Skip to content
Menü

Verwerfungsurteil – bei Bescheinigung Arbeitsunfähigkeit über Gastroenteritis

KG – Az.: 3 Ws (B) 323/21 – Beschluss vom 02.12.2021

In der Bußgeldsache wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 2. Dezember 2021 beschlossen:

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 30. Juli 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurück-verwiesen.

Gründe:

I.

Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung einen Bußgeldbescheid erlassen und eine Geldbuße sowie ein Fahrverbot festgesetzt. Der Betroffene hat hiergegen Einspruch eingelegt. Am 30. Juli 2021, dem Tag der Hauptverhandlung, hat der Verteidiger durch Schreiben vom „29. Juli 2021“ beantragt, den Termin aufzuheben. Zur Begründung hat er ausgeführt, der Betroffene leide unter „akutem Brechdurchfall“. Er habe seinen Arzt auf-gesucht und sich behandeln lassen, sei aber nicht in der Lage, einer Hauptverhandlung zu folgen. Dem Schreiben war ein Überweisungsschein („Diagnose K52.9 G … erbitte Colonoskopie zum Ausschluss Colitis“) und eine ärztliche Arbeitsunfähigkeits-bescheinigung („arbeitsunfähig seit 30.07.2021“) mit dem ICD-10-Code „K52.9 G“ beigefügt. Dahinter verbirgt sich die gesicherte („G“) Diagnose „Nichtinfektiöse Gastroenteritis und Kolitis, nicht näher bezeichnet“. Nachdem zur Hauptverhandlung niemand erschienen war, hat das Amtsgericht den Einspruch mit der Begründung verworfen, der Betroffene fehle nicht genügend entschuldigt. Zwar habe er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingereicht; aus dieser ergebe sich aber weder die Art noch die Dauer und auch nicht die Schwere der Erkrankung. Weiter heißt es: „Warum der Betroffene in der Lage war, einen Arzt aufzusuchen, aber nicht zur Hauptverhandlung erscheinen konnte, ist nicht plausibel.“ Hiergegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde. Neben der Verletzung sachlichen Rechts rügt er eine Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist – im Ergebnis – zulässig erhoben. Zwar verschweigt die Rechtsbeschwerde einen Aktenvermerk der Abteilungs-richterin vom 27. September 2021, in dem es heißt, ihr hätten bei der Verwerfungs-entscheidung die Überweisung und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, nicht aber der Verlegungsantrag vom „29. Juli 2021“ vorgelegen, in dem die konkrete Symptomatik („akuter Brechdurchfall“) beschrieben wird (Bl. 43). Zur Darstellung eines solchen potentiell rügefeindlichen Umstands ist der Rechtsmittelführer in der Rechtsbeschwerde verpflichtet (vgl. nur BVerfG NJW 2005, 1999 m. w. N.). Das Versäumnis führt hier aber ausnahmsweise nicht zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels, weil der Einspruch auch dann nicht hätte verworfen werden dürfen, wenn dem Amtsgericht nur die beiden ärztlichen Urkunden vorgelegen hätten. Im Übrigen beschreibt das Rechtsmittel den Verfahrensgang ausreichend und bezeichnet mit „akutem Brech-durchfall“ (RB S. 2) auch die Symptome der Erkrankung in einer den §§ 79 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO noch genügenden Weise.

2. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist auch begründet. Bei § 74 Abs. 2 OWiG handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, die eng auszulegen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 6. Juli 1998 – 3 Ws (B) 324/98 – [juris]; OLG Stuttgart Justiz 2004, 126; BayObLG StV 2001, 338). Entscheidend ist bei ihrer Anwendung nicht, ob sich der Betroffene genügend entschuldigt hat, sondern ob er im Zeitpunkt der Hauptverhandlung genügend entschuldigt war (vgl. Senat VRS 132, 115 m.w.N.). Hat das Tatgericht Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung, so darf es den Einspruch nur verwerfen, wenn es sich die Überzeugung verschafft hat, dass diese nicht hinreichen. Hierbei ist eine großzügige Auslegung zu Gunsten des Betroffenen geboten (vgl. BGHSt 17, 391). Die Vorlage eines ärztlichen Attests enthält die konkludente Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht (vgl. Senat DV 2019, 189). Bleiben freibeweisliche Aufklärungsbemühungen erfolglos und bleibt daher zweifel-haft, ob der Betroffene genügend entschuldigt ist, liegen die Voraussetzungen einer Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG nicht vor (vgl. zuletzt OLG Brandenburg jurisPR-StrafR 23/2019 m. Anm. Krenberger [Volltext bei juris]).

Nach dieser Maßgabe konnte das Amtsgericht nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Betroffene der Hauptverhandlung unentschuldigt ferngeblieben ist. Vielmehr musste es aufgrund der ihm unzweifelhaft vorliegenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von der gesicherten Diagnose einer Gastroenteritis ausgehen. Die dem Amtsgericht zusätzlich vorgelegte ärztliche Überweisung an einen Gastroenterologen mag kein sicherer Hinweis auf eine besonders gravierende Erkrankung sein. Keines-falls legt sie aber eine Bagatellerkrankung nahe, und erst recht lässt sie es als unwahrscheinlich erscheinen, dass der Betroffene nur simulierte. Daher durfte das Amtsgericht die Bescheinigungen nicht als unerheblich abtun. Seine zunächst nur auf einer Vermutung beruhende Einschätzung, dem Betroffenen sei die Teilnahme an der Verhandlung durchaus zuzumuten, hätte das Amtsgericht bei dieser Sachlage im Freibeweis, namentlich durch einen Anruf bei dem ausstellenden Arzt, überprüfen müssen. Im Übrigen ist der Verteidigung zuzustimmen, dass es problematisch und nachgerade widersinnig erscheint, vom erkrankten Betroffenen ein aussagekräftiges Attest zu verlangen und zugleich aus dem Umstand, dass er einen Arzt aufgesucht hat, auf seine Verhandlungsfähigkeit zu schließen.

3. Das Urteil war daher mit seinen Feststellungen aufzuheben, und die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwer-de – an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Haben Sie einen Bußgeldbescheid erhalten?

Mit unserer Hilfe teure Bußgelder und Fahrverbote vermeiden!

Wir überprüfen Ihren Bußgeldbescheid kostenlos und unverbindlich auf Fehler und die Möglichkeit eines Einspruchs.
Blitzer Bußgeld prüfen

Rechtstipps aus dem Verkehrsrecht

Urteile über Bußgeld und Ordnungswidrigkeiten

Unsere Kontaktinformationen

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!