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Fahrerlaubnisentziehung – Punktegrenze – Kenntnisstand der Behörde

OVG Münster – Az.: 16 B 1115/21 – Beschluss vom 28.10.2021

Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Minden vom 15. Juni 2021 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf das Beschwerdevorbringen beschränkte Überprüfung des angefochtenen Beschlusses führt zu keinem für den Antragsteller günstigeren Ergebnis.

Aus dem Beschwerdevortrag ergibt sich nicht, dass die in Ziffer 1. der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 26. Januar 2021 angeordnete Fahrerlaubnisentziehung rechtswidrig ist. Die am 30. Mai 2019 vom Antragsteller begangene, mit seit 14. September 2019 rechtskräftigem Bußgeldbescheid geahndete Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h, die (erst) am 20. November 2020 im Fahreignungsregister gespeichert und vom Kraftfahrt-Bundesamt dem Antragsgegner mit Schreiben vom 27. November 2020 mitgeteilt wurde, führte im Fahreignungs-Bewertungssystem ausweislich der in der Anlage zur Ordnungsverfügung tabellarisch aufgelisteten Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamts zu einem Punktestand des Antragstellers von acht Punkten, so dass diesem nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG die Fahrerlaubnis zu entziehen war.

Der Punkt für diese am 30. Mai 2019 begangene Zuwiderhandlung, die vor der mit der am 17. November 2020 ausgestellten Verwarnung eingetretenen Punktereduzierung (§ 4 Abs. 6 Satz 3 StVG) erfolgte, erhöhte gemäß § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG den Punktestand von sieben auf acht, weil der nach Landesrecht zuständige Antragsgegner hiervon erst mit Schreiben des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 27. November 2020 Kenntnis erlangte.

Nach § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG werden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Diese Vorschrift ermöglicht die Berücksichtigung von im Fahreignungsregister eingetragenen Punkten für einen Verkehrsverstoß auch dann, wenn dieser vor dem Ergreifen einer Maßnahme begangen wurde, bei der Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnte, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie – wie vorliegend – erst später im Fahreignungsregister eingetragen oder der Behörde zur Kenntnis gelangt ist. Zudem stellt § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG ausdrücklich auf den Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde ab. Nach dieser Bestimmung erhöhen Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die nach Landesrecht zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den sich nach Satz 3 ergebenden Punktestand.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21.15 -, juris, Rn. 24; OVG NRW, Urteil vom 28. September 2017 – 16 A 980/16 -, juris, Rn. 38, 41 f.; BT-Drs. 18/2775, S. 10; Dauer, in: Hentschel/ König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 4 StVG Rn. 88a f.

Dass diese Kenntnisnahme (und die diese bewirkende Mittteilung des Kraftfahrt-Bundesamts) hier erst mehr als ein Jahr nach der am 14. September 2019 eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids und damit nach Entstehen des Punktes für den zugrunde liegenden Verkehrsverstoß (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG) erfolgte, führt zu keinem anderen Ergebnis. Insbesondere musste sich entgegen der Auffassung des Antragstellers die Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners nicht die – zum Zeitpunkt des Erlasses der Verwarnung vom 17. November 2020 gegebene – Kenntnis anderer, der Punkteeintragung „vorgelagerter“ Stellen, hier also der Bußgeldbehörde, zurechnen lassen.

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung muss die Fahrerlaubnisbehörde sich weder das Wissen, über das eine im Maßnahmensystem „vorgelagerte“ Stelle hinsichtlich weiterer Verkehrsverstöße des betroffenen Fahrerlaubnisinhabers verfügt, noch ein Verschulden dieser Stellen bei der Datenübermittlung zurechnen lassen. Eine Zurechnung von Wissen oder von Verschulden bei der Datenübermittlung liefe der Konzeption des Gesetzgebers zuwider, nach der gerade auf den Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde abgestellt werden soll. Abgesehen davon fehlt es an der erforderlichen Rechtsgrundlage für eine solche Zurechnung. Der Vollzug des Maßnahmensystems ist, wie § 4 Abs. 8 und § 28 Abs. 4 StVG sowie die Gesetzesbegründung zeigen, auf die Übermittlung der entsprechenden Daten und auf deren Kenntnisnahme beim Empfänger angelegt. Im Fahreignungs-Bewertungssystem entscheidet die Fahrerlaubnisbehörde auf der Grundlage der ihr gemäß § 4 Abs. 8 StVG vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister. Dieser Kenntnisstand ist maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG. Für die Frage, ob die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist und sich, wenn zunächst diese Maßnahme zu ergreifen ist, der Punktestand verringert (§ 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG), kann nichts anderes gelten. Eine andere Betrachtung liefe dem Ziel der Gesetzesänderung zuwider, bei einer Anhäufung von Verkehrsverstößen die Entziehung der Fahrerlaubnis auch dann zu ermöglichen, wenn der Betroffene nach der Verwarnung die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht mehr durch eine Änderung seines Verkehrsverhaltens verhindern kann.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21.15 -, juris, Rn. 25 f.

