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Fahrerlaubnisentziehung – Gutachtensanordnung bei Diabetes und Hypertonie

Entziehung der Fahrerlaubnis wegen fehlendem Eignungsgutachten aufgehoben

Ein Gericht hat die Entziehung einer Fahrerlaubnis aufgehoben, weil die Klägerin aus finanziellen Gründen ein gefordertes Eignungsgutachten nicht vorlegen konnte. Die Fahrerlaubnis wurde ihr ursprünglich wegen bestehender Zweifel an ihrer Fahreignung aufgrund von Diabetes mellitus Typ II und Korsakow-Syndrom entzogen. Das Gericht entschied jedoch zugunsten der Klägerin, da das Fehlen finanzieller Mittel als ausreichender Grund für die Nichtvorlage eines Gutachtens angesehen wurde.

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Entzug der Fahrerlaubnis infolge bestehender Zweifel

Die Klägerin hatte ihren Führerschein seit 1976 und war in dieser Zeit nicht in Konflikt mit der Polizei gekommen. Dennoch entzog das Landratsamt ihre Fahrerlaubnis aufgrund von bestehenden Zweifeln an ihrer Fahreignung. Dabei wurde auf die Krankheiten Diabetes mellitus Typ II (Nr. 5.3) und anamnestisches Korsakow-Syndrom (Nr. 7.1) verwiesen. Das Landratsamt ging davon aus, dass die Klägerin möglicherweise ungeeignet zum Führen eines Fahrzeugs sei und verlangte die Vorlage eines ärztlichen Gutachtens. Die Klägerin konnte dieses Gutachten jedoch aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht vorlegen.

Fristgerechte Klageerhebung und Wiedereinsetzung

Das Gericht stellte fest, dass die Klage fristgerecht erhoben wurde und Wiedereinsetzungsgründe vorlagen. Obwohl der Bescheid vom 30. April 2020 von ihrem Betreuer erhalten wurde, erhielt die Klägerin diesen erst am 18. Juni 2020, als auch der Führerschein von der Polizei beschlagnahmt wurde. Die Klägerin hatte somit erst zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von dem Bescheid und konnte daher erst ab diesem Zeitpunkt Klage erheben.

Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis aufgehoben

Das Gericht entschied, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis der Klägerin nicht rechtmäßig war, da das Fehlen finanzieller Mittel einen ausreichenden Grund für die Nichtvorlage eines geforderten Eignungsgutachtens darstellt. Die Pflicht zur Abgabe des Führerscheins ergibt sich zwar aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG und § 47 Abs. 1 FeV, jedoch hat das Gericht im vorliegenden Fall zugunsten der Klägerin entschieden, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund fehlender finanzieller Mittel für die Vorlage des Gutachtens nicht gerechtfertigt ist.

Weiteres Vorgehen und Führerscheinrückgabe

Nach der Entscheidung des Gerichts wird die Fahrerlaubnis der Klägerin wiederhergestellt. Dies bedeutet, dass sie ihren Führerschein zurückerhält und weiterhin am Straßenverkehr teilnehmen darf, solange keine neuen Gründe für die Entziehung der Fahrerlaubnis vorliegen. Es ist jedoch anzumerken, dass die Klägerin möglicherweise weiterhin aufgefordert werden kann, ein Eignungsgutachten vorzulegen, wenn sich die finanziellen Verhältnisse ändern oder neue Sachverhalte dies rechtfertigen.


Das vorliegende Urteil

VG Würzburg – Az.: W 6 K 20.827 – Urteil vom 20.01.2021

I. Der Bescheid des Landratsamts Aschaffenburg vom 30. April 2020 wird aufgehoben.

II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

Die 1956 geborene Klägerin wendet sich gegen die Entziehung ihrer Fahrerlaubnis der Klasse 3 (erteilt am 11.10.1976).

1.

Mit Schreiben vom 15. August 2019 teilte der Betreuer der Klägerin, Herr Rechtsanwalt W., dem Landratsamt Aschaffenburg (künftig: Landratsamt) mit, aufgrund vorliegender Befunde sei nicht klar, ob die Klägerin noch in der Lage sei ein Fahrzeug sicher zu führen.

Daraufhin bat das Landratsamt die Klägerin mit Schreiben vom 23. August 2019 sowie vom 16. September 2019 um Vorsprache sowie Vorlage der Befunde. Hierauf entgegnete die Klägerin schriftlich, ihr lägen keine Befunde hinsichtlich ihrer Fahreignung vor.

Mit Schreiben vom 11. November 2019 übermittelte der Betreuer der Klägerin dem Landratsamt einen ärztlichen Bericht der neurologischen Praxis Dr. H. (Philippsburg) vom 5. November 2019. Darin wurden für die Klägerin die Diagnosen eines beginnenden Korsakow-Syndroms, psychischer und Verhaltensstörungen durch Alkohol, einer Gangstörung, eines Diabetes mellitus Typ II sowie einer arteriellen Hypertonie festgestellt. Therapeutisch werden eine Weiterführung der Alkoholkarenz sowie engmaschige Kontrollen der Leberwerte empfohlen. Auf den ärztlichen Bericht vom 5. November 2019 wird im Übrigen verwiesen.

Unter Bezugnahme auf den ärztlichen Bericht vom 5. November 2019 forderte das Landratsamt die Klägerin mit Schreiben vom 19. November 2019 auf, gemäß § 2 StVG in Verbindung mit § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 oder Nr. 5 FeV bis spätestens 20. Februar 2020 ein ärztliches Gutachten zu folgender Frage vorzulegen: „Ist [die Klägerin] trotz des Vorliegens mehrerer Erkrankungen (beginnendes Korsakow-Syndrom, psychische Verhaltensstörungen, Diabetes mellitus Typ II sowie arterielle Hypertonie), die nach Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung die Fahreignung infrage stellen, in der Lage den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 und 2 (Fahrerlaubnisklasse 3) gerecht zu werden?“ Auf die Möglichkeit, bei nicht rechtzeitiger Vorlage des Gutachtens auf die Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zu schließen (§ 11 Abs. 8 FeV), wurde hingewiesen. Die Gutachtensaufforderung, auf die im Übrigen verwiesen wird, wurde der Klägerin am 23. November 2019 zugestellt, dem Betreuer ein Abdruck zugeleitet.

Nachdem die Klägerin die … GmbH als Begutachtungsstelle benannte, übersandte das Landratsamt die Fahrerlaubnisakte dorthin. Die zur Verfügung gestellten Fahrerlaubnisunterlagen wurden mit Schreiben der Begutachtungsstelle vom 27. Februar 2020 dem Landratsamt zurückgesandt.

Mit Schreiben des Landratsamts vom 2. März 2020 wurde die Klägerin zur Übersendung des ärztlichen Gutachtens aufgefordert. Am 6. März 2020 teilte die Klägerin dem Landratsamt schriftlich mit, sie könne aufgrund ihrer niedrigen Rente ein ärztliches Gutachten nicht bezahlen. Mit Schreiben vom 25. März 2020 gab das Landratsamt der Klägerin Gelegenheit, zur beabsichtigten Entziehung ihrer Fahrerlaubnis Stellung zu nehmen. Die Klägerin äußerte sich hierzu mit Schreiben vom 29. März 2020 unter anderem erneut unter Hinweis auf fehlende finanzielle Mittel.

2.

Mit kostenpflichtigem Bescheid vom 30. April 2020 entzog das Landratsamt der Klägerin die Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen (Nr. 1) und forderte sie auf, den Führerschein mit der Listennummer …, erteilt vom Landratsamt Aschaffenburg am 11. Oktober 1976, unverzüglich, spätestens eine Woche nach Zustellung des Bescheids abzugeben (Nr. 2). Die sofortige Vollziehbarkeit der Nr. 1 und Nr. 2 wurde angeordnet (Nr. 3) und der Klägerin bei Nichtbeachtung der Nr. 2 des Bescheids ein Zwangsgeld in Höhe von 200,00 EUR angedroht (Nr. 4).

Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, das Landratsamt sei für die Entscheidung sachlich und örtlich zuständig. Die Zustellung sei gemäß Art. 7 Abs. 1 Satz 2 VwZVG direkt an den Betreuer als gesetzlichen Vertreter erfolgt. Die Fahrerlaubnis sei zu entziehen, wenn sich ein Fahrerlaubnisinhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 FeV). Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV sei insbesondere zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet, bei dem Erkrankungen oder Mängel nach der Anlage 4 zur FeV vorlägen, die die Fahreignung ausschließen. Würden Tatsachen bekannt, die Bedenken an der Fahreignung begründen, könne die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung der Entscheidung über die Fahreignung Aufklärungsmaßnahmen nach § 46 Abs. 3 FeV i.V.m. §§ 11 bis 14 FeV ergreifen. In § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV sei die Anordnung eines (fach-)ärztlichen Gutachtens vorgesehen, wenn Tatsachen vorlägen, die Bedenken gegen die körperliche Eignung begründen. Gemäß Nr. 4.2 (arterielle Hypertonie), Nr. 5.3 (Diabetes mellitus Typ II) und Nr. 7.1 (anamnestisches Syndrom – Korsakow-Syndrom) der Anlage 4 zur FeV sei die Fahreignung der Klägerin nach bestehender Sachlage möglicherweise ausgeschlossen und deshalb die Vorlage eines ärztlichen Gutachtens erforderlich gewesen. Hinsichtlich der aktenkundigen Erkrankungen und der Tatsache, dass bereits der Betreuer der Klägerin ihre Fahreignung in Frage gestellt habe, hätten sich die Fahreignungszweifel so erheblich verstärkt, dass eine Überprüfung der Fahreignung geboten gewesen sei. Nach Dafürhalten des Landratsamts sei nur ein Arzt einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, welcher die Anforderungen nach Anlage 14 zur FeV erfüllt, geeignet gewesen, ein entsprechendes Gutachten auszufertigen. Eine fristgerechte Vorlage des geforderten Gutachtens sei nicht erfolgt. Es dürfe deshalb von der Nichteignung der Klägerin ausgegangen werden. Das Fehlen finanzieller Mittel stelle keinen ausreichenden Grund für die Nichtvorlage eines geforderten Eignungsgutachtens dar. Die Pflicht zur Abgabe des Führerscheins ergebe sich aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG und § 47 Abs. 1 FeV. Die Androhung des Zwangsgeldes beruhe auf Art. 29, 30 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Nr. 1, 31 und 36 VwZVG. Der Bescheid wurde dem Betreuer der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis am 12. Mai 2020 zugestellt.

Nachdem der Führerschein der Klägerin nicht innerhalb der gesetzten Frist zurückgegeben wurde, stellte das Landratsamt mit Bescheid vom 25. Mai 2020 das angedrohte Zwangsgeld fällig und drohte der Klägerin die Anwendung unmittelbaren Zwangs (Einziehung des Führerscheins durch die Polizei) an. Der Führerschein der Klägerin wurde anschließend am 18. Juni 2020 im Auftrag des Landratsamts durch die Polizeiinspektion Aschaffenburg sichergestellt.

3.

Mit Schreiben vom 18. Juni 2020, bei Gericht eingegangen am 22. Juni 2020, erhob die Klägerin Klage gegen das Landratsamt wegen Entzugs ihres Führerscheins mit dem sinngemäßen Antrag, den Bescheid des Landratsamts Aschaffenburg vom 30. April 2020 aufzuheben.

Zur Begründung wurde ausgeführt, der Klägerin sei am 18. Juni 2020 unter Androhung eines Zwangsgeldes vom Landratsamt der Führerschein entzogen worden. Sie habe ein ihr zugedachtes Gutachten wegen der Kosten nicht vorlegen können. Sie besitze ihren Führerschein seit 1976 und sei in dieser Zeit mit der Polizei nicht in Konflikt gekommen.

Der Beklagte, vertreten durch das Landratsamt, beantragte die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klage sei unzulässig, da sie nicht fristgerecht erhoben worden sei und keine Wiedereinsetzungsgründe vorlägen. Der Bescheid vom 30. April 2020 sei am 12. Mai 2020 gemäß Art. 5 Abs. 4 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 VwZVG zugestellt worden. Zustellungsmängel seien nicht ersichtlich. Die Klagefrist habe deshalb am Freitag, den 13. Juni 2020 geendet. Die am 18. Juni 2020 erhobene Klage sei deshalb verspätet. Im Übrigen sei der Bescheid rechtmäßig.

Mit Schreiben des Gerichts vom 10. September 2020 wurde die Klägerin gebeten, zu der vom Beklagten vorgebrachten Verfristung der Klage Stellung zu nehmen und etwaige Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu nennen.

Die Klägerin erwiderte hierauf, ihr sei der Bescheid erst am 18. Juni 2020 zugestellt und der Führerschein von der Polizei beschlagnahmt worden. Sie habe erst da Klage erheben können.

Mit Schreiben vom 7. Oktober 2020 erklärte der Betreuer der Klägerin auf Anfrage des Gerichts, der Bescheid vom 30. April 2020 sei bei ihm am 12. Mai 2020 eingegangen. Mit Schreiben vom gleichen Tag, Postausgang am 13. Mai 2020, sei der Bescheid per Post ohne Einschreiben an die Klägerin versendet worden. Zugangsnachweise sowie Postrückläufer lägen nicht vor. Beigefügt waren der Mitteilung des Betreuers vom 7. Oktober 2020 eine Kopie des Bescheids vom 30. April 2020 samt Eingangsstempel sowie eine Ablichtung des Schreibens des Betreuers an die Klägerin vom 12. Mai 2020. Hieraus ergibt sich, dass dieses Schreiben an die Klägerin, „……“ in …… adressiert war.

4.

In der mündlichen Verhandlung erschien die Klägerin wie zuvor schriftlich angekündigt nicht. Mit der Vertreterin des Beklagten, die den schriftsätzlich angekündigten Klageantrag stellte, wurde die Sach- und Rechtslage erörtert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Behördenakte sowie das Protokoll über die mündliche Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

Über die Klage konnte trotz des Ausbleibens von Beteiligten entschieden werden, da hierauf in der Ladung zur mündlichen Verhandlung hingewiesen wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Klägerin wurde zur mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladen.

Die Klage gegen den Bescheid vom 30. April 2020 über die Entziehung der Fahrerlaubnis ist zulässig und begründet.

1.

Die von der anwaltlich nicht vertretenen Klägerin mit Schreiben vom 18. Juni 2020 ohne ausdrücklichen Antrag erhobene Klage richtet sich nach sachgerechter Auslegung des Rechtsschutzbegehrens (vgl. § 88 VwGO) lediglich gegen die mit Bescheid vom 30. April 2020 verfügte Entziehung ihrer Fahrerlaubnis.

Die Klägerin hat im vorgenannten Schreiben sowie erneut mit Schriftsatz vom 23. Juni 2020 deutlich gemacht, dass es ihr darum geht, ihren Führerschein zurückzubekommen und dass sie Klage wegen des Entzugs ihres Führerscheins erheben möchte. Diesem Rechtsschutzziel der Klägerin trägt eine Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) gegen den Entziehungsbescheid vom 30. April 2020 vollumfänglich Rechnung. Die Klage richtet sich deshalb nicht zusätzlich gegen die erneute Vollstreckungsandrohung (Bescheid vom 25.5.2020) sowie die im Auftrag des Landratsamts durchgeführte zwangsweise Sicherstellung des Führerscheins durch die Polizei. Hinsichtlich dieser Vollstreckungsmaßnahmen hat die Klägerin auch keine spezifischen Einwände vorgetragen.

2.

Die Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 30. April 2020 ist zulässig.

Die Klägerin war insbesondere prozessfähig (dazu 2.1). Zwar hat sie die Klage verfristet erhoben (dazu 2.2). Ihr war jedoch von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (dazu 2.3).

2.1

Die unter Betreuung stehende Klägerin war prozessfähig und konnte wirksam Prozesshandlungen vornehmen, insbesondere Klage erheben.

Gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO sind Personen prozessfähig, die nach bürgerlichem Recht geschäftsfähig sind. Ist wie im Fall der Klägerin für eine unter rechtlicher Betreuung stehende Person kein Einwilligungsvorbehalt (§ 1903 BGB) angeordnet, bleibt der Betreute grundsätzlich voll geschäftsfähig und mithin auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren prozessfähig.

Ferner liegt hier kein Fall des § 60 Abs. 4 VwGO i.V.m. § 53 ZPO vor. Nach § 53 ZPO geht die Prozessführung in einem vom Betreuten eingeleiteten Gerichtsverfahren in die Hände des Betreuers über, wenn dieser an Stelle des Betreuten in den Prozess eintritt. Der Betreuer der Klägerin hat das vorliegende Verfahren jedoch nicht durch entsprechende Erklärung an sich gezogen. Die bloße Abgabe von Stellungnahmen im Verfahren stellt noch kein Vertreten im Sinne des § 53 ZPO dar (OLG Frankfurt, B.v. 9.1.2014 – 5 UF 406/13 – NJW 2014, 1393).

2.2

Die Klage gegen den mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Bescheid vom 30. April 2020 wurde nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Monatsfrist erhoben, sodass sie an sich verfristet ist.

Gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist die Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zu erheben. Zwar besteht keine rechtliche Verpflichtung der Behörde zur förmlichen Zustellung eines Fahrerlaubnisentziehungsbescheids. In Ausübung des ihm zustehenden Ermessens hat sich das Landratsamt jedoch für eine Bekanntgabe des Bescheids vom 30. April 2020 in Form der Zustellung (vgl. Art. 41 Abs. 5 BayVwVfG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 VwZVG) anstelle einer „formlosen“ Bekanntgabe (vgl. Art. 41 Abs. 1 BayVwVfG) entschieden. Für den Beginn der Klagefrist des § 74 VwGO kommt es deshalb auf die rechtswirksame Zustellung des Bescheids nach den Vorschriften des VwZVG an.

Die Bekanntgabe des verfahrensgegenständlichen Bescheids erfolgte hier rechtswirksam am 12. Mai 2020 durch Zustellung an den Betreuer der Klägerin. Das Landratsamt richtete die Zustellung zutreffend an den Betreuer und nicht an die Klägerin selbst. Gemäß Art. 7 Abs. 1 Satz 2 VwZVG ist eine Zustellung bei Personen, für die ein Betreuer bestellt ist, zwingend an den Betreuer zu richten, soweit der Aufgabenkreis des Betreuers reicht. Da dieser Vorschrift keine weiteren Einschränkungen zu entnehmen sind, gilt die gesetzliche Pflicht zur Zustellung an den Betreuer, dessen Aufgabenkreis eröffnet ist, selbst dann, wenn wie hier eine nicht unter Einwilligungsvorbehalt stehende betreute Person im Verwaltungsverfahren mangels Übernahme des Verfahrens durch den Betreuer (Art. 12 Abs. 3 BayVwVfG i.V.m. § 53 ZPO) als geschäftsfähige und mithin handlungsfähige Person (Art. 12 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG) auftritt. Wenngleich also die Klägerin das Verwaltungsverfahren zur Überprüfung ihrer Fahreignung als eine nach dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht handlungsfähige Person eigenständig und ohne ihren Betreuer führen durfte, waren Zustellungen dennoch an ihren Betreuer zu richten, dessen Aufgabenkreis ausweislich des vorliegenden Betreuerausweises vom 12. August 2019 die gerichtliche und außergerichtliche Vertretung der Klägerin gegenüber Behörden umfasst.

Die Zustellung beim Betreuer erfolgte auch formgerecht. Gemäß Art. 5 Abs. 4 VwZVG kann ein Dokument gegen Empfangsbekenntnis unter anderem an Rechtsanwälte zugestellt werden. Diese Möglichkeit bestand vorliegend, da der Betreuer der Klägerin zugleich als Rechtsanwalt zugelassen ist.

Die somit an dem der Zustellung folgenden Tag (13.5.2020) anlaufende Klagefrist (vgl. § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1 BGB) endete am Freitag, den 12. Juni 2020 (vgl. § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB). Die Klageerhebung am 22. Juni 2020 war demnach nicht fristwahrend.

2.3

Der Klägerin war jedoch von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, mit der Folge, dass ihre Klage ohne Fristsäumnis erhoben wurde.

Gemäß § 60 Abs. 1 VwGO ist einem Kläger, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen und die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (§ 60 Abs. 2 Satz 1 und 2 VwGO). Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen; ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§ 60 Abs. 2 Satz 3 und 4 VwGO).

2.3.1

Die Klägerin hat einen Wiedereinsetzungsgrund hinreichend vorgetragen und glaubhaft gemacht (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO, § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 294 ZPO).

Zur Überzeugung des Gerichts besteht eine für eine Glaubhaftmachung erforderliche, aber auch ausreichende überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin wie vorgebracht erst nach Ablauf der Klagefrist am 18. Juni 2020 vom verfahrensgegenständlichen Bescheid Kenntnis erlangte und erst ab diesem Zeitpunkt Klage erheben konnte.

Auf Nachfrage des Gerichts erklärte die Klägerin schriftlich, dass sie den Bescheid vom 30. April 2020 erst am 18. Juni 2020 erhielt und erst dann Klage erheben konnte. Zwar teilte der Betreuer der Klägerin mit, dass er einen Abdruck des ihm vom Landratsamt zugestellten Entziehungsbescheids umgehend nach Erhalt am 13. Mai 2020 postalisch an die Klägerin übermitteln ließ. Es sprechen jedoch gewichtige Umstände dafür, dass die Klägerin den Brief ihres Betreuers samt Abdruck des Bescheids nicht erhalten hat und deshalb zunächst keine Kenntnis von der Entziehung ihrer Fahrerlaubnis erlangte. Denn ausweislich der vorliegenden Kopie war das Schreiben des Betreuers vom 12. Mai 2020 an die „…, ……“ anstatt richtig an die Wohnanschrift der Klägerin in der …, …… adressiert. Wenngleich nach Mitteilung des Betreuers kein Postrücklauf des Schreibens erfolgte, ist es nicht ausgeschlossen, dass das Schreiben aufgrund der Fehladressierung abhandenkam. Ein Zugangsnachweis für den ohne Einschreiben aufgegebenen Brief vom 12. Mai 2020 liegt jedenfalls nicht vor. Ferner wird der Vortrag der Klägerin, wonach sie den Bescheid vom 30. April 2020 erst am 18. Juni 2020 erhalten habe, insoweit gestützt, als das Landratsamt der mit der Sicherstellung des Führerscheins beauftragten Polizei einen Abdruck des Entziehungsbescheids übersandte (vgl. Mitteilung an die PI Aschaffenburg vom 5.6.2020, Bl. 48 der Behördenakte). Eben dieser Abdruck wurde ausweislich einer Kurzmitteilung der Polizeiinspektion Aschaffenburg (vgl. Blatt 49 der Behördenakte) der Klägerin im Zuge der Sicherstellung ihres Führerscheins am 18. Juni 2020 ausgehändigt. Bei Durchsicht der vorliegenden Behördenakte sowie auch im gerichtlichen Verfahren zeigte sich ferner, dass die Klägerin auf amtliche Mitteilungen und Anfragen durchaus zeitnah reagiert. Auch dies spricht dafür, dass die Klägerin wie vorgetragen erst am 18. Juni 2020 und nicht bereits zuvor Kenntnis vom Entziehungsbescheid erlangte, da sie auch ihre Klageschrift unmittelbar noch am 18. Juni 2020 verfasste.

2.3.2

Da überwiegendes dafürspricht, dass die Klägerin erst am 18. Juni 2020 und mithin nach Ablauf der Klagefrist Kenntnis von der Entziehung ihrer Fahrerlaubnis erlangte, war sie unverschuldet gehindert, fristgerecht gegen den Bescheid vom 30. April 2020 Klage zu erheben.

2.3.2.1

Dass unter Umständen eine fehlerhafte Adressierung bei der Weiterleitung des Bescheids vom 30. April 2020 seitens des Betreuers der Klägerin ursächlich für die Fristversäumnis war, muss sich die Klägerin nicht zu ihrem Nachteil zurechnen lassen.

Zwar ist der Betreuer gesetzlicher Vertreter des Betreuten (§ 1902 BGB) und im Prozess steht dem Verschulden eines Beteiligten das Verschulden seines gesetzlichen Vertreters gleich (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 51 Abs. 2 ZPO). Die Zurechnung setzt jedoch ein Verschulden des gesetzlichen Vertreters im Rahmen der Prozessführung voraus (vgl. Althammer in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 51 Rn. 18 f.). Ausweislich des Begleitschreibens vom 12. Mai 2020 wollte der Betreuer indes den Bescheid zuleiten, damit die Klägerin ihren Führerschein fristgerecht abgibt und die Verfahrenskosten begleicht. Die vom Betreuer veranlasste Weiterleitung des Entziehungsbescheids diente mithin nicht der Ermöglichung einer fristwahrenden Klageerhebung durch die Klägerin, sondern sollte sicherstellen, dass diese die Anordnungen des Landratsamts erfüllt. Die wohl misslungene Weiterleitung des Bescheids erfolgte somit als Teil der dem Betreuer obliegenden Pflicht zur Amtsfürsorge (§ 1901 Abs. 1 BGB) und nicht im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Klageerhebung. Das Versäumnis des Betreuers bei der Adressierung erfolgte außerhalb einer prozesseinleitenden Verfahrenshandlung und ist der Klägerin schon deshalb nicht als Prozessverschulden zuzurechnen.

2.3.2.2

Darüber hinaus muss es sich die Klägerin im Rahmen der Wiedereinsetzung nicht zurechnen lassen, dass zumindest ihr Betreuer nicht verhindert gewesen wäre, den Bescheid vom 30. April 2020 innerhalb der Klagefrist im Namen der Klägerin anzufechten (anders im Fall einer Amtsvormundschaft BVerwG, B.v. 13.08.1990 – 7 B 106.90OVG – juris).

Zu berücksichtigen ist insoweit die sog. Doppelkompetenz als dem Betreuungsrecht sowie den darauf bezogenen Prozessvorschriften zugrundeliegende Besonderheit (dazu etwa Schmidt-Recla in BeckOGK, Stand: 1.10.2020, § 1902 BGB Rn. 21): Die rechtliche Betreuung wirkt sich nach den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften grundsätzlich nicht auf die Geschäftsfähigkeit der betreuten Person aus. Der Betreute bleibt selbstständig handlungsfähig, es sei denn, dass er im Augenblick der Vornahme des Rechtsgeschäfts auf dem betreffenden Gebiet geschäftsunfähig ist (§ 104 Nr. 2 BGB) oder dass ein Einwilligungsvorbehalt (§ 1903 BGB) angeordnet ist und das Geschäft in den Vorbehaltsbereich fällt (Schneider in MüKo-BGB, 8. Aufl. 2020, § 1902 BGB Rn. 7). Auch die in § 1902 BGB vorgesehene gesetzliche Vertretung des Betreuers verdrängt die eigene Handlungsfähigkeit des Betreuten nicht. Hieran anknüpfend gilt im Verwaltungsprozess: Soweit kein Einwilligungsvorbehalt gemäß § 1903 BGB angeordnet wurde und ein Betreuter nicht nach § 104 BGB geschäftsunfähig ist, kommt die Stellung eines Betreuers als gesetzlicher Vertreter des Betreuten (§ 1902 BGB) im gerichtlichen Verfahren nur dann zur Geltung, wenn der Betreuer den Prozess für den Betreuten übernimmt (§ 62 Abs. 4 VwGO i.V.m. § 53 ZPO). Erst infolge des Ansichziehens des Verfahrens wird die Prozessführung auf den Betreuer übertragen und der Betreute einer geschäftsunfähigen und damit prozessunfähigen Partei gleichgestellt (Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 62 Rn. 13). Aus dieser eigenständigen Rechtsposition, die dem nicht unter Einwilligungsvorbehalt stehenden Betreuten im Verwaltungsprozess bis zu einer Übernahme des Verfahrens durch den Betreuer zugestandenen wird, muss konsequenterweise folgen, dass einem Betreuten, der wie hier ohne eigenes Verschulden gehindert war fristwahrend Klage zu erheben, im Rahmen einer Wiedereinsetzung nicht entgegengehalten werden kann, dass jedenfalls der Betreuer als sein gesetzlicher Vertreter in der Lage gewesen wäre, den Bescheid rechtzeitig anzufechten.

2.3.3

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 2 Satz 3 und 4 VwGO ist keine Ermessensentscheidung, vielmehr handelt es sich um eine Ermächtigung, nach der bei Vorliegen der Voraussetzungen auch ohne Antrag Wiedereinsetzung zu gewähren ist, der ein entsprechender Anspruch des Betroffenen korrespondiert (BVerwG, U.v. 16.05.2007 – 3 C 25/06 – BeckRS 2007, 24392 Rn. 13).

Die Klägerin holte die Klageerhebung als versäumte Rechtshandlung am 22. Juni 2020 und somit innerhalb der zweiwöchigen Antragsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO nach. Ihr war deshalb auch ohne ausdrücklichen Antrag von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 60 Abs. 2 Satz 3 und 4 VwGO).

3.

Die zulässige Klage ist begründet, da der Entziehungsbescheid vom 30. April 2020 rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

3.1

Die in Nr. 1 des Bescheids vom 30. April 2020 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis erfolgte rechtwidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Das ist insbesondere der Fall, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die Eignung des Fahrerlaubnisinhabers zum Führen von Kraftfahrzeugen begründen, finden gemäß § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung. Wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Entziehung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens durch den Bewerber anordnen.

Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. etwa BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – NJW 2017, 1765 Rn. 17 m.w.N.) ist eine solche von der Fahrerlaubnisbehörde an den Betroffenen gerichtete Anordnung, ein Fahreignungsgutachten beizubringen, nicht selbstständig rechtlich anfechtbar; sie ist kein Verwaltungsakt, sondern nur eine der eigentlichen Entscheidung vorausgehende und diese vorbereitende Maßnahme zur Sachverhaltsaufklärung. Die Rechtmäßigkeit einer Beibringensaufforderung wird jedoch inzident gerichtlich überprüft, wenn der Betroffene ihr nicht Folge leistet und die Fahrerlaubnisbehörde deshalb von dessen mangelnder Fahreignung ausgeht und die Fahrerlaubnis entzieht (§ 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV).

Gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV darf die Fahrerlaubnisbehörde auf die Nichteignung schließen, wenn sich der Betroffene weigert, sich untersuchen zu lassen, oder das von der Fahrerlaubnisbehörde geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt. Der Schluss auf die Nichteignung ist jedoch nur zulässig, wenn die Anordnung der Untersuchung rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (st.Rspr., vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – NJW 2017, 1765 Rn. 17 m.w.N.; BayVGH, B.v. 28.12.2020 – 11 CS 20.2067 – BeckRS 2020, 38192 Rn. 13).

Vorliegend erweist sich die dem Bescheid vom 30. April 2020 zugrundeliegende Anordnung zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens vom 19. November 2020 in formeller (dazu 3.1.1) wie auch in materieller Hinsicht (dazu 3.1.2) als rechtswidrig, sodass aus der Nichtvorlage des geforderten Gutachtens nicht auf die Nichteignung der Klägerin geschlossen werden durfte (dazu 3.1.3).

3.1.1

Die Gutachtensanordnung vom 19. November 2020 genügt bereits nicht den formellen Anforderungen.

3.1.1.1

An die Rechtmäßigkeit der Gutachtensaufforderung sind zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes formal strenge Maßstäbe anzulegen, weil der Betroffene die Gutachtensaufforderung mangels Verwaltungsaktsqualität nicht direkt, sondern lediglich im Zusammenhang mit der Entziehung der Fahrerlaubnis anfechten kann (s.o.). Der Betroffene muss der Anordnung etwa entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist und ob das dort Mitgeteilte die behördlichen Zweifel an der Fahreignung rechtfertigt (BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – NJW 2017, 1765 Rn. 21). Davon hängt es ab, ob sich der Betroffene dieser Aufforderung verweigern kann, ohne befürchten zu müssen, dass ihm die Fahrerlaubnisbehörde bei nicht fristgerechter Vorlage des Gutachtens unter Berufung auf § 11 Abs. 8 FeV seine Fahrerlaubnis entziehen muss.

Nach § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV bestimmt die Fahrerlaubnisbehörde in der Beibringungsaufforderung u.a. auch, von wem das Fahreignungsgutachten zu erstellen ist. Die Fahrerlaubnisbehörde hat hiernach das Recht, die Gutachtergruppe der in § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 – 5 FeV genannten Stellen auszuwählen, innerhalb derer der Betroffene eine Auswahl treffen kann. Die Regelung des § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV gibt den Fahrerlaubnisbehörden mithin die Befugnis, dem Pflichtigen verbindlich vorzugeben, von welcher der in dieser Bestimmung aufgeführten Gattung von Ärzten ein beizubringendes Gutachten erstellt werden muss (vgl. BayVGH, B.v. 29.11.2012 – 11 CS 12.2276 – BeckRS 2013, 45300 Rn. 12). Diese Auswahl hat die Fahrerlaubnisbehörde in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Falles zu treffen.

3.1.1.2

Diesen Maßstäben wird die Gutachtensanordnung vom 19. November 2019 nicht gerecht, weil sie nicht hinreichend erkennen lässt, in welcher Weise die Behörde von der ihr in § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV zukommenden Befugnis zur Bestimmung der Art des beizubringenden ärztlichen Gutachtens Gebrauch gemacht hat.

Aus der Nichtbefolgung einer behördlichen Anordnung können für den Adressaten nur dann negative Schlüsse gezogen werden, wenn ihm hinreichend klargeworden ist, welches Verhalten von ihm gefordert wird. Die hinreichende Bestimmtheit setzt die Angabe der Art des beizubringenden Gutachtens voraus. Insoweit wird aus der verfahrensgegenständlichen Gutachtensanordnung zunächst unzweifelhaft erkennbar, dass das Landratsamt mit Blick auf Bedenken gegen die körperliche Eignung der Klägerin die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV anordnete.

Soweit die Fahrerlaubnisbehörde wie hier die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnet, erfordert die hinreichende Bestimmtheit der Anordnung jedoch zusätzlich die genaue Angabe der von der Fahrerlaubnisbehörde bestimmten Gutachtergruppe im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 – 5 FeV. Daran fehlt es hier. Denn zunächst heißt es in der Gutachtensanordnung vom 19. November 2019 (Seite 1 unten), man sei in Anbetracht der Erkrankungen der Klägerin gehalten, „ein neurologisches, kardiologisches sowie diabetologisches Gutachten zu fordern“, wobei „der untersuchende Arzt“ die verkehrsmedizinische Qualifikation besitzen und nicht zugleich der behandelnde Arzt sein soll. Dies deutet zunächst darauf hin, dass von der Klägerin die Vorlage dreier ärztlicher Gutachten verschiedener Fachrichtungen eines Facharztes mit verkehrsmedizinischer Qualifikation gefordert werden sollte. Die für diese Gutachtergruppe einschlägige Vorschrift des § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV wird auch zitiert (S. 2 oben), wobei aber nunmehr offenbar nur noch von einem beizubringenden Gutachten ausgegangen wird, da es dort heißt, „die Vorlage des fachärztlichen Gutachtens wird hiermit gemäß […] angeordnet“. Auch weitere Ausführungen der Anordnung deuten abweichend darauf hin, dass nur ein (fach-)ärztliches Gutachten vorzulegen ist. Etwa heißt es mit Blick auf die Fristsetzung, „das ärztliche Gutachten“ sei bis spätestens 20. Februar 2020 vorzulegen. Mithin lässt die insoweit widersprüchliche Anordnung bereits nicht sicher erkennen, ob von der Klägerin nun mehrere Gutachten oder lediglich ein einziges ärztliches Gutachten eines Facharztes mit verkehrsmedizinischer Qualifikation gefordert wurde.

Ferner deuten weitere Hinweise des Landratsamts in der Anordnung darauf hin, dass die Behörde stattdessen von der Pflicht zur Vorlage eines Gutachtens eines Arztes einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, der die Anforderungen nach Anlage 14 erfüllt (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV), ausgegangen ist. So wird der Klägerin auf Seite 1 bzw. beginnend auf Seite 2 der Begutachtungsanordnung, nachdem von ihr ein (bzw. mehrere) Gutachten eines Arztes mit verkehrsmedizinischer Qualifikation gefordert wurde, die Vorlage eines Gutachtens eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung empfohlen, um innerhalb eines Untersuchungstermins „alle Fachbereiche abdecken“ zu können. Auch die für diese Gutachtergruppe einschlägige Rechtsgrundlage des § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV wird im nachfolgenden Satz zitiert. Die Klägerin wird ferner auf Seite 2 der Anordnung gebeten, auf einer beiliegenden Erklärung die zu beauftragende Untersuchungsstelle anzugeben und ihr wird die nächstgelegene amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung mit dem Hinweis benannt, die Klägerin könne das Gutachten auch von jeder anderen amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung durchführen lassen. Ferner findet sich der Hinweis, dass die Unterlagen nach Eingang der Erklärung an die gewünschte Begutachtungsstelle übersendet werden. Darauf, dass von der Klägerin ein Gutachten eines Arztes einer Begutachtungsstelle für Fahreignung gefordert werden sollte, deuten schließlich auch die Ausführungen in der Begründung des Bescheids vom 30. April 2020 hin, wo ausgeführt wird, nach Dafürhalten des Landratsamts sei nur ein Arzt einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, welcher die Anforderungen nach Anlage 14 zur FeV erfüllt, geeignet gewesen, ein entsprechendes Gutachten auszufertigen. All dies lässt es möglich erscheinen, dass die Klägerin anstelle oder statt des (bzw. der) Gutachten eines Arztes mit verkehrsmedizinischer Qualifikation im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV ein Gutachten eines Arztes in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung vorlegen sollte.

Das Gericht sieht sich nach Vorstehendem weder bei einer unbefangenen Betrachtung des bloßen Wortlauts noch einer Auslegung der Ausführungen in der Lage, der Gutachtensanordnung vom 19. November 2019 mit Gewissheit zu entnehmen, ob nun ein (oder mehrere) ärztliche Gutachten gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV bzw. ob stattdessen oder alternativ hierzu nur ein Gutachten im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV vorzulegen war, sodass dies auch nicht von der Klägerin erwartet werden konnte. Das Landratsamt hat die Tatbestände des § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV und des § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV in einer Weise miteinander vermischt, dass nicht mehr hinreichend klar ist, welches oder welche Gutachten von der Klägerin konkret gefordert wurden. Der in der FeV angelegte Mechanismus zwischen nicht selbstständig anfechtbarer Gutachtenanforderung und dem Schluss auf die fehlende Eignung bei Nichtbeibringung des geforderten Gutachtens auf der Grundlage von § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV lässt jedoch keine Unklarheiten im dargestellten Sinne zu mit der Folge, dass sich die Anordnung als formell rechtsfehlerhaft darstellt.

3.1.1.3

Unter der Annahme, dass von der Klägerin die Vorlage mehrerer ärztlicher Gutachten in Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV gefordert werden sollte (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 4 FeV), fehlt es im Übrigen auch an der genauen Angabe der Fachrichtung der zu beauftragenden Ärzte.

Soweit eine Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens gem. § 11 Abs. 3 Nr. 1 FeV anordnet, erfordert die hinreichende Bestimmtheit der Anordnung grundsätzlich die genaue Angabe der Fachrichtung des Arztes, bei dem die gebotene Untersuchung erfolgen kann (vgl. etwa OVG Magdeburg, B.v. 16. 4. 2012 − 3 M 527/11 – NJW 2012, 2604 mit Verweis auf OVG NW, B.v. 4. 9. 2000 – 19 B 1134/00 – NZV 2001, 95). Nur in diesem Fall kann der Betroffene angesichts der Vielzahl denkbarer fachärztlicher Untersuchungen erkennen, welche Untersuchung von ihm gefordert wird, um die aus Sicht der Fahrerlaubnisbehörde bestehenden Zweifel an seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen auszuräumen.

Die Angabe in der Anordnung vom 19. November 2019, dass ein neurologisches, kardiologisches sowie diabetologisches Gutachten gefordert werde, genügt jedoch nicht der Bestimmtheit, da es an einer konkreten Bezugnahme auf die aus Sicht des Landratsamts aufzuklärenden vier möglichen Erkrankungen (Korsakow-Syndrom, psychische Verhaltensstörungen, Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie) fehlt und sich eine solche Zuordnung für jemanden, der über keine medizinischen Kenntnisse verfügt, auch nicht ohne weiteres erschließen muss.

3.1.1.4

Sofern man schließlich davon ausgeht, dass es dem Willen der Fahrerlaubnisbehörde entsprach, der Klägerin selbst die Wahl der Gutachtergruppe zu überantworten – worauf etwa die Zitation („§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 oder 5 FeV“) sowie die „Empfehlung“ zur Beibringung eines Gutachtens einer anerkannten Begutachtungsstelle in der Anordnung vom 19. November 2019 hindeuten – läge eine im gerichtlichen Verfahren gemäß § 114 Satz 1 VwGO justiziable Ermessensüberschreitung vor.

Die Regelung des § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV gibt den Fahrerlaubnisbehörden die Befugnis, in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens dem Pflichtigen verbindlich vorzugeben, von welcher der in dieser Bestimmung aufgeführten Gattung von Ärzten ein beizubringendes Gutachten erstellt werden muss (BayVGH, B.v. 29.11.2012 – 11 CS 12.2276 – BeckRS 2013, 45300 Rn. 12). Dem liegt erkennbar der Gedanke zugrunde, dass die mit der Sachmaterie im Allgemeinen sowie dem konkreten Fall vertraute Fahrerlaubnisbehörde im Sinne einer effektiven Verfahrensgestaltung selbst am besten beurteilen kann, mit welchem der in § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 – 5 FeV vorgesehenen ärztlichen Gutachten die von ihr gehegten Fahreignungszweifel einer best- und schnellstmöglichen Klärung zugeführt werden können. Dass diese vom Verordnungsgeber mit guten Gründen der Behörde zugewiesene Entscheidung nicht in gleicher Weise vom Fahrerlaubnisinhaber selbst getroffen werden kann, dem lediglich ein Wahlrecht innerhalb der festgelegte Gutachtergruppe hinsichtlich des konkret von ihm zu beauftragenden Gutachters zukommt (vgl. § 11 Abs. 6 Satz 5 FeV), liegt auf der Hand. Die Regelung des § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV umfasst daher kein dahingehendes Anordnungsermessen, wonach die Behörde die Bestimmung der Art des ärztlichen Gutachtens dem Betroffenen selbst überlassen kann.

Geht man davon aus, dass das Landratsamt in der verfahrensgegenständlichen Gutachtensanordnung der Klägerin die Wahl der Art des beizubringenden ärztlichen Gutachtens überlassen wollte, läge daher eine Ermessensüberschreitung vor.

3.1.2

Die Gutachtensanordnung vom 19. November 2020 genügt auch nicht den materiellen Anforderungen des § 11 Abs. 2 Satz 1 und 2 i.V.m. § 11 Abs. 6 Satz 1 und 2 FeV.

Wie sich aus den Vorgaben des § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV und § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV ableiten lässt, sind Bedenken an der Eignung eines Fahrerlaubnisinhabers nur insoweit näher aufzuklären, als der Fahrerlaubnisbehörde konkrete Tatsachen bekannt geworden sind, die nachvollziehbar den Verdacht rechtfertigen, bei dem Betroffenen könne eine Ungeeignetheit oder einschränkte Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs vorliegen (Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 11 FeV Rn. 23 m.w.N.). Nicht erforderlich ist zwar, dass Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV bereits feststehen. Allerdings darf die Beibringung des Gutachtens nur aufgrund konkreter Tatsachen und nicht auf einen bloßen Verdacht „ins Blaue hinein“ bzw. auf Mutmaßungen, Werturteile, Behauptungen oder dergleichen hin verlangt werden (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – NJW 2002, 78; BayVGH, B.v. 3.11.2020 – 11 CS 20.1469 – BeckRS 2020, 30346 Rn. 22). Ob die der Behörde vorliegenden Tatsachen für eine die Grenzen der Anlassbezogenheit und Verhältnismäßigkeit wahrende Anordnung ausreichen, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen (BayVGH, B.v. 9.10.2018 – 11 CS 18.1897 – BeckRS 2018, 24987 Rn. 13).

Keinen rechtlichen Bedenken begegnen vor diesem Hintergrund die Fahreignungszweifel des Landratsamts, soweit unter Bezugnahme auf den ärztlichen Bericht vom 5. November 2019 die verkehrsmedizinische Begutachtung eines etwaigen Korsakow-Syndroms sowie psychischer Verhaltensstörungen für notwendig erachtet wurde (dazu 3.1.2.1). Soweit das Landratsamt ein ärztliches Gutachten zur Frage anordnete, ob die Klägerin im Zusammenhang mit Diabetes mellitus sowie arterieller Hypertonie fahrungeeignet ist, sind die Grenzen der Verhältnismäßigkeit dagegen überschritten (dazu 3.1.2.2).

3.1.2.1

Das Krankheitsbild organischer Psychosen ist in Nr. 7.1 der Anlage 4 zur FeV geregelt. Die Nr. 7.1.1 der Anlage 4 zur FeV verneint für organische Psychosen im Falle eines akuten Zustands die Fahreignung für beide Gruppen ausnahmslos. Gemäß Nr. 7.1.2 der Anlage 4 wird die Fahreignung für beide Gruppen nach Abklingen des akuten Zustandes jeweils abhängig von der Art und Prognose des Grundleidens bejaht, wenn bei positiver Beurteilung des Grundleidens keine Restsymptome bestehen und kein Fall der Nr. 7.2 („chronische hirnorganische Psychosyndrome“) vorliegt. Die Ausführungen in Nr. 3.12.1 („organisch-psychische Störungen“) der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Stand: 31.12.2019, Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit Heft M 115, anwendbar gemäß Anlage 4a zu § 11 Abs. 5 FeV) erfassen das Korsakow-Syndrom als eine organische Psychose, die bei einem akuten Leiden zu der zwingenden Beurteilung führt, dass der Betroffene nicht in der Lage ist, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen gerecht zu werden (vgl. auch VG Augsburg, B.v. 25.8.2020 – Au 7 S 19.1962 – juris Rn. 44).

Vorliegend besteht hinreichender Anlass für Bedenken, dass die Klägerin möglicherweise aufgrund eines Korsakow-Syndroms nicht mehr zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist. Der Fahrerlaubnisbehörde liegt ein ärztlicher Bericht des behandelnden Neurologen Dr. H. (Phillipsburg) vom 5. November 2019 vor. Darin gelangt der Arzt auf Grundlage einer eigenen Untersuchung der Klägerin sowie Angaben der Angehörigen zur Einschätzung, dass er bei der Klägerin „durchaus an ein beginnendes Korsakow-Syndrom denken“ würde. Da sich der Neurologe erkennbar noch nicht festlegen wollte, ergibt sich zwar daraus noch nicht mit hinreichender Sicherheit ein feststehendes akutes Korsakow-Syndrom und mithin die Annahme einer zwingenden Nichteignung der Klägerin nach Nr. 7.1.1 der Anlage 4 zur FeV. Da die Feststellung eines möglicherweise bei der Klägerin beginnenden Korsakow-Syndroms im Attest vom 5. November 2019 auf einer vorausgehenden Untersuchung und Beurteilung der neurologischen Verfassung der Klägerin durch einen disziplinär einschlägigen Facharzt beruhte, bestehen jedoch gewichtige Verdachtsmomente, dass bei der Klägerin eine Erkrankung nach Nr. 7.1.1 der Anlage 4 zur FeV gegeben sein könnte, die bei einem akuten Vorliegen die Fahreignung zwingend ausschließt. Mithin war es anlassbezogen und auch verhältnismäßig, die insoweit bestehenden Fahreignungszweifel durch ein ärztliches Gutachten im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV näher aufklären zu lassen.

Entsprechendes gilt für die Begutachtungsfrage in der Anordnung vom 19. November 2019 hinsichtlich „psychische[r] Verhaltensstörungen“. Im Zusammenhang mit einer Alkoholproblematik können sich psychische Verhaltensstörungen etwa in Form einer alkoholmissbrauchsbedingten affektiven oder schizophrenen Psychose (Nr. 7.5 bzw. 7.6 Anlage 4 zur FeV) ausdrücken, die unter Umständen die Fahreignung ausschließen können (vgl. Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, a.a.O., S. 48). Im neurologischen Bericht vom 5. November 2019 wurden der Klägerin „psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol“ diagnostiziert. Im Rahmen der Anamnese wird hierzu u.a. angegeben, dass die Klägerin nach Angaben der Angehörigen über 30 Jahre eine Alkoholkrankheit aufweise; 1998 und 2003 seien Langzeittherapien erfolgt, bis Januar 2016 sei sie trocken gewesen, zuletzt eine Flasche Wein pro Tag“; seit einem Krankenhausaufenthalt vor einer Woche sei sie abstinent. Nach ärztlicher Einschätzung stehe danach eine Verhaltensänderung auf dem Boden einer Alkoholanamnese im Vordergrund, die der Tochter der Klägerin, die diese schon länger kenne, deutlicher auffalle als dem behandelnden Arzt.

Die auf die Aufklärung weiterer psychischer Störungen im Sinne der Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV abzielende Begutachtungsfrage in der Anordnung vom 19. November 2019 war demnach vor dem Hintergrund der bei der Klägerin möglicherweise gegebenen, jedenfalls erst kurz zurückliegenden Alkoholproblematik anlassbezogen und letztlich auch verhältnismäßig, da nach dem ärztlichen Bericht vom 5. November 2019 durchaus gewisse Hinweise darauf bestanden, dass bei der Klägerin neben einem etwaigen Korsakow-Syndrom auch weitere alkoholbedingte psychische Erkrankungen vorliegen könnten, die die Fahreignung in Zweifel stellen können. Die offen gehaltene Fragestellung ist dabei auch vom Umfang her nicht zu beanstanden, da es von der Fahrerlaubnisbehörde mangels eigenem medizinischem Sachverstand nicht zwingend erwartet werden kann, sich im Rahmen der Fragestellung bereits abschließend auf eine oder mehrere aufzuklärende psychische Erkrankungen im Sinne der Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV festzulegen.

3.1.2.2

Demgegenüber überschreitet die Anordnung vom 19. November 2019 die Grenzen der Verhältnismäßigkeit, soweit von der Klägerin im Zusammenhang mit Diabetes mellitus Typ II sowie arterieller Hypertonie die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens gefordert wurde.

Zu den Erkrankungen und Mängeln, die die Fahreignung beeinträchtigen können, zählen zwar u.a. auch Hypertonie (Nr. 4.2 der Anlage 4 zur FeV) und Diabetes mellitus (Nr. 5 der Anlage 4 zur FeV). Alleine die bloße Nennung der (Fremd-)Diagnose eines bei der Klägerin vorliegenden Diabetes mellitus Typ II sowie einer arteriellen Hypertonie im ärztlichen Gutachten vom 5. November 2019 kann auch eine Tatsache im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 2 FeV sein, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Nr. 5 bzw. Nr. 4.2. der Anlage 4 hinweist.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann jedoch bei Krankheiten, die wie Diabetes mellitus sowie Hypertonie in einer Mehrzahl oder Vielzahl der Fälle keine Fahrungeeignetheit zur Folge haben, eine Vorabklärung hinsichtlich Art und Schwere der Erkrankung gebieten (vgl. BayVGH, B.v. 3.11.2020 – 11 CS 20.1469 – BeckRS 2020, 30346 Rn. 22; B.v. 9.10.2018 – 11 CS 18.1809 – BeckRS 2018, 25000 Rn. 13; anders etwa im hier nicht gegebenen Fall eines Fahrerlaubnisinhabers, der mit den diagnostizierten Erkrankungen einer arteriellen Hypertonie und eines Diabetes mellitus einen Verkehrsunfall verursacht, BayVGH B.v. 28.4.2020 – 11 CS 19.2189 – BeckRS 2020, 9475 Rn. 18). So kann die Fahrerlaubnisbehörde vor der Aufforderung zu einer Begutachtung gehalten sein, sich anderweitig um Kenntnisse über Tatsachen zu bemühen, die ausreichende Anhaltspunkte dafür begründen können, dass eine Ungeeignetheit vorliegen könnte. Solche Tatsachen können vom Betroffenen erfragt werden, wobei auch Gelegenheit gegeben werden kann, ärztliche Bescheinigungen wie z.B. Laborergebnisse und Atteste der behandelnden Ärzte vorzulegen. Eine derartige Vorabklärung hat dabei nichts damit zu tun, dass der das Gutachten erstellende Arzt nicht zugleich der den Betroffenen behandelnde Arzt sein soll (§ 11 Abs. 2 Satz 5 FeV). Denn die Auskünfte des Betroffenen und der behandelnden Ärzte stellen keine gutachterliche Beurteilung dar, sondern sind nur Grundlage für die Entscheidung, ob die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens einer in § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV genannten Stelle notwendig ist (vgl. BayVGH, B.v. 3.11.2020 – 11 CS 20.1469 – BeckRS 2020, 30346 Rn. 22; B.v. 5.10.2020 – 11 CS 20.1203 – juris Rn. 21; B.v. 9.10.2018 – 11 CS 18.1809 – juris Rn. 13; B.v. 3.5.2017 – 11 CS 17.312 – juris Rn. 19 ff.).

Bei Diabetes mellitus ohne Komplikationen und medikamentöser Therapie ist in der Regel die Fahreignung zu bejahen (Anlage 4 Nr. 5.1 bis 5.6 zur FeV). Gut eingestellte und geschulte Menschen mit Diabetes können Fahrzeuge beider Gruppen sicher führen (Nr. 3.5 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, a.a.O.). Hypertonie (zu hoher Blutdruck) führt nur bei zerebraler Symptomatik und/oder Sehstörungen automatisch zur Fahrungeeignetheit (Anlage 4 Nr. 4.2.1 zur FeV). Ansonsten ist erst ab Blutdruckwerten über 180 mmHg systolisch und/oder 110 mmHg diastolisch eine fachärztliche Untersuchung erforderlich (Nr. 4.2.2 Anlage 4 zur FeV; vgl. auch Nr. 3.4.2 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, a.a.O.).

Mit Blick hierauf lagen vorliegend keine ausreichenden Erkenntnisse vor, die ohne weitere Vorabaufklärungsmaßnahmen die Anordnung zur Beibringung eines ärztlichen Fahreignungsgutachtens bezüglich Hypertonie und Diabetes mellitus gerechtfertigt hätten. Bei der dem ärztlichen Bericht des Neurologen Dr. H vom 5. November 2019 zugrundeliegenden Untersuchung handelte es sich ausschließlich um eine neurologische Abklärung. Wie die Ausführungen zur Anamnese zeigen, handelt es sich bei den dort aufgeführten Diagnosen hinsichtlich Diabetes mellitus Typ II und arterieller Hypertonie um fremdanamnestisch festgestellte Erkrankungen. Entsprechend der Zielrichtung der durchgeführten neurologischen Untersuchung enthält der ärztliche Bericht des insoweit auch fachfremden Neurologen weder Näheres zu einer Befunderhebung hinsichtlich Diabetes mellitus sowie arterieller Hypertonie, noch werden diese Erkrankungen im Rahmen der ärztlichen Beurteilung gewürdigt. Hinsichtlich Diabetes findet sich nur die Information, dass keine Behandlung mit Insulin erfolge und der HbA1-Wert nicht bekannt sei. Bezüglich des Bluthochdrucks findet sich lediglich die Angabe, dass ein Hypertonus bekannt ist. Alleine daraus ergeben sich jedoch noch keine greifbaren Anhaltspunkte, dass bei der Klägerin die Erkrankungen Diabetes mellitus sowie Bluthochdruck eine nach der Anlage 4 zur FeV fahreignungsausschließende Ausprägung haben könnten. Die nur vagen Informationen im Bericht vom 5. November 2019 boten daher noch keine tragfähigen Hinweise, die sogleich die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens rechtfertigen. Stattdessen hätte es dem Landratsamt vor der Entscheidung, ob auch insoweit ein (für die Klägerin mit weiteren Kosten) verbundenes ärztliches Gutachten anzuordnen ist, oblegen, die Klägerin zunächst zu diesen Erkrankungen zu befragen und von ihr ggf. Bescheinigungen der sie aufgrund Bluthochdruck sowie Diabetes behandelnden Ärzte anzufordern (vgl. auch BayVGH, B.v. 9.10.2018 – 11 CS 18.1809 – BeckRS 2018, 25000 Rn. 15).

3.1.3

Die aufgezeigten Mängel machen die gesamte Gutachtensaufforderung vom 19. November 2019 rechtswidrig. Denn besteht eine Gutachtensanordnung wie hier aus mehreren Teilen, so infiziert die Fehlerhaftigkeit eines Teils regelmäßig auch den anderen Teil. Die Sanktion des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV setzt grundsätzlich eine vollständig rechtmäßige Gutachtensanordnung voraus (vgl. BayVGH, B.v. 4.2.2013 – 11 CS 13.22 – VD 2013, 128; VGH BW, B.v. 30.6.2011 – 10 S 2785/10 – NJW 2011, 3257). Denn die Gutachtensanordnung ist regelmäßig unteilbar. Das Landratsamt hat – ohne Abstriche zu machen oder zu differenzieren – die Klägerin ausdrücklich gemäß § 11 Abs. 8 FeV darauf hingewiesen, dass es auf die Nichteignung schließen dürfe, wenn sich die Klägerin nicht untersuchen lässt bzw. das geforderte (also auch vollständige) Gutachten nicht fristgerecht vorlegen sollte (vgl. BayVGH, B.v. 4.2.2013 – 11 CS 13.22 – VD 2013, 138). Hinzu kommt vorliegend, dass nicht einmal eindeutig ist, ob von der Klägerin ein oder mehrere Gutachten gefordert waren sowie der Umstand, dass die Klägerin – nachdem sie sich hinsichtlich der Kosten der geforderten Untersuchung bei der nächstgelegenen Begutachtungsstelle kundig machte – letztlich nur aufgrund fehlender finanzieller Mittel von der geforderten Begutachtung absah. Es ist aber nicht auszuschließen, dass ein im rechtmäßigen Umfang gefordertes ärztliches Gutachten ohne diabetologischen und kardiologischen Teil für die Klägerin bezahlbar gewesen wäre. Dies spricht ebenfalls im Sinne des effektiven Rechtsschutzes sowie vor dem Hintergrund, dass der Klägerin gestützt auf § 11 Abs. 8 FeV die Fahrererlaubnis ohne Einschränkungen entzogen wurde, für die Annahme der Unteilbarkeit und vollständigen Rechtswidrigkeit der Begutachtungsaufforderung. Auf die Frage, ob die unter Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 Satz 2 VwZVG erfolgte Zustellung der Gutachtensaufforderung an die Klägerin durch die Zuleitung eines Abdruckes an den Betreuer gemäß Art. 9 VwZVG geheilt werden konnte, kam es vorliegend nicht mehr an.

Nach alledem durfte das Landratsamt aufgrund der Nichtbeibringung des bzw. der geforderten Gutachten nicht gemäß § 11 Abs. 8 FeV auf die Nichteignung der Klägerin schließen. Vielmehr sind die Gutachtensaufforderung vom 19. November 2019 und damit der sich darauf stützende Entziehungsbescheid vom 30. April 2020 rechtswidrig und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt.

3.2

Die Rechtswidrigkeitsfolge erstreckt sich auch auf die Anforderung, den Führerschein abzuliefern (Nr. 2 des Bescheids), die Zwangsmittelandrohung (Nr. 4 des Bescheids) sowie die Kostenentscheidung (Nr. 5 und 6 des Bescheids).

4.

Der Klage war daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

Beschluss:

Der Streitwert wird auf 12.500,00 EUR festgesetzt.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 1 GKG. i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 46.2, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (st.Rspr., vgl. BayVGH, B.v. 15.12.2014 – 11 CS 14.2202 – juris Rn. 7).

 

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