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Einsicht in Rohmessdaten – Gewährleistung eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK

KG Berlin – Az.: 3 Ws (B) 84/21 – Beschluss vom 20.04.2021

In der Bußgeldsache wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 20. April 2021 beschlossen:

Der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 5. Januar 2021 wird, ohne dass der Beschluss einer Begründung bedarf (§ 80 Abs. 4 Satz 3 OWiG), ver-worfen.

Der Betroffene hat die Kosten seiner nach § 80 Abs. 4 Satz 4 OWiG als zu-rückgenommen geltenden Rechtsbeschwerde zu tragen (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Der Senat merkt ergänzend an:

Da gegen den Betroffenen lediglich eine Geldbuße in Höhe von 160 Euro verhängt worden ist, kommt gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 OWiG eine Zulassung der Rechtsbeschwerde nur in Betracht, wenn sie zur Fortbildung des Rechts, zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung oder wegen der Verletzung des rechtlichen Gehörs geboten ist.

1.

Soweit der Betroffene eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung, ei-ne Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren, des Rechtsstaatsprinzips und des allgemeinen Freiheitsrechts rügt, weil das Amtsgericht seinen Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung zum Zweck der Auswertung von Messunterlagen abgelehnt habe, dringt er nicht durch.

a) Es kann dahinstehen, ob die erhobene Verfahrensrüge, die Ablehnung seines Antrags auf Aussetzung der Hauptverhandlung verletze den Betroffenen in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG, den Zulassungsvoraussetzungen von §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entspricht. Denn jedenfalls ist sie unbegründet.

Zwar ist obergerichtlich geklärt, dass der Verteidiger, soweit dies zur Über-prüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich ist, grundsätzlich auch in solche Unterlagen Einsicht nehmen kann, die sich nicht bei den Akten befinden (vgl. insoweit grundlegend die sog. Spurenakten-Entscheidung des BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983 – 2 BvR 864/81 –, juris; s.a. Senat, Beschlüsse vom 5. November 2020 – 3 Ws (B) 263/20 – und 2. April 2019 – 3 Ws (B) 97/19 –, beide juris m.w.N.; Thüringer OLG, Beschluss vom 17. März 2021 – 1 OLG 331 Subs 23/20 –, juris). Weiter ist geklärt, dass das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers daher deutlich weiter gehen kann als die Amtsaufklärung des Gerichts, und dass solch weitreichende Befugnisse dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zustehen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 5. November 2020 a.a.O. und 2. April 2019 a.a.O.). Obergerichtlich ist auch geklärt, dass diese Informations- und Einsichts-rechte aber nicht aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG abzuleiten sind (vgl. Senat StraFo 2018, 383). Der hier einschlägige Grundsatz der „Waffengleichheit“, der dem Betroffenen die Möglichkeit verschafft, sich kritisch mit den durch die Verfolgungsbehörden zusammengetragenen Informationen auseinanderzusetzen, hat seinen Ur-sprung vielmehr im Recht auf Gewährleistung eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris; Senat, Beschlüsse vom 5. November 2020 a.a.O. und 2. April 2019 a.a.O. und vom 6. August 2018 – 3 Ws (B) 168/18 – juris).

b) Soweit der Betroffene seinen Zulassungsantrag zugleich auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens stützt, genügt sein Vor-bringen nicht den Anforderungen von §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.

Die einhellige Rechtsprechung interpretiert § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO dahin, dass in der Regel die tatsächlichen Umstände, die den behaupteten Verfahrensmangel ergeben, so vollständig und genau anzugeben sind, dass das Rechtsmittelgericht allein aufgrund der Rechtfertigungsschrift, also ohne Blick in die Akten, im Sinne einer vorgenommenen Schlüssigkeitsprüfung erschöpfend prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen werden (vgl. Franke in Löwe-Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 344 Rn. 78). Der Betroffene kann mit dem Einwand unzulässiger Informationsbeschränkung im Gerichtsverfahren unter dem Gesichtspunkt unfairer Verfahrensgestaltung nur durchdringen, wenn er dar-legt, welche Anstrengungen insbesondere auch außerhalb der Hauptverhandlung (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 7. Mai 2020 – 2 OWi 6 SsRs 120/20 – , BeckRS 2020, 10860) unternommen worden sind, um der Unter-lagen in der vom Betroffenen begehrten Form habhaft zu werden (vgl. Senat, Beschluss vom 5. November 2020 a.a.O.) und wie sich die Verwaltungsbehörde und ggfs. das Gericht angesichts dieser Anstrengungen ver-halten haben. Auszuführen ist außerdem, dass der Betroffene den Zugang zu nicht zur Akte genommenen Unterlagen schon rechtzeitig im Bußgeld-verfahren begehrt und im Verfahren nach § 62 OWiG weiterverfolgt hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 a.a.O.; Thüringer OLG a.a.O.; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 7. Januar 2021 – 1 OWi 2 SsBs 98/20 –, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 7. Mai 2020 a.a.O.; OLG Dresden, Beschluss vom 11. Dezember 2019 – OLG 23 Ss 709/19 (B) –, BeckRS 2019, 37019; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 –, juris). Denn ein Verstoß gegen den gerade auf die Gesamtheit des Verfahrens abhebenden Fairnessgrundsatz kann nur dann angenommen werden, wenn einem rechtzeitig und unter Ausschöpfung aller prozessualen Möglichkeiten angebrachten Zugangsgesuch nicht entsprochen worden ist (vgl. Thüringer OLG a.a.O. m.w.N.).

Diesen Anforderungen wird das Antragsvorbringen nicht gerecht.

Der Betroffene, der geltend macht, er habe die Aussetzung des Hauptverhandlungstermins beantragt und das Amtsgericht habe diesen Antrag zu Unrecht abgelehnt, stellt den Beschluss, durch den das Amtsgericht den Aussetzungsantrag abgelehnt hat, nur zusammenfassend dar, sodass dem Rechtsmittelgericht bereits insoweit eine inhaltliche Prüfung versagt ist. Auch legt er seine eigenen Bemühungen um Zugang zur begehrten Tuffdatei nebst Token und Passwort nicht entsprechend der obigen Anforderungen dar, sondern setzt sich ganz überwiegend in dem Versuch eigener Rechtsfertigung mit den Urteilsgründen, soweit sie sich mit dem Aussetzungsantrag befassen, auseinander.

Soweit das Rechtsmittelgericht infolge der ebenfalls erhobenen Sachrüge auch die Urteilsfeststellungen zur Ergänzung der Verfahrensrüge heranziehen kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 344 Rn. 21a), ergibt sich auch aus diesen nicht, dass sich der Betroffene rechtzeitig und unter Ausschöpfung aller prozessualen Möglichkeiten um den Zugang zu den begehrten Dateien bemüht hat:

Der Verteidiger hat nach den Urteilsfeststellungen (UA S. 3) seit dem 4. November 2019 Kenntnis von dem Verfahren und hat bereits zu diesem Zeitpunkt diverse Unterlagen – allerdings nicht die nunmehr in Rede stehende Tuff-Datei nebst Token und Passwort – von der Behörde erfordert. In einem ersten Hauptverhandlungstermin am 6. August 2020 hat der Betroffene keine Anträge gestellt. Vielmehr ist die Hauptverhandlung ausgesetzt worden, weil die Rücknahme des Einspruchs erwogen werden sollte. Erstmals am 1. Oktober 2020 – und damit erst fast 11 Monate nach Kenntnisnahme vom Verfahrensvorwurf – hat der Verteidiger die Behörde konkret um die Herausgabe der Tuff-Datei „gebeten“. Vom Rechtsbehelf des § 62 OWiG hat der Betroffene zu keinem Zeitpunkt Gebrauch gemacht (UA S. 4).

2.

Die allgemeine Sachrüge deckt ebenso wenig Rechtsfehler auf, die die Zulassung der Rechtsbeschwerde geböten. Tatsächliche oder vermeintliche Rechtsfehler im Einzelfall rechtfertigen die Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht.

 

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