Dass das Bundesverwaltungsgericht in Rn. 26 dieses Urteils unter Bezugnahme auf den – auch vom Antragsteller zitierten – Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. April 2016 – 11 CS 16.537 – (in dem u. a. der Beschluss des Senats vom 7. Oktober 2015 – 16 B 554/15 – erwähnt ist) offen gelassen hat, ob etwas anderes gilt, wenn ein „Berufen“ der Fahrerlaubnisbehörde auf die Unkenntnis als rechtsmissbräuchlich anzusehen wäre, führt nicht zum Erfolg der Beschwerde.

Denn in dem angefochtenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt, dass keine Anhaltspunkte für einen Rechtsmissbrauch ersichtlich sind und dass nicht zu erkennen ist, dass die Verzögerung der Mitteilung nicht nur auf einem bloßen Versehen beruht.

Vgl. auch BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21.15 -, juris, Rn. 26.

Allein der Zeitablauf von ca. 14 Monaten zwischen der am 14. September 2019 eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids und der Kenntniserlangung der Fahrerlaubnisbehörde am 27. November 2020 begründet keinen Anhalt für einen (ggf. relevanten) Rechtsmissbrauch oder für den vom Antragsteller geltend gemachten Verstoß gegen das Willkürverbot.

Eine Übertragung der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG kommt insoweit nicht in Betracht. Unabhängig davon, dass der Gesetzgeber diese Frist des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts im speziellen, das Fahreignungsregister betreffenden (Verfahrens-)Recht des § 4 StVG nicht entsprechend verankert hat,

vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2020 – 16 B 854/20 -, juris, Rn. 30,

handelt es sich bei der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG um eine Entscheidungsfrist, die erst mit der Kenntnis aller relevanten Tatsachen beginnt.

Entgegen der Auffassung des Antragstellers genügt es für die Annahme von Rechtsmissbrauch bzw. des geltend gemachten Verstoßes gegen das Willkürverbot nicht, dass die Gründe für einen längeren Zeitablauf zwischen der rechtskräftigen Ahndung eines Verkehrsverstoßes und der diesbezüglichen Kenntniserlangung der Fahrerlaubnisbehörde nicht erkennbar sind. Dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Januar 2017, das nach dem Beschluss des Senats vom 7. Oktober 2015 – 16 B 554/15 -, auf den der Antragsteller verweist, erging und dem der beschließende Senat folgt, lässt sich nicht entnehmen, dass für die Annahme eines

– im Rahmen des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG etwaig relevanten – Rechtsmissbrauchs allein die Verzögerung an sich ausreichend ist, auch wenn deren Grund nicht abschließend geklärt ist.

Vgl. die Bezugnahme in BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21.15 -, juris, Rn. 26 a. E., auf Bay. VGH, Beschluss vom 28. April 2016 – 11 CS 16.537 -, juris, Rn. 13, wonach dies erfordert, dass die Verzögerung nicht nur auf einem Versehen beruht, sondern willkürlich, insbesondere mit dem Ziel, eine Punktereduzierung zu verhindern, hervorgerufen wurde.

Soweit der Senat in seinem Beschluss vom 27. April 2015 – 16 B 226/15 – noch ausgeführt hat, „Allerdings muss die Kenntnisnahme der Fahrerlaubnisbehörde von Punkten für Zuwiderhandlungen, auf die § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG n.F. abhebt, den oben bezeichneten Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Willkürfreiheit genügen“, und im folgenden Satz zur Konkretisierung u. a. allein auf den Zeitablauf zwischen der Entstehung eines Punktes und der Kenntniserlangung der Fahrerlaubnisbehörde abgestellt hat („Damit wäre es etwa nicht zu vereinbaren, wenn der zeitlich vor der Ermahnung oder Verwarnung liegende rechtskräftig geahndete Verstoß schon länger zurückliegt …“, juris, Rn. 13), worauf der Antragsteller in der Beschwerdebegründung ebenfalls hinweist, hält der Senat an dieser Auffassung nicht mehr fest.

Nach alledem kann der Antragsteller auch aus dem bereits genannten Beschluss des Senats vom 7. Oktober 2015, in dem die Frage nach den Folgen einer zeitlichen Verzögerung der Kenntniserlangung der Fahrerlaubnisbehörde im Übrigen offen blieb („Es ist daher zu erwägen, ob jedenfalls in Fällen nicht hinreichend nachvollziehbarer Verzögerungen bei der Informationsübermittlung durch die mitteilenden Stellen oder bei der Informationsverarbeitung durch die Fahrerlaubnisbehörde zugunsten betroffener Fahrerlaubnisinhaber eine entsprechende Anwendung des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG zur Vermeidung rechtsstaatswidriger Zufallsergebnisse in Betracht kommt.“, juris, Rn. 27) im Ergebnis nichts Günstiges für sich herleiten.

Dasselbe gilt hinsichtlich des in der Beschwerdebegründung ebenfalls zitierten Beschlusses des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 8. Januar 2018 – 4 Bs 94/17 -. Dort (juris, Rn. 19) heißt es, eine analoge Anwendung der Punktereduzierungsvorschriften könne allenfalls bei rechtsmissbräuchlichem Verhalten des Kraftfahrt-Bundesamtes oder der Fahrerlaubnisbehörde in Betracht kommen. Hierfür sei im Streitfall, in dem ein Versehen vorliegen dürfte, indes nichts ersichtlich.

Schließlich ist auch in den Blick zu nehmen, dass, soweit die Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG nicht nur vom Eintritt der Rechtskraft der Ahndung eines relevanten Verkehrsverstoßes abhängt, sondern auch vom Ablauf bzw. der Dauer des anschließenden Verwaltungsverfahrens, die damit verbundenen zusätzlichen Unwägbarkeiten nach höchstrichterlicher Rechtsprechung hinzunehmen sind. Dabei darf der Gesetzgeber davon ausgehen, dass die beteiligten Stellen die Erledigung ihrer gesetzlichen Aufgaben nicht verzögern, um den Fahrerlaubnisinhaber beim Vollzug des Fahreignungs-Bewertungssystems zu begünstigen oder ihm zu schaden.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21.15 -, juris, Rn. 40.

Dass bzw. weshalb hier demgegenüber bei der späten Mitteilung der Bußgeldbehörde an das Kraftfahrt-Bundesamt eine bewusste Verzögerung vorgelegen haben könnte, ist – wie ausgeführt – weder dargelegt noch offensichtlich.

Die auf die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung bezogene Rüge, es fehle hierfür eine rechtlich tragfähige Begründung, erschüttert die diesbezüglichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht. Dieses hat unter Verweis auf § 4 Abs. 9 StVG zu Recht ausgeführt, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung hinsichtlich der Fahrerlaubnisentziehung ins Leere geht. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung hinsichtlich der Verpflichtung zur Führerscheinabgabe genüge noch den rechtlichen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, weil sie zwar sehr knapp gefasst sei, der Antragsgegner sich aber des Ausnahmecharakters der sofortigen Vollziehung bewusst sei und dies in der Verfügung hinreichend zum Ausdruck gebracht habe. Der Antragsgegner hat insoweit auch auf das öffentliche Interesse an der Vermeidung eines falschen Anscheins einer Fahrberechtigung abgestellt, das die kurzfristige Abgabe und Verwahrung des Führerschein-Dokuments des Antragstellers erforderlich mache.

Vgl. auch Bay. VGH, Beschluss vom 19. Juli 2021 – 11 CS 21.1280 -, juris, Rn. 29; VG Düsseldorf, Beschluss vom 12. Mai 2021 – 6 L 608/21 -, juris, Rn. 55.

Soweit die Beschwerdebegründungsschrift abschließend pauschal auf die erstinstanzliche Antragsschrift und die Klage nebst Anlagen Bezug nimmt, ist dies prozessual unbeachtlich, weil sich dieses Vorbringen entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht mit den Gründen des (nachfolgend ergangenen) angefochtenen Beschlusses auseinandersetzt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2 sowie § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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