Kammergericht hebt Urteil auf: Verletzung des rechtlichen Gehörs im Bußgeldverfahren
In diesem Urteil geht es um ein Bußgeldverfahren, bei dem die Unpünktlichkeit der Verteidigerin beim Fortsetzungstermin im Mittelpunkt stand. Das Kammergericht Berlin entschied, dass das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten aufgrund der Verletzung des rechtlichen Gehörs aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung an eine andere Abteilung zurückverwiesen wird. Dies geschah, weil das Gericht trotz der kurzfristigen Abwesenheit der Verteidigerin und des Beschuldigten mit der Verhandlung begann und schnell ein Urteil fällte, ohne die angemessene Wartezeit einzuhalten.
Übersicht
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✔ Das Wichtigste in Kürze
- Das Kammergericht Berlin hebt aufgrund einer Verfahrensrüge das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten auf.
- Kernpunkt der Entscheidung war die Verletzung des rechtlichen Gehörs, da das Amtsgericht trotz Unpünktlichkeit der Verteidigerin und des Betroffenen mit der Verhandlung fortfuhr und rasch urteilte.
- Das Gericht berücksichtigte nicht, dass Verfahrensbeteiligte trotz Ankündigung einer geringen Verspätung an der Hauptverhandlung teilnehmen wollten.
- Eine angemessene Wartezeit von üblicherweise 15 Minuten wurde nicht eingehalten.
- Das Urteil wurde aufgehoben und die Sache für eine neue Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.
- Die Verteidigerin hatte mehrere Beweisanträge angekündigt, die möglicherweise zu einem anderen Urteil hätten führen können.
- Der Fall betont die Wichtigkeit der Wahrung prozessualer Rechte und der Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber den Verfahrensbeteiligten.
Verfahrensgarantien im Bußgeldprozess
Rechtliches Gehör und die Fürsorgepflicht des Gerichts sind fundamentale Prinzipien eines fairen Bußgeldverfahrens. Im Fokus steht die Frage, wie Gerichte mit Verzögerungen oder Unpünktlichkeit von Verfahrensbeteiligten umgehen müssen.
Dabei kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. Wartezeiten können erforderlich sein, wenn die Verteidigung ihr Interesse an der persönlichen Teilnahme bekundet hat. Das Gericht muss dann eine angemessene Frist gewähren, bevor es mit der Verhandlung beginnt. Dies dient der Durchsetzung prozessualer Rechte und der Vermeidung von Verfahrensfehlern.
Im Zentrum dieses Rechtsfalles steht ein Bußgeldverfahren, das durch die Unpünktlichkeit einer Verteidigerin beim Fortsetzungstermin eine ungewöhnliche Wendung nahm. Das Kammergericht Berlin musste sich mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern die Wartepflicht des Gerichts bei verspäteter Anwesenheit von Prozessbeteiligten, insbesondere der Verteidigung, einzuhalten ist.
Recht auf rechtliches Gehör verletzt
Das Amtsgericht Tiergarten verurteilte den Betroffenen zunächst wegen einer Ordnungswidrigkeit zu einer Geldbuße. Gegen dieses Urteil legte der Betroffene Rechtsbeschwerde ein, die er vor allem auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs stützte. Er bemängelte, dass das Gericht den Fortsetzungstermin der Hauptverhandlung begann und innerhalb weniger Minuten zu einem Urteil kam, obwohl weder er noch seine Verteidigerin anwesend waren. Das Kammergericht Berlin gab der Rechtsbeschwerde statt und hob das Urteil auf. Es argumentierte, dass das Amtsgericht der Fürsorgepflicht nicht gerecht wurde, indem es nicht die angemessene Wartezeit abwartete, bevor es mit der Verhandlung fortfuhr und ein Urteil fällte.
Ein komplexer Verfahrensablauf führt zu rechtlichen Fragen
Die Situation, die zu dieser rechtlichen Auseinandersetzung führte, begann mit einem Antrag der Verteidigerin, ihren Mandanten von der Anwesenheitspflicht zu entbinden, dem das Amtsgericht nachkam. Während der Vernehmung des einzigen Zeugen kam es zu Unstimmigkeiten zwischen der Verteidigerin und dem Vorsitzenden, was letztlich dazu führte, dass die Verteidigerin um eine Unterbrechung bat. Ohne Rücksprache wurde ein neuer Termin festgelegt, zu dem die Verteidigerin verspätet erschien. Die besondere Herausforderung in diesem Fall lag darin, dass das Gericht mit dem Verfahren fortfuhr, ohne die erforderliche Wartezeit einzuhalten, was eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellte.
Die Bedeutung der prozessualen Fürsorgepflicht
Das Kammergericht Berlin wies in seiner Entscheidung darauf hin, dass das Amtsgericht die prozessuale Fürsorgepflicht verletzt hat. Diese Pflicht verlangt von einem Gericht, eine angemessene Wartezeit zu gewähren, insbesondere wenn Anzeichen darauf hindeuten, dass die Verteidigung beabsichtigt, am Verfahren teilzunehmen. In diesem Fall wurden mehrere Anträge von der Verteidigung gestellt, die darauf hindeuteten, dass sie an der Hauptverhandlung teilnehmen wollte. Das Gericht hätte daher mit der Verhandlung nicht fortfahren dürfen, ohne eine angemessene Wartezeit abzuwarten.
Urteil und seine Folgen
Aufgrund der aufgezeigten Verfahrensmängel entschied das Kammergericht, das ursprüngliche Urteil aufzuheben und den Fall zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen. Diese Entscheidung unterstreicht die Bedeutung des rechtlichen Gehörs und der prozessualen Fürsorgepflicht innerhalb des deutschen Rechtssystems. Sie verdeutlicht, dass Gerichte verpflichtet sind, allen Beteiligten die Möglichkeit zur Teilnahme am Verfahren zu gewähren und dabei die notwendigen prozeduralen Anforderungen einzuhalten.
In der Gesamtschau zeigt dieser Fall die wesentliche Rolle, die das rechtliche Gehör und die prozessuale Sorgfalt in der deutschen Rechtsprechung spielen. Gerichte müssen die Anwesenheit und Teilnahme aller Prozessbeteiligten sicherstellen und dabei die notwendigen Voraussetzungen für ein faires Verfahren wahren.
✔ FAQ: Wichtige Fragen kurz erklärt
Wie wird das Recht auf rechtliches Gehör im Bußgeldverfahren gewährleistet?
Das Recht auf rechtliches Gehör im Bußgeldverfahren ist ein grundlegender Bestandteil des fairen Verfahrens und ist in Deutschland durch Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) verankert. Es sichert den Beteiligten das Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung ihrer Argumente und Beweismittel zu. Im Kontext von Bußgeldverfahren bedeutet dies konkret, dass die betroffene Person das Recht hat, sich zu den Vorwürfen zu äußern, Einsicht in die Beweismittel zu erhalten und eigene Beweise vorzubringen. Die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs im Bußgeldverfahren umfasst unter anderem:
- Informationsrecht: Die betroffene Person muss über den Vorwurf und die Beweislage informiert werden, um sich angemessen verteidigen zu können.
- Äußerungsrecht: Die Person hat das Recht, sich zu den Vorwürfen zu äußern, Stellung zu nehmen und eigene Argumente und Beweismittel vorzubringen.
- Einsichtsrecht: Es besteht ein Recht auf Einsicht in die Akten und Beweismittel, die der Vorwurf stützt. Dies beinhaltet beispielsweise die Einsicht in Rohmessdaten bei Geschwindigkeitsüberschreitungen.
- Berücksichtigung der Verteidigung: Die Argumente und Beweismittel der Verteidigung müssen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden.
- Faires Verfahren: Das Gericht muss sicherstellen, dass die Verteidigung ausreichend Gelegenheit hat, sich auf die Hauptverhandlung vorzubereiten und beispielsweise Zeugen zu befragen oder Beweisanträge zu stellen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen klargestellt, dass eine generelle Versagung des Zugangs zu Informationen, die für die Verteidigung relevant sind, nicht mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist. Sollte das Gericht die Rechte des Betroffenen nicht beachten, kann dies eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellen und zu einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde führen. In der Praxis bedeutet dies, dass die Bußgeldbehörden und Gerichte verpflichtet sind, die prozessualen Rechte der Betroffenen zu wahren und ihnen eine effektive Möglichkeit zur Verteidigung zu geben. Dies schließt auch die Pflicht ein, die Verteidigung rechtzeitig mit den notwendigen Informationen und Beweismitteln zu versorgen, damit diese ihre Rechte im Verfahren wahrnehmen kann.
§ Wichtige Gesetze und Paragraphen in diesem Urteil
- § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG: Dieser Paragraph regelt die Zulässigkeit einer Rechtsbeschwerde im Ordnungswidrigkeitenrecht. Im Kontext des Falles ermöglichte er dem Betroffenen, gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vorzugehen, da er eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend machte.
- §§ 73 Abs. 2, 74 Abs. 1 Satz 1 OWiG: Diese Vorschriften betreffen die Entbindung des Betroffenen von der Anwesenheitspflicht in der Hauptverhandlung. Im vorliegenden Fall war dies relevant, da der Betroffene nicht persönlich anwesend war, als das Gericht das Urteil fällte.
- § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO: Dieser Paragraph erläutert, wie eine Verfahrensrüge im Rahmen einer Rechtsbeschwerde auszuführen ist. Für den Fall war dies von Bedeutung, da die Art und Weise, wie die Verfahrensrüge vorgetragen wurde, den Anforderungen entsprechen musste, um erfolgreich zu sein.
- § 24 StVG in Verbindung mit §§ 21 Abs. 1a Satz 1, 49 Abs. 1 Nr. 20 StVO: Diese Gesetze und Paragraphen legen die Grundlage für das Bußgeldverfahren selbst. Sie definieren die rechtlichen Rahmenbedingungen für Verkehrsordnungswidrigkeiten, die im Ausgangspunkt des Verfahrens standen.
- Beschleunigungsgrundsatz im Gerichtsverfahren: Obwohl nicht direkt in einem spezifischen Paragraphen genannt, spielt dieser Grundsatz eine Rolle im Kontext der Entscheidungsfindung des Gerichts, da er die zügige Durchführung von Gerichtsverfahren betont. Im besprochenen Fall wurde der Grundsatz vom Gericht angeführt, um die Entscheidung gegen eine Terminverschiebung zu begründen.
- Prozessuale Fürsorgepflicht: Diese allgemeine rechtliche Verpflichtung eines Gerichts, für einen fairen Prozess zu sorgen und die Rechte der Verfahrensbeteiligten zu wahren, ist im gesamten Verfahren von zentraler Bedeutung. Sie umfasst unter anderem die Pflicht des Gerichts, eine angemessene Wartezeit einzuräumen, bevor mit der Verhandlung fortgefahren wird, wenn die Anwesenheit der Verteidigung erwartet wird.
Das vorliegende Urteil
KG Berlin – Az.: 3 Ws (B) 222/15 – 162 Ss 36/15 – Beschluss vom 29.06.2015
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 6. Januar 2015 wird zugelassen.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das vorgenannte Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu einer neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Betroffenen wegen einer vorsätzlichen Zuwiderhandlung gegen §§ 21 Abs. 1a Satz 1, 49 Abs. 1 Nr. 20 StVO nach § 24 (ergänzt: Abs. 1) StVG zu einer Geldbuße von 100,00 Euro verurteilt.
Dagegen richtet sich der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde des Betroffenen nach § 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 OWiG. Der Rechtsmittelführer macht die Verletzung materiellen und formellen Rechts geltend.
Die vom Betroffenen erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil das Amtsgericht die Hauptverhandlung am Fortsetzungstermin trotz Nichterscheinens des Betroffenen und der Verteidigung pünktlich unter Unterbrechung einer anderen Hauptverhandlung begann und nach zwei Minuten ein Urteil gesprochen hatte, hat Erfolg. Der Senat lässt die Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zu. Dies führt zur Aufhebung des Urteils und dessen Feststellungen. Daher bedürfen die weiteren Rügen keiner Erörterung. Der Schriftsatz der Verteidigerin vom 23. Juni 2015 hat vorgelegen; auf dessen Inhalt kommt es nicht an.
Der Senat merkt an, dass den weiteren Verfahrensrügen jedenfalls dann der Erfolg hätte versagt bleiben müssen, soweit der erforderliche Vortrag durch Bezugnahmen auf beigefügte Anlagen ersetzt wurde. Denn der Verweis und die Bezugnahmen auf Anlagen sind im Rechtsbeschwerdeverfahren unzulässig (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 344, Rn. 21; Senat, Beschluss vom 12. August 2010 – 3 Ws (B) 395/10 -). Denn es ist nicht Aufgabe des Rechtsbeschwerdegerichts, „den Beschwerdevortrag aus anderen Unterlagen passend zu ergänzen“ (BGH NStZ 87, 36).
II.
1. Diese auf die Verletzung rechtlichen Gehörs nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG gestützte Verfahrensrüge ist in zulässiger Weise nach §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erhoben worden. Danach sind die den Mangel enthaltenen Tatsachen so vollständig darzulegen, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein aus der Begründungsschrift – unterstellt der Vortrag wird erwiesen – prüfen kann, ob eine Verletzung des rechtlichen Gehörs schlüssig dargetan ist.
Diesen Anforderungen wird das Vorbringen des Betroffenen gerecht, auch wenn der Vortrag durchaus gestrafter und geordneter hätte erfolgen können.
2. Für den Senat steht aufgrund des Rügevorbringens und des Inhalts der Akten, der dem Senat nach der in zulässiger Weise erhobenen Verfahrensrüge zugänglich ist, folgender Verfahrensablauf – soweit für die hier zu beurteilende Rüge von Bedeutung – fest:
Die ausreichend bevollmächtigte Verteidigerin des Betroffenen hat am Terminstag, dem 16. Dezember 2014, einen Antrag gestellt, den Betroffenen von seiner Anwesenheit in der Hauptverhandlung zu entbinden, dem das Amtsgericht nachgekommen ist. Es wurde der einzige Zeuge zum Tatgeschehen vernommen. Während seiner Vernehmung durch die Verteidigerin ist es zwischen dem Vorsitzenden und ihr zu Unstimmigkeiten gekommen mit der Folge, dass die Verteidigung um eine Unterbrechung zwecks Stellens eines unaufschiebbaren Antrages gebeten hatte. Auf Nachfrage des Vorsitzenden hätte sie zum Abfassen dieses Antrages eine Stunde benötigt, daraufhin hat der Vorsitzende den Zeugen entlassen, die Hauptverhandlung unterbrochen und einen Fortsetzungstermin – ohne Rücksprache mit der Verteidigerin – am 6. Januar 2015 um 12.20 Uhr bestimmt, zu dem er die schriftliche Ladung des Betroffenen und der Verteidigerin verfügt hat. Ferner hat er der Rechtsanwältin Gelegenheit gegeben, den angekündigten Antrag außerhalb der Hauptverhandlung zu stellen. Am nächsten Tag ist ein Antrag wegen der Besorgnis der Befangenheit des Vorsitzenden beim Amtsgericht eingegangen. Am 19. Dezember 2014 hat die Verteidigerin einen Antrag auf Aufhebung des Fortsetzungstermins wegen einer Terminskollision, die sie durch Übersenden ihrer Ladung glaubhaft gemacht hat und auf Neubestimmung eines Fortsetzungstermins gestellt verbunden mit der Bitte, den Termin mit ihr abzustimmen. Über diesen Antrag hat der Tatrichter am 5. Januar 2015 entschieden, einem Tag vor dem Fortsetzungstermin, da ihm erst zu diesem Zeitpunkt die Akten erstmalig nach der Entscheidung einer anderen Abteilung über den Antrag wegen der Besorgnis der Befangenheit wieder vorgelegen hatten. Er hat den Antrag wegen des Fehlens eines hinreichenden Anlasses zur Verlegung abgelehnt und angemerkt, dass gar nicht feststehe, dass es die Verteidigerin nicht rechtzeitig zu dem festgesetzten Fortsetzungstermin schaffen werde; ggf. „wird es Ihnen, davon möchte ich ausgehen, möglich sein, einen Vertreter zum Termin zu entsenden, der statt Ihrer plädieren könnte.“ Ferner wurde auf den vom Gericht zu beachtenden Beschleunigungsgrundsatz verwiesen verbunden mit dem Hinweis, dass der Betroffene wegen seines Entpflichtungsantrages, ohnehin „kein Interesse habe, der Hauptverhandlung beizuwohnen.“ Der Vorsitzende hat seine Verfügung mit Eilt! gekennzeichnet; dennoch ist die Ausfertigung erst am Vormittag des Fortsetzungstermins erfolgt. Die Akten wurden dem Vorsitzenden auch erst während der Hauptverhandlung eines anderen auf 12.00 Uhr terminierten Ordnungswidrigkeitenverfahrens in den Saal gebracht. Diese Hauptverhandlung hat er unterbrochen und hat pünktlich um 12.20 Uhr die Hauptverhandlung in dem verfahrensgegenständlichen Verfahren fortgesetzt. Bei Aufruf sind weder die Verteidigerin noch der Betroffene erschienen. Um 12.22 Uhr hat der Tatrichter das Urteil verkündet. Anschließend hat er die unterbrochene Hauptverhandlung fortgesetzt. Unmittelbar danach hatten zunächst der unterbevollmächtigte Rechtsanwalt und um 12.30 Uhr die Verteidigerin den Sitzungssaal betreten.
3.
a) Ist der Betroffene – wie vorliegend – von seinem persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung gem. §§ 73 Abs. 2, 74 Abs. 1 Satz 1 OWiG entbunden, so muss das Gericht zwar grundsätzlich nicht damit rechnen, dass der Betroffene und sein Verteidiger zu spät erscheinen und darf daher mit der Hauptverhandlung auch pünktlich beginnen (OLG Düsseldorf, VRS 85, 321f).
b) Etwas anderes gilt dann, wenn dem Gericht aus dem bisherigen Prozessverhalten des Betroffenen oder des Verteidigers erkennbar ist, dass sie an der Hauptverhandlung persönlich teilnehmen wollen (Senge in KK-OWiG, 4. Aufl., § 74 Rdnr. 5).
aa) So liegt der Fall hier. Das bisherige Prozessverhalten der Verteidigerin während des ersten Verhandlungstermins sowie die außerhalb der Hauptverhandlung gestellten Anträge lassen keinen Zweifel an ihrem Willen, an der Hauptverhandlung teilnehmen zu wollen. Anhaltpunkte dafür, dass sie das Mandat niedergelegt hat oder sonst wie die anwaltliche Tätigkeit zumindest am Fortsetzungstermin eingestellt oder ruhen lassen wollte, sind weder vorgetragen noch sonst wie erkennbar.
Auch dem Vorsitzenden war dieses Interesse der Verteidigung bekannt und bewusst. Dies ergibt sich aus den Gründen des Beschlusses des Amtsgerichts, mit dem Antrag der Verteidigung auf Aufhebung des Fortsetzungstermins wegen einer Terminskollision abgelehnt wurde. Danach empfiehlt der Vorsitzende der Verteidigerin, falls sie es nicht selbst zum Fortsetzungstermin schaffe, doch einen Vertreter zu entsenden. Ein Gericht, das solche Empfehlungen in einem ablehnenden Beschluss ausspricht, muss damit rechnen, dass sie auch – wie vorliegend geschehen – beachtet werden.
bb) Eine solche durch das Gericht geschaffene Sachlage begründet jedenfalls das Einhalten einer angemessenen Wartezeit bei nicht pünktlichem Erscheinen der Verteidigung. Unter diesen Umständen kommt es auch nicht mehr darauf an, ob der Vorsitzende bei Aufruf der Sache – wie von der Verteidigung behauptet – sogar Kenntnis von der zweimal über das Anwaltzimmer vermittelten Mitteilung über eine kurze Verspätung des unterbevollmächtigten Rechtsanwaltes hatte.
Die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts verlangt in einem solchen Fall, eine angemessen Wartezeit, die in der Regel mit 15 Minuten ab der Terminsstunde zu bemessen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 19. November 2014 – 3 Ws (B) 519/14 – m.w.N.), einzuhalten. Dieser Pflicht ist das Gericht ausweislich des Protokolls nicht nachgekommen.
Wäre das Gericht dieser Wartepflicht nachgekommen, hätte der Fortsetzungstermin mit dem Vertreter der Rechtsanwältin und dann auch mit der Verteidigerin, die innerhalb der 15-minütigen Wartezeit im Sitzungssaal erschienen waren, stattfinden können.
cc) Die Rechtsmittelschrift macht weiterhin substantiiert geltend, dass die Verteidigung, wenn sie dann gehört worden wäre, mehrere Beweisanträge gestellt hätte, die auch nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet gewesen wären verbunden mit dem weiteren Sachvortrag der fehlenden Glaubhaftigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen.
dd) Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass nur der Betroffene Adressat des Rechtes auf rechtliches Gehör ist, dieser aber von seiner Präsenspflicht entbunden war und demnach dieses Recht am Fortsetzungstermin gar nicht ausüben konnte. Denn die persönlichen Verfahrensrechte – wie z.B. das Recht auf rechtliches Gehör – sind auf die schriftlich bevollmächtigte Verteidigerin bzw. auf den mündlich beauftragten Rechtsanwalt übergegangen (Senge, aaO, § 73, Rd. 40). Sie waren daher auch in der Lage für und gegen den Betroffenen weitere Erklärungen zur Sache abzugeben, auch wenn er nach Einräumen der Fahrereigenschaft zunächst von seinem Recht zum Schweigen Gebrauch gemacht hat.
4. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht unter Beachtung des Vortrages der Verteidigung zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
5. Wegen dieses aufgezeigten Verfahrensmangels war das angefochtene Urteil nach §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 353 StPO mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache nach § 79 Abs. 6 OWiG zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen.