle es sich um Straftaten, die nach Nr. 3.14 (richtig: Nr. 3.16) der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stünden und Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial und eine Neigung zur impulsiven Durchsetzung eigener Interessen lieferten. Die Beklagte habe das ihr zustehende Ermessen erkannt und fehlerfrei ausgeübt. Die medizinisch-psychologische Untersuchung sei auch geeignet zu klären, ob eine Einstellung und Verhaltensänderung eingetreten sei. Es sei zwar zutreffend, dass die Taten lange zurücklägen. Die Straftaten seien jedoch im Zeitpunkt der Zustellung der Gutachtensanordnung im Führungszeugnis eingetragen und verwertbar (§ 34 Abs. 1 Nr. 2 BZRG). Die Beklagte habe die länger zurückliegenden Tatzeitpunkte auch berücksichtigt, jedoch die Anordnung wegen des wiederholten Verhaltensmusters für erforderlich gehalten. Sie habe in Anbetracht des Zeitlaufs keinen Sofortvollzug angeordnet.

Zur Begründung der vom Senat wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils zugelassenen Berufung bezieht sich der Kläger auf sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren und im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren und lässt ergänzend ausführen, die Beklagte habe am 7. Juni 2016 ohne jeden Anlass vom Polizeipräsidium München Auskunft über ihn angefordert. Die Einleitung des Überprüfungsverfahrens sei ebenso anlasslos gewesen wie die Aufforderung zur Beibringung des Fahreignungsgutachtens vom 30. Oktober 2017. Letztere sei auch nicht verhältnismäßig. Von den Verfahren aus der polizeilichen Erkenntnisliste, insbesondere den beiden Strafverfahren wegen sexueller Nötigung und sexuellen Missbrauchs, deren Tatzeitpunkt in den Jahren 2003 und 2006 gelegen habe, habe die Beklagte bereits seit 2008 oder früher Kenntnis gehabt. Sie habe nicht berücksichtigt, dass die letzte Verurteilung des Klägers zum Zeitpunkt der Beibringungsanordnung bereits über acht Jahre und die letzte Tat mehr als zwölf Jahre zurückgelegen habe, und der Kläger während eines langen Zeitraums ohne jede Straftat am Straßenverkehr teilgenommen und keine aggressions- oder alkoholbedingten Verhaltensweisen gezeigt habe. Der Kläger sei Fuhrunternehmer und lebe davon, Transporte durchzuführen. Auch dieser Aspekt und seine langjährige völlige Straffreiheit hätten bei der Anordnung der medizinisch-psychologischen Untersuchung im Rahmen des Ermessens berücksichtigt werden müssen. Die Beibringung habe ohne unmittelbaren Anlass bzw. Anknüpfungspunkt völlig frei im Raum gestanden.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 13. März 2020 und den Bescheid der Beklagten vom 12. Juli 2018 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen der § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV hätten vorgelegen. Der Rechtmäßigkeit der Beibringungsanordnung habe nicht entgegengestanden, dass die Straftaten aus den Jahren 2003 und 2006 im maßgeblichen Zeitpunkt der Anordnung bereits längere Zeit zurückgelegen hätten. Die begangenen Taten hätten gezeigt, dass der Kläger bereit und in der Lage gewesen sei, seine eigenen (sexuellen) Interessen rücksichtslos und unter erheblicher Gewaltanwendung durchzusetzen. Beide Taten seien so schwerwiegend und so ähnlich gewesen, dass aus Sicht der Beklagten bereits ein gewisses Tatmuster erkennbar gewesen sei: sexueller Missbrauch in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung bzw. sexuelle Nötigung, jeweils unter Ausnutzung des eigenen Pkw und der Hilflosigkeit der Opfer. Vor diesem Hintergrund sei es nicht zu verantworten, allein durch den Ablauf eines längeren Zeitraums eine Wiederherstellung der Fahreignung anzunehmen. Die Beklagte habe keine eigenen psychologischen Kenntnisse oder Erkenntnismöglichkeiten, um ohne eine fachliche Begutachtung eine Rückfallgefahr des Klägers zu verneinen und Eignungszweifel auszuräumen. Aufgrund der Schwere der Taten und der vergleichbaren Art der Tatbegehung sei daher nur die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Begutachtung geeignet, erforderlich und angemessen gewesen, um die bestehenden Fahreignungszweifel zu klären.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, da der Bescheid der Beklagten vom 12. Juli 2018 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Beklagte durfte aus der Nichtbeibringung des von ihr geforderten Fahreignungsgutachtens nicht gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Verordnung vom 3. Mai 2018 (BGBl I S. 566), auf eine fehlende Fahreignung des Klägers schließen, weil sie das ihr durch § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV eingeräumte Ermessen bei der Anordnung der Begutachtung nicht ordnungsgemäß ausgeübt hat. Ob die Beibringungsanordnung verhältnismäßig war, kann dahinstehen.

Geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat (§ 2 Abs. 4 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes [StVG] in der Fassung der Bekanntmachung vom 5.3.2003 [BGBl I S. 310, 919], im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 30.6.2017 [BGBl I S. 2162], § 11 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 FeV).

Erweist sich jemand als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen, so hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die Eignung begründen, so kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines Fahreignungsgutachtens anordnen (§ 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 bis 6 FeV). Unter anderem kann die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinisch-psychologisches Gutachten) zur Klärung von Eignungszweifeln angeordnet werden bei Straftaten, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stehen, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen (§ 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV). Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden. Der Schluss auf die Nichteignung ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der Begutachtung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 19).

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV lagen vor. Die vom Kläger begangene gefährliche Körperverletzung und die dreifache sexuelle Nötigung waren von einem hohen Aggressionspotenzial gekennzeichnet (vgl. OVG NW, B.v. 11.4.2017 – 16 E 132/16 – juris Rn. 7; NdsOVG, U.v. 8.7.2014 – 12 LC 224/13 – NJW 2014, 3176 = juris Rn. 51), wodurch der Zusammenhang mit der Kraftfahreignung hergestellt wird. Letzterer setzt weder voraus, dass die Anlasstaten einen Verstoß gegen verkehrsrechtliche Vorschriften darstellen, noch, dass sie im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehen oder im Straßenverkehr begangen wurden oder der Betroffene bereits zuvor im Straßenverkehr aufgefallen ist (vgl. BayVGH, B.v. 17.5.2021 – 11 ZB 20.2572 – juris Rn. 15; B.v. 24.11.2014 – 11 CS 14.2194 – juris Rn. 12; Siegmund in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand 28.9.2022, § 11 FeV Rn. 110). Als Regelbeispiel, in dem ein Zusammenhang mit der Kraftfahreignung anzunehmen ist, sind in § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV Straftaten, die Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bieten, genannt. Dem liegt die Einschätzung des Gesetz- und Verordnungsgebers zugrunde, dass allgemeinrechtliche Straftaten in der Regel durch generalisierte, gewohnheitsmäßige Fehleinstellungen und Fehlreaktionen bedingt sind, welche auch eine adäquate Bewertung der Normen und Gesetze erschweren, die den Straßenverkehr regeln (Begründung zu Nr. 3.16 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27.1.2014 [Vkbl S. 110] in der Fassung vom 17.2.2021 [Vkbl S. 198], in Kraft getreten am 1.6.2022, S. 84). Wer aufgrund des rücksichtslosen Durchsetzens eigener Interessen, aufgrund seines großen Aggressionspotenzials oder seiner nicht beherrschten Affekte und unkontrollierten Impulse in schwerwiegender Weise die Rechte anderer verletzt, lässt nicht erwarten, dass er im motorisierten Straßenverkehr die Rechte anderer Verkehrsteilnehmer – zumindest in den sehr häufig auftretenden Konfliktsituationen – respektieren wird. Solange ein solches Fehlverhalten besteht, ist auch mit sicherheitswidrigen Auffälligkeiten im Straßenverkehr zu rechnen (Begründung zu Nr. 3.16 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, a.a.O., S. 85). Der Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten außerhalb und innerhalb des Straßenverkehrs ist empirisch erwiesen (vgl. VGH BW, U.v. 27.7.2016 – 10 S 77/15 – VRS 130, 256 = juris Rn. 30 m.w.N.; Wagner/ Strohbeck-Kuehner in Wagner/Müller/Koehl/Rebler, Fahreignungszweifel bei Verkehrsdelinquenz, Aggressionspotenzial und Straftaten, 2020, S. 51 ff.).

Straftaten weisen insbesondere dann auf ein hohes Aggressionspotenzial hin und stehen im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung, wenn die Tathandlungen auf einer Bereitschaft zu ausgeprägt impulsivem Verhalten beruhen und dabei Verhaltensmuster deutlich werden, die sich so negativ auf das Führen von Kraftfahrzeugen auswirken können, dass die Verkehrssicherheit gefährdet ist (VGH BW, U.v. 27.7.2016 a.a.O. Rn. 30). Allerdings kann ein hohes Aggressionspotenzial – wovon aufgrund der Tatausführung beim Kläger eher auszugehen ist – auch auf einer Neigung zu planvoller, bedenkenloser Durchsetzung eigener Anliegen ohne Rücksicht auf berechtigte Interessen anderer beruhen (vgl. Nr. 3.16 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, die nach Anlage 4a zu § 11 Abs. 5 FeV bei der Begutachtung verbindlich anzuwenden sind). In Betracht kommen insoweit typischerweise solche Straftaten, die sich durch Aggression gegen Personen oder Sachen ausdrücken, wie etwa Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung, Nötigung und Sachbeschädigung (vgl. Nr. 3.16 der Begutachtungsleitlinien; BayVGH, B.v. 17.5.2021 a.a.O. Rn. 15; B.v. 30.11.2020 – 11 CS 20.1781 – juris Rn. 16; HessVGH, B.v. 13.2.2013 – 2 B 189/13 – NJW 2013, 3192 = juris Rn. 6; NdsOVG, B.v. 2.12.2016 – 12 ME 142/16 – DAR 2017, 159 = juris Rn. 32).

Die vom Kläger begangenen Sexualstraftaten (§ 177 Abs. 1, § 179 Abs. 1 StGB a.F.) waren zum maßgeblichen Zeitpunkt der Beibringungsanordnung auch noch verwertbar und durften ihm deshalb grundsätzlich vorgehalten werden (vgl. § 51 Abs. 1 i.V.m. § 45 Abs. 1 BZRG). Die Tilgungsfrist für diese Straftaten beträgt nach § 46 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 69 Abs. 4 BZRG zwanzig Jahre, verlängert um die Dauer der Freiheitsstrafe (§ 46 Abs. 3 Satz 1 BZRG). Sie beginnt gemäß § 47 Abs. 1, § 36 Satz 1 BZRG mit dem Tag des ersten Urteils bzw. der Unterzeichnung des Strafbefehls (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 BZRG), was nach § 36 Satz 2 Nr. 1 BZRG auch bei einer Gesamtstrafenbildung gilt, und war hier (seit dem 28.1.2008) im Zeitpunkt der Gutachtensanordnung am 30. Oktober 2017 offensichtlich noch nicht abgelaufen.

Jedoch hat die Beklagte beim Erlass der Beibringungsanordnung weder im Rahmen ihrer Ermessensausübung noch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung hinreichend erwogen, dass seit der letzten Straftat (Tattag 25.5.2006) mehr als elf Jahre vergangen waren und die weiteren Taten sogar mehr als dreizehn Jahre (Tattag 2.8.2003) zurücklagen. Abzustellen ist insoweit auf die in der Beibringungsaufforderung offenzulegenden Ermessenserwägungen, die nicht durch die nachträgliche Darlegung geheilt werden können, objektiv hätten seinerzeit Umstände vorgelegen, die Anlass zu Zweifeln an der Fahreignung hätten geben können (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 21, 36 a.E.). Aus der Beibringungsaufforderung vom 30. Oktober 2017 ergibt sich insoweit zwar, dass sich die Beklagte bewusst war, pflichtgemäßes Ermessen ausüben zu müssen. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit hat sie in der Sache dazu aber im Kern nur ausgeführt, die Begutachtung sei erforderlich, weil der Gesetzgeber diese zur Risikoabschätzung vorgesehen habe. Sie sei „auch unter Berücksichtigung der bereits mehrere Jahre zurückliegenden Tatzeiten“ angemessen, weil der Kläger mit seinen Handlungen ein wiederholtes Verhaltensmuster offenbart habe und damit die Vermutung gerechtfertigt sei, dass die fehlende Akzeptanz gegenüber dem körperlichen Wohl anderer Personen sich auch zukünftig im Straßenverkehr auswirke.

Für die Frage von Eignungszweifeln und die anschließende Ermessensausübung macht es einen Unterschied, ob eine fahreignungsrelevante Zuwiderhandlung erst kurze Zeit oder aber bereits mehrere Jahre zurückliegt, selbst wenn sie nach den maßgeblichen Tilgungsvorschriften noch verwertbar ist (BVerwG, U.v. 17.11.2016 a.a.O. Rn. 36 zu im Fahreignungsregister eingetragenen Straftaten). Bei mehrere Jahre zurückliegenden Verkehrsverstößen hat die Fahrerlaubnisbehörde mit Blick auf deren Art, Zahl und Erheblichkeit insbesondere zu erwägen, ob verbleibende Eignungszweifel ohne Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens ausgeräumt werden können, z.B. durch Vorlage von Zeugnissen, Berichten eines Bewährungshelfers oder anderen geeigneten Beweismitteln. Wenn dies in Betracht kommt, wird sie dem Fahrerlaubnisbewerber oder -inhaber hierzu Gelegenheit geben müssen (BVerwG, U.v. 17.11.2016 a.a.O.). Das hat erst recht bei nicht im Fahreignungsregister eingetragenen Straftaten zu gelten, bei denen nicht schon der Gesetzgeber eine Vorentscheidung über einen bestehenden Zusammenhang zwischen Tat und Fahreignung getroffen hat. Durch einen langen Zeitablauf kann sich auch ergeben, dass ein aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen allgemein anzunehmender Zusammenhang mit der Fahreignung im konkreten Fall nicht mehr ausreicht, um eine Gefahrerforschungsmaßnahme zu rechtfertigen. Ziehen Umstände, die Zweifel an der Fahreignung begründen, keine Eintragung in das Fahreignungsregister nach sich, muss einzelfallbezogen unter Einbeziehung aller relevanten Umstände geprüft werden, ob die gegebenen Verdachtsmomente noch einen relevanten Gefahrenverdacht begründen (vgl. OVG NW, B.v. 11.4.2017 – 16 E 132/16 – juris Rn. 10 ff.; jeweils zu Fällen ohne Ermessensspielraum: BayVGH, B.v. 6.5.2008 – 11 CS 08.551 – juris Rn. 41 f.; OVG NW, B.v. 12.9.2009 – 16 E 1439/08 – juris Rn. 11 f.). Die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens ist nur gerechtfertigt, wenn dies zur Abwehr einer bei realistischer Einschätzung tatsächlich bestehenden Gefahr notwendig ist, d.h. wenn eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Betroffene ein entsprechendes Verhalten im Straßenverkehr zeigt (so zum Drogenkonsum: BVerwG, U.v. 9.6.2005 – 3 C 25.04 – NJW 2005, 3081 = juris Rn. 22).

Im Falle des Klägers lässt sich der Beibringungsaufforderung nicht hinreichend entnehmen, weshalb sich ein mehr als zehn Jahre zurückliegendes Verhalten bei völligem Fehlen von aggressiven Handlungen im Straßenverkehr künftig im Straßenverkehr auswirken soll. Sein strafrechtlich geahndetes Verhalten hätte Ende Oktober 2017 im Hinblick auf die wegen der befürchteten Wiederholungsgefahr (vgl. BT-Drs. 13/9062, S. 7) besonders langen Tilgungsfristen im Bundeszentralregister ggf. noch Anlass geboten, seine besondere Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 FeV zu überprüfen. Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass vom Kläger, der durchgehend im Besitz einer Fahrerlaubnis war, wegen seiner Vorstrafe trotz des Zeitablaufs zukünftig noch eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer zu erwarten ist, sind jedoch nicht dargelegt und auch nicht erkennbar.

Hinzukommt, dass die Beibringungsaufforderung auch auf eine am 2. März 2010 begangene sexuelle Nötigung abstellt, für die sich kein Anhalt in den Akten findet. Auch wenn eine Tat vom 2. März 2010 nicht in der Sachverhaltsdarstellung des angefochtenen Entziehungsbescheids beschrieben wird, lässt sich nicht sicher feststellen, ob es sich insoweit um ein Schreibversehen handelt oder ob dahinter die Annahme des Sachbearbeiters stand, das dem Kläger vorzuwerfende Verhalten habe sich zuletzt nochmals im Frühjahr 2010 manifestiert. Letzterenfalls ist nicht auszuschließen, dass dies die Ausübung des Ermessens maßgeblich zum Nachteil des Klägers beeinflusst hat.

Es kann dahinstehen, ob die Beklagte bei ordnungsgemäßer Ermessensausübung und Darlegung ihrer Erwägungen vom Kläger die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens hätte verlangen können. Allein ihr in der mündlichen Verhandlung geäußerter Einwand, eine Fahreignungsbehörde habe keine eigenen psychologischen Kenntnisse oder Erkenntnismöglichkeiten, um eine Rückfallgefahr zu beurteilen und Eignungszweifel auszuräumen, kann jedenfalls die gebotene Darlegung der Notwendigkeit weiterer Aufklärungsmaßnahmen trotz des langen Zeitablaufs seit der letzten Tat nicht ersetzen.

Die Verpflichtung der Beklagten zur Tragung der Verfahrenskosten für beide Rechtszüge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.

Beschluss:

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 10.000,- EUR festgesetzt.

Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.

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