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Anordnung medizinisch-psychologisches Gutachten – gelegentlicher Cannabiskonsument

MPU für Cannabiskonsum: Abstinenznachweis nicht erforderlich

In der heutigen Rechtslandschaft stellt sich häufig die Frage nach der Vereinbarkeit individueller Freiheiten mit gesetzlichen Anforderungen, insbesondere im Bereich des Verkehrsrechts. Ein zentrales Thema, das regelmäßig aufkommt, ist die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (MPU) bei Verkehrsverstößen oder Auffälligkeiten im Straßenverkehr. Besonders im Fokus stehen dabei Fälle, in denen Verkehrsteilnehmer gelegentlich Cannabis konsumieren. Die zentrale Rechtsfrage, die sich hierbei stellt, ist, unter welchen Umständen die Fahrerlaubnisbehörde die Vorlage eines solchen Gutachtens verlangen kann und welche Rolle ein Abstinenznachweis dabei spielt.

Dies berührt nicht nur die Frage der Fahrerlaubnis, sondern auch grundlegende rechtliche Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit und die Berücksichtigung individueller Umstände. Die aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere die Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) und die Rechtsprechung, bieten hierfür Orientierung, stellen jedoch auch hohe Anforderungen an die Verfahrensbeteiligten, um eine gerechte Entscheidungsfindung zu gewährleisten.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 13 S 366/23  >>>

Das Wichtigste in Kürze


Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg stellt klar, dass die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (MPU) durch die Fahrerlaubnisbehörde bei gelegentlichem Cannabiskonsum nicht generell und ohne sachlichen Grund von einem Abstinenznachweis abhängig gemacht werden darf.

Zentrale Punkte aus dem Urteil:

  1. Keine generelle Abhängigkeit des positiven MPU-Ergebnisses von einem Abstinenznachweis bei gelegentlichem Cannabiskonsum.
  2. Die Fahrerlaubnisbehörde muss auf eine rechtskonforme Begutachtung hinwirken, insbesondere im Einklang mit der Nummer 9.2.2 der Anlage 4 der FeV.
  3. Die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Aufforderung zur Ablieferung des Führerscheins wurden als rechtswidrig beurteilt.
  4. Ein MPU-Gutachten darf nur verlangt werden, wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig ist.
  5. Die persönlichen Umstände des Betroffenen müssen bei der Anordnung eines Gutachtens berücksichtigt werden.
  6. Eine Fehleinschätzung der Begutachtungsstelle darf nicht zu Lasten des Betroffenen gehen.
  7. Die Entscheidung hebt die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hervor.
  8. Die Antragsgegnerin hat es versäumt, auf die korrekte Durchführung der Begutachtung hinzuwirken und trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

MPU bei gelegentlichem Cannabiskonsum: Eine rechtliche Herausforderung

Der vorliegende Fall dreht sich um die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (MPU) durch die Fahrerlaubnisbehörde gegenüber einem gelegentlichen Cannabiskonsumenten. Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg hatte hierbei zu entscheiden, ob die Fahrerlaubnisbehörde zu Recht die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gefordert hat und ob die Nichtvorlage des Gutachtens zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen darf.

Die rechtliche Auseinandersetzung entstand, nachdem der Betroffene, ein gelegentlicher Cannabiskonsument, der gegen das sogenannte Trennungsgebot – die Trennung des Konsums von Cannabis von der Teilnahme am Straßenverkehr – verstoßen hatte, von der Fahrerlaubnisbehörde aufgefordert wurde, ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorzulegen. Die Begutachtungsstelle hatte darauf hingewiesen, dass ohne einen Abstinenznachweis kein positives Gutachten erstellt werden könne. Der Antragsteller legte das geforderte Gutachten jedoch nicht vor, woraufhin ihm die Fahrerlaubnis entzogen wurde.

MPU-Anforderungen und Abstinenznachweis: Die Rechtsgrundlage

Die rechtliche Herausforderung in diesem Fall lag darin, zu klären, ob die Anforderung eines Abstinenznachweises für die Erstellung eines positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens bei gelegentlichem Cannabiskonsum gerechtfertigt ist. Es galt zu beurteilen, ob die Fahrerlaubnisbehörde von dem Betroffenen zu Recht die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens verlangen durfte, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Betroffene das Trennungsgebot missachtet hatte.

Das Gericht stellte fest, dass die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens in diesem Fall rechtswidrig war. Es begründete seine Entscheidung damit, dass die Begutachtungsstelle die Erstellung eines positiven Gutachtens nicht generell und ohne sachlichen Grund von einem Abstinenznachweis abhängig machen dürfe. Dies steht im Einklang mit der Nummer 9.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV), nach der für die Fahreignung von Personen, die gelegentlich Cannabis konsumieren, kein genereller Konsumverzicht, sondern lediglich das Trennen der Cannabiseinnahme vom Führen eines Kraftfahrzeugs verlangt wird.

Persönlichkeitsrechte und Begutachtungspraxis: Die Gerichtsentscheidung

Das Gericht betonte weiterhin, dass das Verhalten der Begutachtungsstelle einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen darstellte. Es wurde hervorgehoben, dass der Betroffene nicht darauf verwiesen werden kann, trotz des fehlerhaften Verlangens eines Abstinenznachweises das Gutachten erstellen zu lassen und dann gegebenenfalls gerichtlich dagegen vorzugehen. Vielmehr sei es Aufgabe der Fahrerlaubnisbehörde, auf eine der Rechtslage entsprechende Begutachtung hinzuwirken.

Die Antragsgegnerin – in diesem Fall die Fahrerlaubnisbehörde – hatte gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart Beschwerde eingelegt, jedoch ohne Erfolg. Das VGH Baden-Württemberg bestätigte die Entscheidung des Verwaltungsgerichts und wies die Beschwerde zurück. Die Antragsgegnerin wurde auch zur Tragung der Kosten des Beschwerdeverfahrens verpflichtet.

Auswirkungen des Urteils auf die Praxis der MPU-Anordnung

Dieses Urteil hat weitreichende Auswirkungen auf die Praxis der Fahrerlaubnisbehörden und Begutachtungsstellen. Es betont die Notwendigkeit einer individuellen Beurteilung in jedem Einzelfall und schränkt die Möglichkeit einer generellen Forderung nach Abstinenznachweisen bei der Erstellung medizinisch-psychologischer Gutachten ein. Dies ist besonders relevant für Fälle, in denen der Betroffene gelegentlich Cannabis konsumiert, aber nicht notwendigerweise eine ständige Ungeeignetheit zum Führen eines Kraftfahrzeugs aufweist.

Das Fazit des Urteils unterstreicht die Wichtigkeit einer fallbezogenen und verhältnismäßigen Beurteilung bei der Anordnung medizinisch-psychologischer Gutachten. Es stellt klar, dass die Fahrerlaubnisbehörden und Begutachtungsstellen in ihrer Entscheidungsfindung die konkreten Umstände des Einzelfalls sowie die aktuellen rechtlichen Bestimmungen sorgfältig berücksichtigen müssen.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


In welchen Fällen ist die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (MPU) durch die Fahrerlaubnisbehörde gerechtfertigt?

Die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (MPU) durch die Fahrerlaubnisbehörde ist in verschiedenen Fällen gerechtfertigt. Gründe für die Anordnung einer MPU können unter anderem sein:

1. Körperliche und seelische Erkrankungen, die die Fahreignung beeinträchtigen könnten.
2. Wiederholte gravierende Verkehrsverstöße, die erhebliche Zweifel an der Fahreignung aufkommen lassen.
3. Aggressives Verhalten im Straßenverkehr, das auf eine mangelnde charakterliche Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen hindeutet.
4. Alkohol am Steuer: Eine MPU wird immer verlangt, wenn die Fahrerlaubnis wegen einer Trunkenheitsfahrt mit mindestens 1,6 Promille entzogen wurde. Ab 1,1 Promille Alkohol im Blut und ohne Ausfallerscheinungen bei der Kontrolle muss ebenfalls eine MPU absolviert werden.
5. Drogen am Steuer: Bei Fahrten unter dem Einfluss von illegalen Drogen oder bei wiederholtem Drogenkonsum kann die Fahrerlaubnisbehörde ebenfalls eine MPU anordnen.

In Bezug auf Drogen am Steuer ist zu beachten, dass die Fahrerlaubnisbehörde bei Anhaltspunkten für den Konsum harter Drogen (z.B. Kokain, Heroin) in der Regel den Führerschein entzieht und eine MPU verlangt. Bei Cannabis-Konsum kann die Anordnung einer MPU von den individuellen Umständen abhängen, wie beispielsweise der Häufigkeit des Konsums oder der Beeinträchtigung der Fahreignung.


Das vorliegende Urteil

VGH Baden-Württemberg – Az.: 13 S 366/23 – Beschluß vom 14.06.2023

Leitsätze

1. Ordnet die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gegenüber einer Person an, die gelegentlich Cannabis konsumiert und gegen das Trennungsgebot verstoßen hat, darf die Begutachtungsstelle die Erstellung eines positiven Gutachtens nicht generell und ohne sachlichen, sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalls ergebenden Grund von einem Abstinenznachweis abhängig machen.

2. Weist der Betroffene in einem solchen Fall auf ein derartiges Verhalten der Begutachtungsstelle substantiiert hin, ist die Fahrerlaubnisbehörde regelmäßig gehalten, bei der Begutachtungsstelle auf eine der geltenden Rechtslage, insbesondere der Nummer 9.2.2 der Anlage 4 der FeV entsprechende Begutachtung und Beantwortung der von ihr gestellten Fragen hinzuwirken (wie OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.03.2021 – 16 B 22/21 -).


Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 5. Januar 2023 – 10 K 5272/22 – wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500,– EUR festgesetzt.

Gründe

Die fristgerecht eingelegte Beschwerde hat keinen Erfolg.

Auf der Grundlage der Gründe, die in der innerhalb der Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO eingegangenen Begründung angeführt sind und auf deren Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, kommt eine Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses vom 05.01.2023 nicht in Betracht.

Nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO muss die Beschwerdebegründung die Gründe darlegen, aus denen die erstinstanzliche Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen (zu diesem Darlegungserfordernis vgl. Beschluss des Senats vom 13.03.2023 – 13 S 2370/22 – juris Rn. 3; VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 10.05.2023 – 12 S 1671/20 – juris Rn. 5 und vom 07.03.2017 – 10 S 328/17 – juris Rn. 2; Guckelberger in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 146 Rn. 73 ff.).

Hiervon ausgehend ist die Beschwerdebegründung nicht geeignet, die Richtigkeit der Ausführungen in dem angegriffenen Beschluss in Frage zu stellen. Damit besteht kein Anlass, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangene verwaltungsgerichtliche Entscheidung zu ändern.

Wie das Verwaltungsgericht ist auch der Senat nach derzeitigem Erkenntnisstand der Ansicht, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis in Ziffer 1 und die Anordnung zur Ablieferung des Führerscheins in Ziffer 3 des Bescheids vom 25.08.2022 aller Voraussicht nach rechtswidrig sind, weil die Antragsgegnerin nicht infolge der Nichtvorlage des geforderten medizinisch-psychologischen Gutachtens nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die fehlende Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen durfte. Ein solcher Schluss ist nur zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist und für die Nichtbeibringung kein ausreichender, von dem Betroffenen nicht zu vertretender Grund besteht (BVerwG, Urteil vom 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 19; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.01.2018 – 10 S 2000/17 – juris Rn. 3 ff.; Urteil vom 27.07.2016 – 10 S 77/15 – juris Rn. 41 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.03.2021 – 16 B 22/21 – juris Rn. 5; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., § 11 FeV Rn. 51). Dann ist nämlich die Annahme gerechtfertigt, dass der Betroffene durch die Unterlassung der Beibringung des Gutachtens einen Eignungsmangel verbergen will (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.01.2013 – 10 S 2246/12 – juris Rn. 5; BayVGH, Beschluss vom 30.11.2022 – 11 CS 22.2195 – juris Rn. 23; Dauer a. a. O.).

Von einem solchen Fall ist hier aller Voraussicht nach nicht auszugehen. Der Antragsteller hat das wegen des (einmaligen) fehlenden Trennens der gelegentlichen Einnahme von Cannabis von dem Führen eines Kraftfahrzeugs (vgl. Nummer 9.2.2 der Anlage 4 der FeV) von der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 28.01.2022 angeordnete medizinisch-psychologische Gutachten nicht aus von ihm zu vertretenen Gründen nicht beigebracht. Vielmehr hat die Nichtvorlage des Gutachtens nach den – von der Antragsgegnerin auch im Beschwerdeverfahren nicht in Abrede gestellten – Angaben des Antragstellers (vgl. das Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 24.03.2022 an die Antragsgegnerin) seinen Grund darin, dass er bei einem Informationsabend des TÜV Süd bezüglich seiner anstehenden Begutachtung bei der TÜV Süd Life Service GmbH darauf hingewiesen worden sei, dass eine medizinisch-psychologische Untersuchung bei gelegentlichem Konsum von Cannabis in keinem Fall ohne Abstinenznachweise zu einem positiven Ergebnis führen könne. Es würden die entsprechenden Richtlinien der Bundesanstalt für Straßenwesen gelten, auf die er auch bei einer weiteren Nachfrage bei der TÜV Süd Life Service GmbH hingewiesen worden sei.

Vor diesem Hintergrund ist das Verwaltungsgericht zutreffend und im Ansatz vom Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin unbeanstandet davon ausgegangen, dass in den Fällen, in denen die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gegenüber einer Person anordnet, die gelegentlich Cannabis konsumiert und gegen das Trennungsgebot verstoßen hat, die Begutachtungsstelle die Erstellung eines positiven Gutachtens nicht generell und ohne sachlichen, sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalls ergebenden Grund von einem Abstinenznachweis abhängig machen darf (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 17.03.2021 a. a. O. Rn. 11 ff. und vom 09.11.2020 – 16 B 1697/19 – juris Rn. 11 ff.; Balke/Frese/Koehl, NJ 2022, 241, 242; Koehl, NZV 2022, 449, 450); nur in bestimmten, von der Ausgestaltung des Einzelfalls abhängigen Fallgestaltungen kann es bei gelegentlichem Cannabiskonsum sachgerecht sein, einen solchen Abstinenznachweis zu fordern (vgl. Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Kommentar, 3. Aufl., S. 438). Denn Nummer 9.2.2 der Anlage 4 der FeV verlangt für die Fahreignung von Personen, die gelegentlich Cannabis konsumieren, keinen Konsumverzicht, sondern im Wesentlichen das Trennen der Cannabiseinnahme von dem Führen eines Kraftfahrzeugs. Wird gleichwohl für die Erstellung eines positiven Gutachtens einzelfallunabhängig ein Abstinenznachweis gefordert, kann dies nicht zu Lasten des Betroffenen gehen, da eine solche Fehleinschätzung weder auf von dem Betroffenen zu vertretenen Umständen beruht noch in dessen Risikosphäre fällt (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.03.2021 a. a. O. Rn. 10; Dronkovic, DAR 2021, 410, 411).

Angesichts der besonderen Grundrechtsrelevanz der Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, die in das durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art.1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht eingreift, indem sich der Betroffene einer körperlichen Untersuchung und psychologischen Exploration auszusetzen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.06.1993 – 1 BvR 689/92 – juris Rn. 50 ff.; BVerwG, Urteil vom 26.04.2012 – 2 C 17.10 – juris Rn. 15; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.10.2017 – 10 S 746/17 – juris Rn. 22), und der mit einer Gutachtenerstellung bzw. mit einer – bei Nichtvorlage des Gutachtens – regelmäßig erfolgenden Entziehung der Fahrerlaubnis verbundenen Folgen für die allgemeine Handlungsfreiheit und gegebenenfalls Berufsfreiheit des Betroffenen kann der Antragsteller nicht darauf verwiesen werden, trotz des fehlerhaften Verlangens eines Abstinenznachweises das Gutachten gleichwohl erstellen und es bei einem negativen Ergebnis gerichtlich – im Wege von Rechtsbehelfen gegen die (für sofort vollziehbare erklärte) Entziehung der Fahrerlaubnis – überprüfen zu lassen. Vielmehr entspricht es in diesen Fällen regelmäßig dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die die Erbringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anordnende Behörde nach einem entsprechenden substantiierten Hinweis des Betroffenen darauf, dass die Begutachtungsstelle bei einem gelegentlichen Cannabiskonsum die Erstellung eines (positiven) medizinisch-psychologischen Gutachtens generell und ohne sachlichen, sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalls ergebenden Grund von einem Abstinenznachweis abhängig macht, bei der Begutachtungsstelle entsprechend nachfragt und bei dieser auf eine der geltenden Rechtslage, insbesondere der Nummer 9.2.2 der Anlage 4 der FeV entsprechende Begutachtung und Beantwortung der von ihr gestellten Fragen hinwirkt (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.03.2021 a. a. O. Rn. 23; Koehl, NZV 2021, 495, 496 f.).

Dem ist die Antragsgegnerin hier nicht nachgekommen. Auf den Hinweis der Bevollmächtigten des Antragstellers mit Schreiben vom 24.03.2022, dass bei einem Informationsabend des TÜV SÜD, an dem der Antragsteller teilgenommen habe, darauf aufmerksam gemacht worden sei, dass eine medizinisch-psychologische Untersuchung bei gelegentlichem Konsum von Cannabis in keinem Fall ohne Abstinenznachweise zu einem positiven Ergebnis führen könne, hat die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 30.03.2022 lediglich ausgeführt, dass die von ihr gesetzte Frist von drei Monaten zur Beibringung des Gutachtens nicht unverhältnismäßig sei; sollte eine Abstinenzpflicht von mindestens sechs Monaten bestehen, sei dies allein dem Konsumverhalten zuzuordnen und könne keinen Anspruch auf eine Fristverlängerung begründen. Die Antragsgegnerin hat dabei – wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt – gänzlich außer Betracht gelassen, dass nach dem Vorbringen des Antragstellers bei dem Informationsabend des TÜV SÜD generell und ohne einzelfallbezogenes Eingehen auf dessen Situation bei gelegentlichem Cannabiskonsum ein Abstinenznachweis für eine erfolgreiche medizinisch-psychologische Untersuchung gefordert wurde. Auch nach den nochmaligen Hinweisen in den Schreiben der Bevollmächtigten des Antragstellers vom 05.04.2022 und vom 22.07.2022 hat die Antragsgegnerin keinen Anlass gesehen, die Begutachtungsstelle zu kontaktieren, um diese zu der geforderten generellen Nachweispflicht zu befragen, und gegebenenfalls auf eine der Nummer 9.2.2 der Anlage 4 der FeV entsprechende Begutachtung und Beantwortung der von ihr gestellten Fragen hinzuwirken.

Dem Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin, ausweislich des Schreibens der Bevollmächtigten des Antragstellers vom 24.03.2022 habe nicht die Begutachtungsstelle selbst (TÜV SÜD Life Service GmbH), sondern eine Beratungsstelle der TÜV SÜD Pluspunkt GmbH (Service-Center Esslingen) für eine erfolgreiche medizinisch-psychologische Untersuchung einen Abstinenznachweis gefordert, vermag der Senat nicht zu folgen.

Bei der TÜV SÜD Life Service GmbH und der TÜV SÜD Pluspunkt GmbH handelt es sich jeweils um Tochtergesellschaften der TÜV SÜD Gruppe (https://www.tuvsud.com/de-de/ueber-uns/unsere-gesellschaften/geschaeftsbereich-mobilitaet/informationen-zur-tuev-sued-life-service-gmbh, https://www.tuvsud.com/de-de/ueber-uns/unsere-gesellschaften/geschaeftsbereich-mobilitaet/informationen-zur-tuev-sued-pluspunkt-gmbh, jeweils abgerufen am 14.06.2023), an denen die Konzernleitung (TÜV SÜD AG) als Management-Holding und Muttergesellschaft jeweils einen Kapitalanteil von 100 Prozent trägt (vgl. Geschäftsbericht der TÜV SÜD AG 2022, S. 20, 152, aufgerufen am 14.06.2023 unter https://geschaeftsbericht.tuvsud.com/ 2022/assets/pdf/de/TUV_SUED_GB22_DE.pdf). Beide Tochtergesellschaften sind im Internet auf der Homepage der TÜV SÜD AG erreichbar. Offenbleiben kann, ob sich unter den hier gegebenen Umständen – auch angesichts der gemeinsamen Internetpräsenz – die eine Schwestergesellschaft das Handeln der jeweils anderen Schwestergesellschaft zurechnen lassen muss (vgl. dazu etwa OLG Frankfurt, Urteil vom 04.04.2017 – 11 W 41/16 – juris Rn. 38) und ob wegen der für einen Betroffenen auf Grund des Internetauftritts nicht immer sofort und eindeutig erkennbaren Zuordnung von Informationen und Informationsveranstaltungen zu den beiden Gesellschaften und der möglichen Verschränkungen zwischen den Aufgaben der TÜV SÜD Pluspunkt GmbH als der Gesellschaft, die eine Vorbereitung auf eine medizinisch-psychologische Untersuchung anbietet, und der SÜD TÜV Life Service GmbH, die eine solche Untersuchung durchführt, für die Antragsgegnerin Anlass zu einer entsprechenden Kontaktaufnahme bei der Begutachtungsstelle bestand, nachdem der Antragsteller in der Sache vorgetragen hat, auch bei einer weiteren Nachfrage bei der SÜD TÜV Life GmbH keine weiterführenden Informationen erhalten zu haben.

Denn die Antragsgegnerin hat nicht hinreichend dargelegt, dass die Informationsveranstaltung, auf der der Antragsteller nach dessen eigenen, von ihr nicht in Frage gestellten Angaben auf den erforderlichen Abstinenznachweis für eine erfolgreiche medizinisch-psychologische Untersuchung hingewiesen worden ist, nicht von der TÜV SÜD Life Service GmbH als Trägerin der Begutachtungsstelle, sondern von der TÜV SÜD Pluspunkt GmbH durchgeführt wurde. Dies folgt nicht aus den von der Antragsgegnerin hierzu vorgenommenen Internetrecherchen.

Soweit die Antragsgegnerin diesbezüglich auf die Definition der verkehrspsychologischen MPU-Vorbereitung auf der Internetseite der Bundesanstalt für Straßenbau (https://www.bast.de/DE/Verkehrssicherheit/Fachthemen/U1-MPU/mpu-verkehrspychologie/verkehrspychologie_node.html, abgerufen am 14.06.2023) verweist, dürfte der Informationsabend, an dem der Antragsteller teilgenommen hat, bereits nicht zu dem dort genannten verkehrspsychologischen Programm zur Vorbereitung auf die medizinisch-psychologische Untersuchung zählen.

Darüber hinaus ergibt sich aus dem von der Antragsgegnerin weiter herangezogenen Link (https://www.tuvsud.com/de-de/branchen/mobilitaet-und-automotive/fuehrerschein-und-pruefung/mpu-vorbereitung-pluspunkt/vorbereitung-auf-die-mpu/europe/germany/esslingen/wagnerstrasse-10, abgerufen am 14.06.2023) nicht, dass der Informationsabend, den der Antragsteller nach den Angaben im Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 24.03.2022 besucht hat, von der TÜV SÜD Pluspunkt GmbH durchgeführt wurde. Denn bei den dort genannten Informationsabenden handelt es sich um solche, die über die „optimale Vorbereitung zur MPU“ und damit über entsprechende Vorbereitungsmaßnahmen und -kurse informieren, die von der TÜV SÜD Pluspunkte GmbH veranstaltet werden. Zu den Informationsabenden über die eigentliche Begutachtung durch die TÜV SÜD Life Service GmbH („Infoabend MPU-Durchblick“) wird man hingegen – wie die Bevollmächtigte der Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 11.04.2023 zutreffend beschreibt – geführt, wenn man auf der Internetseite des TÜV SÜD den Standort der Begutachtungsstelle für Fahreignung der TÜV SÜD Life Service GmbH angibt (https://www.tuvsud.com/de-de/branchen/mobilitaet-und-automotive/fuehrerschein-und-pruefung/mpu-untersuchungen-bei-tuev-sued-life-service/mpu-infoabend/europe/germany/esslingen/berliner-strasse-4, abgerufen am 14.06.2023). Es kommt hinzu, dass das Service-Center Esslingen der TÜV SÜD Pluspunkt GmbH die Anschrift Wagnerstraße 10 in Esslingen hat, während das Service-Center Esslingen der TÜV SÜD Life Service GmbH in der Berliner Straße 4 in Esslingen angesiedelt ist und diese Adresse auch als Veranstaltungsort für den „Infoabend MPU-Durchblick“ genannt wird.

Die Antragsgegnerin hat auch nichts dafür vorgetragen, dass der Antragsteller nicht an der Informationsveranstaltung „Infoabend MPU-Durchblick“, sondern an einer von der TÜV SÜD Pluspunkt GmbH durchgeführten Informationsveranstaltung zur MPU-Vorbereitung teilgenommen hat. Hierfür ist auch nichts aus dem Schreiben der Bevollmächtigten des Antragstellers vom 24.03.2022 sowie aus deren weiteren Schreiben im Verwaltungs- und in den gerichtlichen Verfahren erkennbar.

Soweit die Antragsgegnerin geltend macht, dass die von dem Antragsteller für rechtswidrig gehaltene erste Frage in ihrer Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens vom 28.01.2022 („Kann Herr xxxxx trotz der Hinweise auf gelegentlichen Cannabiskonsum sowie der bekannten Verkehrsteilnahme unter Cannabiseinfluss ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 (FE-Klasse B) sicher führen“) keinen rechtlichen Zweifeln begegne (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.05.2023 – 16 B 1271/22 – juris Rn. 14 ff.), ist dies nach alledem nicht entscheidungserheblich. Auch der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts hat diese Frage ausdrücklich offengelassen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 63 Abs. 2, § 47 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. den Empfehlungen in den Nummern 1.5 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt z. B. in Schoch/Schneider, VwGO, unter § 163).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

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