Skip to content
Menü

Bußgeldverfahren Geschwindigkeitsüberschreitung – verweigerte Akteneinsicht

LG Hagen – Az.: 46 Qs 56/20 – Beschluss vom 05.03.2021

Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers vom xx.xx.xxxx wird der Beschluss des Amtsgerichts M1 vom xx.xx.xxxx (Az. 86 OWi 39/20 [b]) aufgehoben und der N1, Fachdienst Verkehrsordnungswidrigkeiten, angewiesen, dem Verteidiger des Beschwerdeführers die Rohmessdaten der dem Beschwerdeführer am xx.xx.xxxx um x:xx Uhr in T1 vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit (Aktenzeichen des N1: mkh (89210199287-12) auf einen Datenträger zu kopieren und an den Verteidiger zu übersenden. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers tragen der Beschwerdeführer und die Landeskasse je zur Hälfte, wobei die Beschwerdegebühr um die Hälfte ermäßigt wird.

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer beantragte mit Schreiben vom xx.xx.xxxx gegenüber dem N1 die Vorlage der Bußgeldakte an das Amtsgericht, damit dieses über einen unter dem xx.xx.xxxx gestellten Antrag gemäß § 62 OWiG auf Zurverfügungstellung von Rohmessdaten entscheiden kann, nachdem die Verwaltungsbehörde die Übersendung der digitalen Messdatei / Messreihe im gerätespezifischen Format nebst Auslesesoftware nicht vorgenommen hatte.

Am xx.xx.xxxx verwarf das Amtsgericht M1 den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung. Hinsichtlich der Einzelheiten der Begründung der den Antrag ablehnende Entscheidung wird auf den zu den Akten gelangten Beschluss vom xx.xx.xxxx, Bl. 2 – 4 d.A., verwiesen.

Gegen diesen Beschluss legte der Beschwerdeführer am xx.xx.xxxx Beschwerde ein. Er trägt vor, dass die Beschwerde insbesondere zulässig sei und § 305 StPO der Statthaftigkeit der Beschwerde nicht entgegenstehe.

Auch in der Sache habe die Beschwerde Erfolg, da ein Recht des Beschwerdeführers auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen digitalen Falldateien inklusive der Rohmessdaten der gesamten Messreihe vom Tattag bestehe. Der dahingehende Anspruch folge aus dem Gebot des fairen Verfahrens, welches sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten lasse und auch in der EMRK verankert sei. Selbst wenn sich die begehrten Daten nicht bei den Gerichtsakten befinden würden, stünde dem Beschwerdeführer aus den vorgenannten Grundsätzen das Recht zu, Einsicht in sämtliche existenten, zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen zu nehmen, selbst wenn diese sich lediglich im Machtbereich der Verwaltungsbehörde befinden würden. Dieses Recht bestehe gerade in Fällen, in denen es um eine Geschwindigkeitsmessung nach einem standardisierten Messverfahren gehe, denn in diesen Fällen bestehe lediglich die Möglichkeit, die Richtigkeit der Messung anzugreifen, sofern konkrete Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der Messung durch den Beschwerdeführer aufgezeigt würden. Ein entsprechender Vortrag sei aber nur möglich, sofern dem Beschwerdeführer die entsprechenden Daten zur Verfügung gestellt würden, so dass diese – gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen – geprüft werden könnten. Unerheblich sei, ob bereits konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen worden, da ohne dezidierte Kenntnis der begehrten Unterlagen nicht verlässlich geprüft werden könne, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen. Es müsse daher seitens des Beschwerdeführers auch nicht vorgetragen werden, welche Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung sich bei der Einsichtnahme der Messdaten ergeben könnten und welche Schlüsse hieraus zu ziehen wären.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Beschwerdebegründung wird auf die Ausführungen aus dem Schriftsatz des Verteidigers des Beschwerdeführers vom xx.xx.xxxx, Bl. 8-12 d.A., verwiesen.

Das Amtsgericht hat die Beschwerde sowie die Akten des Antrags auf gerichtliche Entscheidung unter dem xx.xx.xxxx über die Staatsanwaltschaft I1 an die Beschwerdekammer des Landgerichts weitergeleitet, wo sie aufgrund eines justizinternen Versehens erst am xx.xx.xxxx eingingen. Die Kammer hat Anfang xxxx die Bußgeldakte mit dem darin enthaltenen Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei dem Amtsgericht M1 angefordert, wobei der Aktenaufforderung erst Anfang März xxxx seitens des Amtsgerichts entsprochen wurde.

II.

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts M1 vom xx.xx.xxxx ist gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit §§ 304 Abs. 1 trotz der in § 305 Satz 1 StPO aufgeführten Regelung ausnahmsweise zulässig und aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

1.

Soweit die Kammer bislang die Auffassung vertreten hat, dass die gegen eine ablehnende Entscheidung auf Übermittlung von sogenannten Rohmessdaten eingelegte Beschwerde aufgrund der Regelung des § 305 Satz 1 StPO unzulässig sei, folgt die Kammer dieser Einschätzung nunmehr nicht mehr. Die Kammer erachtet im vorliegenden Einzelfall die Beschwerde als zulässig, weil ein ungeschriebener Rückausnahmefall des § 305 StPO vorliegt. Dem Beschwerdeführer war insbesondere eine Verweisung auf einen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als § 80 OWiG nicht zuzumuten.

Grundsätzlich hat der Beschwerdeführer zwar ein anhängiges Bußgeldverfahren zu durchlaufen und im Falle einer Verurteilung den hierfür vorgesehenen fachgerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. Insbesondere genügen sowohl finanzielle als auch aufgrund der zeitlichen Verzögerung resultierende Nachteile durch eine etwaige Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens nicht, das (erstmalige) Durchlaufen des fachgerichtlichen Verfahrens vor dem Amtsgericht abzuwarten (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 09.08.2007 – 2 BvR 1277/07, Rn. 6, juris).

Allerdings kommt eine isolierte Anfechtung einer Zwischenentscheidung hier deshalb in Betracht, weil ihm die Verweisung auf eine Anfechtung der Endentscheidung im fachgerichtlichen Verfahren nicht zuzumuten ist. Denn aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2020 (Az. 2 BvR 1616/18) steht dem Beschwerdeführer in gewissen Grenzen aus dem „fair-trial-Grundsatz“ sowie dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) ein Recht zu, Unterlagen und Daten, die zum Zwecke der Ermittlungen entstanden sind, aber nicht Aktenbestandteil geworden sind, zu erlangen (wird unten ausgeführt). Dadurch, dass die Kammer – ebenso wie die Verwaltungsbehörde und alle sonstigen staatlichen Institutionen – an Recht und Gesetz gebunden ist, könnte durch eine Versagung des Rechtsschutzes im hiesigen Beschwerdeverfahren dem Beschwerdeführer (möglicherweise) das Recht entzogen werden, bereits im erstinstanzlichen fachgerichtlichen Verfahren jedenfalls die von ihm beanspruchten Rohmessdaten des in Rede stehenden Ordnungswidrigkeitenverfahrens zu erlangen und diese zur Verteidigung einzusetzen. Dass ein Anspruch auf die im Tenor genannten Daten nunmehr besteht, ist bereits durch die dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts folgenden Entscheidungen der Fachgerichte zu entnehmen (vgl. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 04.01.2021 – 202 ObOWi 1532/20, juris), so dass die Kammer als Ausfluss effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) die Zulässigkeit der Beschwerde annimmt. Zwar wird die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes von den Prozessordnungen gesichert, die ihrerseits Vorkehrungen treffen, damit der Rechtsschutzsuchende die von ihm behaupteten Rechte tatsächlich durchsetzen kann, so dass die Beschwerde an sich gemäß § 305 Satz 1 StPO unstatthaft wäre. Indes muss gleichfalls berücksichtigt werden, dass das Rechtsmittelgericht ein grundsätzlich statthaftes Rechtsmittel (§ 304 StPO), nicht ineffektiv machen darf. Wenngleich § 305 StPO daher eine gesetzliche Rückausnahme zu § 304 StPO begründet, ist anerkannt, dass über diese gesetzliche Rückausnahme gleichfalls auch ungeschriebene Rückausnahmen erfasst werden (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 24.08.2017 – 2 BvR 77/16, Rn. 33, juris). Eine solche Konstellation einer ungeschriebenen Rückausnahme ist im vorliegenden Einzelfall gegeben, da der Beschwerdeführer – wie bereits ausgeführt – unter Umständen auf einen nicht zumutbaren Rechtsweg verwiesen wird, obgleich durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dem Beschwerdeführer jedenfalls ein Anspruch auf die im Tenor genannten Rohmessdaten zusteht.

2.

Die Beschwerde hat in der Sache hingegen nur aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Dem Beschwerdeführer steht ein Anspruch auf Übermittlung der Rohmessdaten, bezüglich des ihm zur Last gelegten Geschwindigkeitsverstoß in T1 zu. Er hat indes keinen Anspruch auf Übersendung der vollständigen Messreihe.

Der Anspruch resultiert – wie bereits ausgeführt – aus dem Recht auf ein faires Verfahren sowie der prozessualen Waffengleichheit. Dem Beschwerdeführer steht das Recht zu, durch die Möglichkeit der Einsicht und Prüfung der bei dem Messvorgang entstandenen Daten seine Verteidigungsmöglichkeiten umfassend wahrzunehmen, da er durch die Daten nach entlastenden Umständen suchen kann, um diese zum Gegenstand der erstinstanzlichen Hauptverhandlung zu machen, wenngleich die Entlastungsmomente im Kontext von standardisierten Messverfahren gleichwohl eher fernliegen mögen. Dabei ist der Zugang zu den gewünschten Informationen aber an Voraussetzungen geknüpft, da andernfalls im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblichen Verfahrensverzögerung und des Rechtsmissbrauchs besteht. Dem Beschwerdeführer steht daher nicht das Recht zu, sämtliche Daten einzusehen. Vielmehr müssen die begehren Informationen in einem zeitlichen sowie sachlichen Zusammenhang mit dem konkreten Ordnungswidrigkeitenverfahren stehen und erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, Rn. 50 ff., beck-online). Diese Voraussetzungen werden durch den Beschwerdeführer vorliegend erfüllt.

Wenngleich der Beschwerdeführer allgemein die Übersendung der Rohmessdaten begehrt hat und seinen Antrag gegenüber der Bußgeldstelle nicht näher begründet hat, so ist gleichwohl konkludent die Herausgabe der Daten des dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Geschwindigkeitsverstoßes beantragt worden. Der Beschwerdeführer hat damit jedenfalls zum Ausdruck gebracht, dass er für die Überprüfung des dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Verhaltens die Rohmessdaten benötigt, was er darüber hinaus in der Beschwerdebegründung vom xx.xx.xxxx ausdrücklich ausgeführt hat. Denn in der Beschwerdebegründung hat er konkret ausgeführt, dass ihm ein Angriff auf die Richtigkeit der Messung nur möglich sei, sofern er konkrete Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der Messung aufzeigen könne, so dass er aus diesem Grunde die beantragten Messunterlagen benötige.

3.

Demgegenüber steht dem Beschwerdeführer nicht das Recht zu, sämtliche Rohmessdaten der Messreihe einzusehen bzw. zur Verfügung gestellt zu bekommen. Denn ein derartiger Anspruch steht dem Beschwerdeführer auch nach dem fair-trial-Grundsatz sowie dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit nicht zu, da hierdurch einerseits die Gefahr einer uferlosen Ausforschung, einer erheblichen Verfahrensverzögerung sowie eines Rechtsmissbrauchs entsteht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, Rn. 56, beck-online). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass aus der Betrachtung der gesamten Messreihe ohnehin keine für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Beschwerdeführer betreffenden Messung relevanten Erkenntnisse gezogen werden können (vgl. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 04.01.2021 – 202 ObOWi 1532/20, Rn. 11 m.w.N., juris).

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 OWiG, 473 Abs. 1, Abs. 4 StPO.

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Haben Sie einen Bußgeldbescheid erhalten?

Mit unserer Hilfe teure Bußgelder und Fahrverbote vermeiden!

Wir überprüfen Ihren Bußgeldbescheid kostenlos und unverbindlich auf Fehler und die Möglichkeit eines Einspruchs.
Blitzer Bußgeld prüfen

Rechtstipps aus dem Verkehrsrecht

Urteile über Bußgeld und Ordnungswidrigkeiten

Unsere Kontaktinformationen

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!