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Bildung einer Rettungsgasse auf einer dreispurigen Landstraße

Im Rahmen der vorliegenden Entscheidung, verhandelt und gesprochen im Juli 2020 durch das Amtsgericht Tübingen, wird der Fall eines Autofahrers beleuchtet, der wegen fahrlässigen Überholens bei unklarer Verkehrslage zu einer Geldbuße von EUR 150 verurteilt wurde. Dabei wird die Komplexität des Sachverhalts sowie die rechtlichen Aspekte des Verkehrsunfalls und die damit verbundenen Straßenverkehrsregelungen in Frage gestellt.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 16 OWi 18 Js 11514/20 >>>

Überholmanöver an der Unfallstelle

Durch einen vorausgegangenen Unfall wurde eine Straße blockiert und ein Rückstau bildete sich. Der angeklagte Autofahrer überholte jedoch trotz der unklaren Lage ein vor ihm fahrendes Fahrzeug und konnte seinen Überholvorgang nicht mehr beenden. Um Rettungs- und Abschleppfahrzeugen den Zugang zum Unfallort zu ermöglichen, wurden sämtliche Fahrer angewiesen, sich rechts einzufädeln. Der Angeklagte allerdings setzte seinen Weg auf der linken Spur fort und parkte letztlich in der Mitte der Fahrbahn, sodass Rettungsfahrzeugen die Durchfahrt verwehrt blieb.

Mangelnde Sorgfalt und verkehrsrechtliche Verstöße

Das Gericht stellte eine Fahrlässigkeit des Betroffenen fest. Laut Gericht hätte sich der Angeklagte vergegenwärtigen müssen, dass ein erfolgreiches Ende seines Überholvorgangs auf der kurvigen Straße wahrscheinlich nicht möglich ist, da auch diese Spur wegen des Unfalls blockiert sein könnte. Sorgsam agierende Fahrzeugführer hätten dies in Erwägung gezogen und auf ein Überholen verzichtet. Die Handlung des Betroffenen resultierte in einer Blockade für Rettungsfahrzeuge und einer abstrakten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer.

Überzeugung des Gerichts und Gerichtsentscheid

In dem Gerichtsurteil wurde festgehalten, dass es in dem konkreten Fall zwei Verkehrsschilder gab, die den Unfallort kennzeichneten. Der Richter war der Auffassung, dass die Stau bildenden Fahrer die Verkehrslage richtig eingeschätzt hatten und infolgedessen ihre Autos auf der rechten Fahrspur positionierten. Der Betroffene allerdings setzte sein Überholmanöver fort und ignorierte die vorgeschriebenen Regeln. Trotz seiner Fahrlässigkeit und fahrlässigen Missachtung der Rechtsvorschriften, stand eine strafrechtliche Verurteilung nach Ansicht des Gerichts nicht im Raum.

Schlusswort zum Bußgeldverfahren

In Anbetracht der finanziellen Verhältnisse des Betroffenen sowie des Grads seiner fahrlässigen Missachtung der Verkehrsregeln, wurde im Verfahren ein Bußgeld von EUR 150 als angemessen erachtet. Diese Urteilsfindung stellt eine klare Nachricht in den Raum: dass das eigenmächtige Nutzen einer durch einen Unfall verengten Straße nicht toleriert wird und entsprechende Strafen nach sich zieht.


Das vorliegende Urteil

AG Tübingen – Az.: 16 OWi 18 Js 11514/20 – Urteil vom 29.07.2020

1. Der Betroffene wird wegen fahrlässigen Überholens bei unklarer Verkehrslage zu einer Geldbuße von 150,- Euro verurteilt.

2. Der Betroffene trägt die Kosten des Verfahrens.

Angewendete Vorschriften: §§ 5 Abs. 3 Nr. 1, 49 Abs. 1 Nr. 3 StVO, 24 StVG.

Gründe

I.

Bildung einer Rettungsgasse auf einer dreispurigen Landstraße
Fahrlässiges Überholen trifft auf Justiz: Geldbuße für blockierte Rettungsgasse während Unfall. (Symbolfoto: Stefan Weis/Shutterstock.com)

Der Betroffene wurde 1995 in S. geboren. Er ist ledig und lebt in W. Er ist Dachdecker und Spenglermeister. In diesem Beruf arbeitet er. Sein Arbeitgeber hat seinen Sitz in H. Der Betroffene verdient netto etwa …,- Euro im Monat je nach Einsatz. Er hat keine Schulden.

Seit seinem 18. Lebensjahr verfügt der Betroffene über eine Fahrerlaubnis. Er hält einen PKW VW …, Kennzeichen …. Er legt im Jahr zwischen 40.000 und 50.000 Kilometern im Fahrzeug zurück.

Verkehrsrechtlich ist er nicht vorgeahndet.

II.

Am 28. Januar 2020 fuhr der Betroffene abends mit seinem PKW aus T., wo er ein Fitneßcenter besucht hatte, nach Hause. Er wählte die ehemalige B 27, jetzt L 1208 über B. und D. in Fahrtrichtung S.

Die Strecke ist grundsätzlich zweispurig ausgebaut. Zwischen B. und D. ist sie jedoch in einem kurvigen Teilstück dreispurig bis zur Kreisgrenze „K.“ ausgebaut. Bis in die 1990er Jahre hatte dieser Streckenabschnitt zwei Fahrspuren je Fahrtrichtung; die Fahrtrichtungen waren durch Markierung und graue Nägel getrennt. Wegen zahlreicher Unfälle ließ die Straßenbaubehörde eine Mitteltrennung durch Betonbausteine errichten. Infolgedessen entfiel eine Fahrspur in Richtung T.; Richtung S. hat die Fahrbahn weiterhin zwei Fahrstreifen. Die Fahrbahn Richtung S. wird links durch die Betonbausteine und rechts durch eine Leitplanke begrenzt, es gibt keinen Seitenstreifen.

Wegen Glätte hatten sich am 28. Januar 2020 gegen 22 Uhr an einer Brücke in einer Linkskurve mehrere Verkehrsunfälle ereignet. Der Zeuge M. war als Streifenbeamter mit der Aufnahme eines der Unfälle beschäftigt.

Infolge der Unfälle und der Straßenbausituation konnten die Fahrzeuge in Fahrtrichtung S. die blockierte Straße nicht passieren, weshalb sich vor der Unfallstelle ein Rückstau bildete. Um den Unfallort für Einsatz- und Abschleppfahrzeuge zugänglich zu halten, wies der Zeuge M. alle Fahrzeugführer an, sich auf die rechte Fahrspur zu begeben. Er dirigierte etwa zwanzig Fahrzeuge auf die rechte Spur, danach wurde das Anhalten auf der rechten Spur nach seiner Aussage ein „Selbstläufer“. Der Zeuge M. lief regelmäßig an das von der Unfallstelle wegen des kurvigen Straßenverlaufs nicht mehr einzusehende Stauende. Alle Fahrzeuge standen auf der rechten Spur. Der Zeuge M. verfügte über ein mobiles Verkehrszeichen (“allgemeine Gefahrenstelle“ und „Unfall“), das er regelmäßig verschob, bis es immer wieder etwa 100 Meter vor dem letzten Fahrzeug stand. Bereits nach dem Ortsausgang B., etwa zwei Kilometer vor der Unfallstelle, wies ein weiteres mobiles Gefahrenschild auf „Glätte“ hin.

Als der Betroffene gegen 23.15 Uhr mit seinem Fahrzeug B. in Richtung S. verließ, nahm er nach dem Ortsausgang ein Warnschild wahr, das seiner Auffassung nach vor einem Unfall warnte. Er fuhr zunächst auf der noch zweispurigen Straße weiter und schloß auf ein anderes Fahrzeug auf. Als nach etwa einem Kilometer der dreispurige Ausbau begann, entschloß sich der Betroffene, das vorausfahrende Fahrzeug zu überholen. Dabei konnte er die benötigte Strecke zum Überholen wegen der Kurvenführung nicht einsehen. Er ging aber davon aus, daß jemand das vorangegangene Verkehrszeichen vergessen hätte. Während des Überholvorgangs mußte allerdings das überholte Fahrzeug anhalten, weil dessen Fahrzeugführer mittlerweile das Stauende erreicht hatte. Der Betroffene seinerseits wußte nicht recht was tun und fuhr auf der linken Spur bis zur Unfallstelle weiter. Schon bei Einleiten des Überholvorgangs hätte ihm aber bewußt sein müssen, daß er den Überholvorgang auf der kurvigen Straße möglicherweise nicht würde abschließen können, da auch die Überholspur wegen eines Verkehrsunfalls unpassierbar sein konnte. Als sorgfältiger Fahrzeugführer hätte der Betroffene dies in Betracht ziehen und auf ein Überholen verzichten müssen.

An der Unfallstelle angekommen, unterzog ihn der Zeuge M. einer Kontrolle. Er maß die Spurbreite und stellte fest, daß der Betroffene mit seinem Fahrzeug von seiner Position aus noch maximal 60 Zentimeter nach links an den Fahrbahnteiler aus Beton heranfahren konnte und zu den Fahrzeugen auf der rechten Spur 100 Zentimeter Abstand waren. Selbst wenn der Betroffene ganz am linken Rand der Fahrbahn zum Anhalten gekommen wäre, wäre es Rettungsfahrzeugen nicht möglich gewesen, auf der 160 Zentimeter breiten Rettungsgasse zum Unfallort vorzudringen.

Nachdem der Betroffene die Unfallstelle erreicht hatte, dauerte es noch etwa 15 bis 20 Minuten, ehe die Fahrzeuge geborgen waren und die Strecke wieder passiert werden konnte.

Das Landratsamt T. erließ gegen den Betroffenen einen Bußgeldbescheid über 200,- Euro, weil er keine Rettungsgasse gebildet habe. Dagegen hat der Betroffene form- und fristgerecht Einspruch erhoben.

III.

Dieser Sachverhalt steht zur Überzeugung des Gerichts nach der Beweisaufnahme fest.

Das Gericht hat den Betroffenen angehört, nach § 249 StPO i. V. m. § 71 OWiG den Auszug aus dem Fahreignungsregister verlesen und den Zeugen M. vernommen.

Die Feststellungen zur Person beruhen auf den glaubhaften Angaben des Betroffenen in der Hauptverhandlung. Ergänzend hat das Gericht festgestellt, daß im Fahreignungsregister keine Einträge vorhanden waren.

Die Feststellungen zur Tat beruhen auf den Angaben des Betroffenen und des Zeugen M. Das Gericht konnte den Angaben des Zeugen M. folgen. Sie waren nachvollziehbar und erlebnisgetragen. Dasselbe gilt für die Angaben des Betroffenen. Diese weichen lediglich in einem Punkt von den Angaben des Zeugen ab.

Dies betrifft die Beschilderung. Hier folgt das Gericht den Angaben des Zeugen.

Der Betroffene gab an, nur ein Warnschild wahrgenommen zu haben, und zwar nach dem Ortsausgang B. An ein zweites Warnschild konnte er sich nicht erinnern.

Der Zeuge M. gab dagegen an, daß zwei mobile Verkehrszeichen aufgestellt gewesen seien, eines nach dem Ortsausgang B. und eines etwa 100 Meter vor dem letzten Fahrzeug. Das Gericht ist davon überzeugt, daß es tatsächlich zwei Verkehrszeichen gab. Der Zeuge schilderte nämlich, daß er mehrfach zum Stauende vorgegangen und das Schild dann versetzt habe. Dies kann zur Überzeugung des Gerichts nur für das zweite Schild, das sich innerhalb des dreispurigen Straßenabschnitts befand, gelten. Die Unfallstelle war nämlich mehrere Kilometer vom Ortsausgang B. entfernt. Der Vorsitzende kennt die Strecke selbst. Er ist diese Strecke öfter während seines Studiums 1993-1998 gefahren, zumal er zunächst in B. gewohnt hat, weil es auch damals schon nur wenig Wohnraum für Studenten in T. gab. Der Vorsitzende hat deshalb auch mitbekommen, wie die ursprünglich vierspurige Strecke durch die Ertüchtigung der Fahrbahnteilung in eine dreispurige Straße umgewandelt wurde. Schließlich kennt er sogar die Brücke, an der sich der Unfall ereignete, da er hier selbst einmal im Winter leicht gerutscht, aber glücklicherweise auf der Fahrbahn geblieben ist. Deshalb ist es für den Vorsitzenden ausgeschlossen, daß der Zeuge vom Unfallort nachts im S. an einer unbeleuchteten Landstraße mehrere Kilometer bis in den nächsten Ort zurückläuft, bloß um ein Verkehrszeichen zu verschieben. Vielmehr ist es plausibel, daß dieses Zeichen noch im Bereich des mehrspurigen Ausbaus stand. Nach den Schilderungen des Betroffenen und des Zeugen ist es wahrscheinlich, daß der Betroffene das Verkehrszeichen nicht wahrgenommen hat, weil er ein anderes Fahrzeug überholte. Es handelte sich um ein Faltdreieck, das der Zeuge rechts der Fahrbahn auf den Boden gestellt hatte. Dieses mag der Betroffene bei einem Überholvorgang übersehen haben.

IV.

1.)

Der Betroffene hat allerdings nicht, wie im Bußgeldbescheid vorgeworfen, gegen § 11 Abs. 2 StVO verstoßen.

Dieser sieht vor:

„Sobald Fahrzeuge auf Autobahnen sowie auf Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen für eine Richtung mit Schrittgeschwindigkeit fahren oder sich die Fahrzeuge im Stillstand befinden, müssen diese Fahrzeuge für die Durchfahrt von Polizei- und Hilfsfahrzeugen zwischen dem äußerst linken und dem unmittelbar rechts daneben liegenden Fahrstreifen für eine Richtung eine freie Gasse bilden.“

a)

Die beschriebene Straße erfüllt die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 StVO. Sie ist eine „Außerortsstraße mit mindestens zwei Fahrstreifen für eine Richtung“. Der dreispurige Fahrbahnabschnitt im S. befindet sich außerhalb einer geschlossenen Ortschaft und weist in Fahrtrichtung des Betroffenen zwei Fahrstreifen auf.

Es ist nach Ansicht des Gerichts nicht Voraussetzung, daß auch auf der Gegenfahrbahn zwei Fahrstreifen vorhanden sind. Die Vorschrift spricht nicht von zwei Fahrstreifen „je“ Richtung, sondern „für eine“ Richtung. Dies kann dem Wortlaut nach auch dreispurige Straßen umfassen. Der Sinn der Vorschrift liegt gerade darin, Unglücksstellen für Rettungsfahrzeuge zugänglich zu machen oder zu halten. