Digitale Unterschriften unzureichend für Verkehrsüberwachung
Ein Messprotokoll mit nur eingescannter Unterschrift der Messbeamten erfüllt nicht die notwendigen Anforderungen, um deren Urheberschaft zweifelsfrei zu belegen, was zur Aufhebung des Urteils und Rückverweisung zur erneuten Verhandlung führte.
Übersicht
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✔ Das Wichtigste in Kürze
- Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass ein Messprotokoll mit lediglich eingescannter Unterschrift der Messbeamten nicht ausreicht, um die Urheberschaft zweifelsfrei zu erkennen.
- Die Unklarheit über die Urheberschaft des Messprotokolls führte zur Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts Marburg und zur Rückverweisung der Sache zur neuerlichen Verhandlung.
- Das Urteil betont die Wichtigkeit der eigenhändigen Unterschrift von Messbeamten auf einem Messprotokoll als Kernbeweismittel im standardisierten Messverfahren.
- Eingescannte Unterschriften bieten keinen ausreichenden Beweis für die Übernahme der Verantwortung durch die namentlich benannten Messbeamten.
- Die Verwendung eines Messprotokolls mit eingescannten Unterschriften zu Lasten des Betroffenen verstieß gegen das Prinzip des rechtlichen Gehörs.
- Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wurde zugelassen, und das Urteil des Amtsgerichts Marburg wurde aufgehoben.
- Dieser Fall zeigt die Bedeutung der formal korrekten Ausführung von Messprotokollen im Rahmen von Geschwindigkeitsüberschreitungsfällen.
- Die Entscheidung unterstreicht die Notwendigkeit, dass Messprotokolle als öffentliche Urkunden mit der gebotenen Sorgfalt zu behandeln sind.
- Das Gericht hat entschieden, dass ein Blanko-Messprotokoll, welches nicht vollständig ausgefüllt oder nur mit eingescannten Unterschriften versehen ist, nicht für eine Verurteilung herangezogen werden kann.
- Die Verfahrensweise des Amtsgerichts Marburg wurde als fehlerhaft eingestuft, da es sich nicht mit den Einwendungen des Betroffenen bezüglich der Ordnungsmäßigkeit des Messprotokolls auseinandergesetzt hatte.
Messprotokoll: Garant für rechtssichere Verkehrsüberwachung
Für eine rechtssichere Geschwindigkeitskontrolle sind Messungen durch geeignete Geräte und eine akkurate Dokumentation unverzichtbar. Hierbei kommt dem Messprotokoll eine zentrale Rolle zu. Es dient als Nachweis für die ordnungsgemäße Durchführung der Geschwindigkeitsmessung und muss bestimmte formale Anforderungen erfüllen.
Das Messprotokoll belegt neben der konkreten Verkehrssituation am Messpunkt auch die sachgerechte Nutzung des Messgerätes gemäß den gesetzlichen Vorgaben. Als öffentliche Urkunde kommt dem Protokoll eine besondere Beweiskraft zu. Aus diesem Grund ist die Echtheit der Unterschriften der verantwortlichen Messbeamten von großer Bedeutung, um die Urheberschaft zweifelsfrei zu dokumentieren.
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➜ Der Fall im Detail
Die Zulässigkeit eingescannter Unterschriften auf Messprotokollen
Im Fokus des Rechtsstreits steht ein Messprotokoll, das zur Feststellung einer Geschwindigkeitsüberschreitung diente. Das Dokument trug lediglich eingescannte Unterschriften der Messbeamten.
Diese Besonderheit führte zur rechtlichen Auseinandersetzung zwischen einem Betroffenen und der Bußgeldbehörde des Regierungspräsidiums Kassel. Dem Betroffenen wurde vorgeworfen, die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 22 km/h überschritten zu haben. Gegen den daraus resultierenden Bußgeldbescheid legte der Betroffene form- und fristgerecht Einspruch ein. Der Fall eskalierte bis zum Oberlandesgericht Frankfurt, das sich mit der Frage auseinandersetzen musste, ob ein Messprotokoll mit eingescannter Unterschrift der Messbeamten rechtlich haltbar ist, um als Beweismittel in einem Bußgeldverfahren zu dienen.
Urteil des OLG Frankfurt zu digitalen Unterschriften
Das OLG Frankfurt kam zu dem Schluss, dass ein Messprotokoll, das ausschließlich eingescannte Unterschriften der Messbeamten aufweist, nicht die notwendige Beweiskraft besitzt, um die Urheberschaft der darin enthaltenen behördlichen Erklärung zweifelsfrei zu belegen. Daraus folgte, dass ein solches Dokument nicht ausreicht, um die Zeugenvernehmung des Messbeamten durch Verlesung im Gerichtsverfahren zu ersetzen. Das Gericht hob hervor, dass die eigenhändige Unterschrift der Messbeamten ein wesentlicher Bestandteil des Messprotokolls ist, der dessen Authentizität und Verlässlichkeit garantiert. Diese Entscheidung führte zur Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts Marburg und zur Rückverweisung der Sache zur neuerlichen Verhandlung.
Bedeutung der Entscheidung für die Rechtspraxis
Die Entscheidung des OLG Frankfurt stellt klar, dass die Digitalisierung von Prozessen ihre Grenzen in der Wahrung der formellen Korrektheit findet. Eingescannte Unterschriften können die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Authentizität von Beweismitteln nicht erfüllen. Dieses Urteil hat somit weitreichende Konsequenzen für die Praxis der Verkehrsüberwachung und die Beweisführung in Bußgeldverfahren. Es betont die Notwendigkeit, dass alle wesentlichen Dokumente, insbesondere solche, die als Beweismittel dienen sollen, sorgfältig und gemäß den gesetzlichen Vorgaben erstellt werden müssen.
Rechtliches Gehör und Verfahrensfehler
Der Fall illustriert auch die Bedeutung des rechtlichen Gehörs als fundamentales Prinzip des Rechtsstaats. Das OLG Frankfurt identifizierte einen Verfahrensfehler, da das Amtsgericht Marburg die Einwendungen des Betroffenen gegen das Messprotokoll nicht gebührend berücksichtigt hatte. Diese Unterlassung verletzte das rechtliche Gehör des Betroffenen und führte zur Aufhebung des ursprünglichen Urteils.
Schlussfolgerungen für die Zukunft
Die Entscheidung unterstreicht die Wichtigkeit der Einhaltung formaler Anforderungen in allen Stadien des rechtlichen Verfahrens. Sie mahnt zur Vorsicht bei der Anwendung digitaler Technologien in rechtlichen Dokumentationsprozessen und hebt die unveränderte Relevanz der menschlichen Verantwortung und Authentifizierung in rechtlichen Verfahren hervor. Die rechtliche Bewertung eingescannter Unterschriften als unzureichend für die Urheberschaftsbestätigung könnte zukünftige Diskussionen über die Digitalisierung von Verwaltungsakten und deren rechtliche Anerkennung beeinflussen.
✔ Häufige Fragen – FAQ
Warum sind eingescannte Unterschriften auf Messprotokollen problematisch?
Es gibt mehrere Gründe, warum eingescannte Unterschriften auf Messprotokollen bei Verkehrsordnungswidrigkeiten problematisch sind:
- Geringe Beweiskraft: Eine eingescannte Unterschrift hat eine sehr niedrige Beweiskraft vor Gericht. Sie kann leicht kopiert, verändert oder von Dritten missbräuchlich verwendet werden, ohne dass dies nachvollziehbar wäre.
- Keine Authentizität: Bei einer eingescannten Unterschrift lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen, ob sie tatsächlich von der angegebenen Person stammt. Es fehlen Sicherheitsmerkmale wie biometrische Daten, die die Echtheit belegen würden.
- Formvorschriften nicht erfüllt: Für Messprotokoll im Bußgeldverfahren gelten bestimmte Formvorschriften. Eine einfache eingescannte Unterschrift genügt diesen in der Regel nicht, da die Schriftform gefordert ist.
- Manipulationsgefahr: Eingescannte Signaturen in digitalen Dokumenten können nachträglich verändert oder ausgetauscht werden, ohne dass dies erkennbar wäre. Das mindert die Beweiskraft zusätzlich.
- Keine Gleichstellung mit Handunterschrift: Anders als qualifizierte elektronische Signaturen sind eingescannte Unterschriften der eigenhändigen Unterschrift nicht rechtlich gleichgestellt. Sie haben somit nicht dieselbe Rechtswirkung.
Zusammengefasst sind eingescannte Unterschriften aufgrund mangelnder Beweiskraft, fehlender Authentizität und Sicherheit sowie aufgrund von Formvorgaben kein adäquater Ersatz für handschriftliche Signaturen auf Messprotokollen und anderen Dokumenten im Bußgeldverfahren. Stattdessen sollten entweder Papierdokumente verwendet oder auf rechtssichere digitale Signaturen gesetzt werden.
Inwiefern unterscheidet sich die rechtliche Bewertung von digitalen und handschriftlichen Unterschriften?
Es gibt einige wichtige Unterschiede zwischen der rechtlichen Bewertung von digitalen und handschriftlichen Unterschriften:
- Beweiskraft: Handschriftliche Unterschriften haben generell eine höhere Beweiskraft vor Gericht als einfache digitale Signaturen wie eingescannte Unterschriften. Nur qualifizierte elektronische Signaturen (QES) sind der eigenhändigen Unterschrift rechtlich gleichgestellt.
- Fälschungssicherheit: Digitale Signaturen, vor allem QES, sind fälschungssicherer als handschriftliche Unterschriften. Sie basieren auf kryptografischen Verfahren und sind an die Identität des Unterzeichners gebunden. Handschriftliche Signaturen lassen sich leichter fälschen.
- Formvorschriften: Für bestimmte Rechtsgeschäfte wie Grundstückskäufe oder Testamente schreibt das Gesetz die handschriftliche Form zwingend vor. Hier sind digitale Signaturen ausgeschlossen. In den meisten anderen Fällen sind beide Formen aber gleichberechtigt.
- Identifizierung: Bei QES muss die Identität des Unterzeichners im Vorfeld durch eine Zertifizierungsstelle geprüft werden. Das ist bei handschriftlichen Unterschriften nicht der Fall, was die Beweiskraft mindert.
- Zeitstempel: Elektronische Signaturen enthalten einen fälschungssicheren Zeitstempel, der den genauen Zeitpunkt der Unterschrift dokumentiert. Handschriftliche Unterschriften lassen sich leichter rückdatieren.
- Ortsunabhängigkeit: Ein Vorteil digitaler Signaturen ist, dass sie ortsunabhängig geleistet werden können. Handschriftliches Unterschreiben erfordert die physische Anwesenheit bzw. den postalischen Austausch von Dokumenten.
Zusammengefasst sind qualifizierte elektronische Signaturen handschriftlichen Unterschriften rechtlich gleichgestellt und haben sogar Vorteile bei Fälschungssicherheit und Beweiskraft. Einfache digitale Signaturen rangieren dagegen unter handschriftlichen Unterschriften. In einigen Fällen ist die handschriftliche Form aber weiterhin gesetzlich vorgeschrieben.
§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO (Strafprozessordnung): Erläutert die Bedingungen, unter denen ein Schriftstück im Gerichtsverfahren verlesen werden kann. Dies ist relevant, da das Gericht ein Messprotokoll als Beweismittel durch Verlesung nutzen wollte, was bei eingescannten Unterschriften als problematisch angesehen wurde.
- Art. 103 Abs. 1 GG (Grundgesetz): Garantiert das Recht auf rechtliches Gehör. Im Kontext des Urteils wurde dieses Recht verletzt, da das Amtsgericht die Einwendungen des Betroffenen gegen das Messprotokoll nicht angemessen berücksichtigt hat.
- § 415 ZPO (Zivilprozessordnung): Regelt die Beweiskraft öffentlicher Urkunden. Da das Messprotokoll eine öffentliche Urkunde ist, deren Echtheit durch eingescannte Unterschriften infrage gestellt wurde, ist dieser Paragraph besonders relevant.
- § 80 Abs. 1 OWiG (Ordnungswidrigkeitengesetz): Bestimmt die Zulassungsvoraussetzungen für eine Rechtsbeschwerde. Im vorliegenden Fall war die Zulassung der Rechtsbeschwerde notwendig, um das Urteil des Amtsgerichts zu überprüfen.
- § 37 Abs. 3 S. 1 HVwVfG (Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz): Betrifft die Form schriftlicher Verwaltungsakte und ist relevant für die Frage, ob und inwieweit eingescannte Unterschriften einem schriftlichen Verwaltungsakt genügen.
- § 74 Abs. 1 S. 1 und S. 2 OWiG: Regelt das Abwesenheitsverfahren in Ordnungswidrigkeitenverfahren. Die fehlerhafte Anwendung dieser Vorschriften führte zur Aufhebung des Urteils und unterstreicht die Notwendigkeit der korrekten Verfahrensdurchführung.
Das vorliegende Urteil
OLG Frankfurt – Az.: 3 ORbs 289/23 – Beschluss vom 20.12.2023
Leitsatz
Ein Messprotokoll mit lediglich eingesannter Unterschrift der Messbeamten lässt die Urheberschaft der darin enthaltenen behördlichen Erklärung nicht zweifelsfrei erkennen; es ist daher nicht geeignet, die Zeugenvernehmung des Messbeamten durch Verlesung (§ 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO) zu ersetzen, um die Verkehrssituation am konkreten Messstandort, den ordnungsgemäßen Aufbau und den ordnungsgemäßen Betrieb des Messgerätes und dessen Verwendung gemäß PTB-Zulassung zu belegen.
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Marburg vom 24. Juli 2023 wird zugelassen.
Auf die Rechtsbeschwerde wird das Urteil des Amtsgerichts Marburg vom 24. Juli 2023 nebst den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Marburg zurückverwiesen.
Gründe
I.
Durch Bußgeldbescheid des Regierungspräsidiums Kassel vom 24. Februar 2023 wurde dem Betroffenen vorgeworfen, am XX.XX.2022 um 8:33 Uhr, auf der … vor der Abfahrt Stadt1a als Führer des PKW, amtliches Kennzeichen … die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften von 100 km/h (Verkehrszeichen 274 der Anlage 2 zur StVO) um 22 km/h fahrlässig überschritten zu haben. Hiergegen hat der Betroffenen form- und fristgerecht Einspruch eingelegt.
Mit dem angegriffenen Urteil vom 24. Juli 2023 hat das Amtsgericht Marburg den mehrfach wegen Geschwindigkeitsüberschreitung vorbelasteten Betroffenen sodann wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße von 200,– € verurteilt. Mit seiner Rechtsbeschwerde, deren Zulassung er wegen einer Gehörsverletzung beantragt, rügt er die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
II.
Die Rechtsbeschwerde war gemäß § 80 Abs.1 OWiG zuzulassen.
Gegen den Betroffenen ist eine Geldbuße von nicht mehr als 250,– € verhängt worden. Nach § 80 Abs.1 OWiG darf die Rechtsbeschwerde daher nur zugelassen werden, wenn es geboten ist, die Nachprüfung des angefochtenen Urteils zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen oder das Urteil wegen Versagen des rechtlichen Gehörs aufzuheben ist. Ein solcher Fall liegt hier vor, da nach Auffassung des Senats das rechtliche Gehör des Betroffenen in entscheidungserheblicher Form verletzt worden ist.
Die in zulässiger Weise ausgeführte Gehörsrüge beanstandet zu Recht, dass das Amtsgericht sich nicht mit den Einwendungen des Betroffenen hinsichtlich des in der Akte befindlichen Messprotokolls, datierend auf den 15. November 2022, auseinandergesetzt hat.
Dem liegt folgender Verfahrensgang zu Grunde:
Der mit Beschluss des Amtsgerichts vom 24. Juli 2023 von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung vom 24. Juli 2023 ordnungsgemäß entbundene Betroffene ist im Hauptverhandlungstermin am 24. Juli 2023 nicht erschienen. Auch der mit einer Vertretungs- und Verteidigungsvollmacht ausgestattete Verteidiger hat den Termin nicht wahrgenommen. Das Amtsgericht hat daher die Hauptverhandlung in Abwesenheit gemäß § 74 Abs.1 S.1 OWiG durchgeführt.
Der Betroffenen hatte zuvor mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 19. Juli 2023 Einwendungen gegen die Ordnungsgemäßheit der Messung erhoben. Insbesondere hat der Betroffene beanstandet, dass seitens der Bußgeldbehörde zunächst ein zwar von den beiden Messbeamten (OPB A, OPB B) unterschriebenes, aber nicht ausgefülltes Blankomessprotokoll (Bl. 3 d.A.) vorgelegt worden ist und erst auf Anforderung der Staatsanwaltschaft Marburg vom 29. März 2023 ein zwar ausgefülltes, auf den XX.XX.2022 datierendes Messprotokoll zur Akte gereicht worden ist, dieses aber nur eingescannte Unterschriften der beiden Messbeamten enthält (Bl. 55 d.A.). Ausweislich des am 24. Juli 2023 fertiggestellten Protokolls der Hauptverhandlung hat das Amtsgericht (u.a.) dieses Messprotokoll (Bl. 55 d.A.) zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht, verlesen und erörtert. Eine Vernehmung der Messbeamten als Zeugen ist nicht erfolgt. Sodann erging das angefochtene Sachurteil.
Diese Verfahrensweise war fehlerhaft.
Für das Abwesenheitsverfahren ist § 74 Abs.1 S.2 OWiG verpflichtend zu beachten (vgl. hierzu Göhler-Seitz/Bauer OWiG 18. Aufl. 2021 § 74 Rdnr. 11). Danach sind frühere Vernehmungen des Betroffenen und seine schriftlichen oder protokollierten Erklärungen durch Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts oder Verlesung in die Hauptverhandlung einzuführen. Dadurch wird sichergestellt, dass alle wesentlichen Erklärungen, die der Betroffene in irgendeinem Stadium des Bußgeldverfahrens zu der gegen ihn erhobenen Beschuldigung abgegeben hat, bei der Entscheidung berücksichtigt werden. Die Verlesung bzw. die Bekanntgabe gehört dabei zu den wesentlichen Förmlichkeiten i.S.d. § 274 StPO i.V.m. § 71 Abs.1 OWiG, deren Beachtung nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (BayObL NZV 1996, 211-212). Die durch einen Schriftsatz des vertretungsberechtigten Verteidigers vorgetragenen Angaben des Betroffenen können ebenfalls so bekanntgegeben und berücksichtigt werden, wenn Betroffener und Verteidigers in der Hauptverhandlung ausbleiben (vgl. hierzu Göhler-Bauer/Seitz a.a.O. § 71 Rdnr. 11 a, OLG Frankfurt NZV 1993, 281). Dies ist hier – was zutreffend gerügt wird – ausweislich des Protokoll nicht erfolgt, enthält dies doch keinen Hinweis darauf, dass sich die auf das Messprotokoll vom XX.XX.2022 beziehenden Beanstandungen des Betroffenen bzw. des vertretungsberechtigten Verteidigers zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden sind. Das Rügevorbringen erschöpft sich auch diesbezüglich – anders als dies die Generalstaatsanwaltschaft bewertet – nicht darin, lediglich die Unvollständigkeit/Unrichtigkeit des Protokolls zu rügen (unzulässige Protokollrüge), auf der das Urteil nicht beruhen kann (vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt StPO 66. Aufl. 2023 § 272 Rdnr. 30, § 344 Rdnr. 26). Die Ernsthaftigkeit des Sachvortrags, dass das Amtsgericht diese Einwendung verfahrensfehlerhaft tatsächlich nicht in die Hauptverhandlung eingeführt und bei seiner Entscheidung verfahrensfehlerhaft nicht berücksichtigt hat, wird hier durch die Formulierung im Zulassungsantrag „ausweislich des Protokolls“, welcher als bloßer Hinweis auf das geeignete Beweismittel (§ 273 Abs.1 S.1 StPO) zu verstehen ist, für den Senat im vorliegenden Einzelfall nicht in Frage gestellt (vgl. hierzu BGH StV 1997, 515-516, Rdnr.4 zitiert über Juris, OLG Hamm StraFo 1997, 210 zitiert über Juris).
Aus den durch die Erhebung der Sachrüge zugänglichen Urteilsgründen ergibt sich, dass sich das Amtsgericht Marburg mit den Einwendungen hinsichtlich des lediglich mit eingescannten Unterschriften versehenen Messprotokolls nicht auseinandergesetzt, dieses aber gleichwohl zu Lasten des Betroffenen der Verurteilung zugrunde gelegt hat, um u.a. die ordnungsgemäße Inbetriebnahme des stationären Messgerätes des Typs TRAFFIPAX TraffiStar S 330 entsprechend der gültigen Gebrauchseinweisung, die Kontrolle des Gerätes und der Beschilderung festzustellen (siehe Ziff. III Absatz 4 der Urteilsgründe).
Damit wurde das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs.1 GG) versagt, gehört das Messprotokoll doch zu den Kernbeweismitteln im standardisierten Messverfahren. In Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes darf es im Wege des Urkundenbeweises gemäß § 256 Abs.1 Nr.5 StPO verlesen werden und ermöglicht Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung. Sinnvollerweise kann so in massenhaften Ordnungswidrigkeitsverfahren die Zeugenvernehmung des Messbeamten i.d.R. ersetzt werden. Das vorliegende Messprotokoll vom 15. November 2022 war hierfür jedoch nicht geeignet.
Das Messprotokoll ist eine öffentliche Urkunde gemäß § 415 ZPO, die vollen Beweis des durch die Behörde oder Urkundsperson beurkundeten Vorgangs erbringt. Es hat nicht nur innerdienstliche Bedeutung, sondern belegt neben der Verkehrssituation am konkreten Messstandort den ordnungsgemäßen Aufbau und den ordnungsgemäßen Betrieb des Messgerätes und dessen Verwendung gemäß der PTB-Zulassung (vgl. hierzu OLG Frankfurt NStZ-RR 2020, 44-45 zitiert über Juris). Messprotokolle werden von den örtlichen Ordnungs-/Polizeibehörden im Rahmen der Überwachung des fließenden Verkehrs erstellt. Hierbei sind vorgeschriebene Messprotokolle zu fertigen. Da es sich um schriftliche Verwaltungsakte i.S.d. § 37 Abs.3 S.1 HVwVfG handelt, bedarf es einer Unterschrift des das Messprotokoll erstellenden Beamten (vgl. hierzu LG Kassel Urteil vom 2. November 2018 – 9 Ns 5633 Js 16099/13 Rdnr. 261 zitiert über Juris).
Vorliegend ist die Urheberschaft der im Messprotokoll vom XX.XX.2022 enthaltenen behördlichen Erklärungen zweifelhaft. Das zunächst dem Verfahrensvorgang beigeheftete undatierte Messprotokoll (Bl. 3 d.A.) enthält zwar Unterschriften der Messbeamten ist aber nicht ausgefüllt; erkennbar wurde hier ein äußert problematisches Blanko-Messprotokoll (!) erstellt. Das sodann auf Aufforderung der Staatsanwaltschaft Marburg vorgelegte auf den XX.XX.2022 datierte Messprotokoll ist zwar ausgefüllt; wurde aber von den Messbeamten nicht eigenhändig unterzeichnet, sondern lediglich mit eingescannten Unterschriften versehen. Das Einfügen einer solchen Scan-Datei steht in technischer Hinsicht dem Anbringen eines Schriftzuges mit Namensstempel gleich. Der einmal hergestellte Schriftzug kann beliebig oft durch eine beliebige Anzahl von Personen, die Zugang zu dieser Scan-Datei haben, auf Dokumenten angebracht werden. Wer das Messprotokoll ausgefüllt und mit den Unterschriften versehen hat, bleibt daher unklar. Auf diese Weise ist auch nicht gewährleistet, dass die namentlich benannten Messbeamten die Verantwortung für die in den Messprotokollen enthaltenen behördlichen Erklärungen übernommen haben, weil sie diese nicht eigenhändig unterschrieben haben.
Ob die im Messprotokoll vom XX.XX.2022 dokumentierten Ermittlungshandlungen tatsächlich so vorgenommen wurden, ist zwar eine Frage der allgemeinen Beweiswürdigung, von der Möglichkeit dies durch die Vernehmung der Messbeamten als Zeugen zu klären, hat das Amtsgericht indes keinen Gebrauch gemacht (vgl. hierzu die Entscheidung OLG Karlsruhe Beschluss vom 29. August 2023 – 2 Orbs 37 SS 506/23 zitiert über Juris).
Das Urteil war daher mit den dazugehörigen Feststellungen aufzuheben und die Sache zu erneuter Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Marburg zurückzuverweisen.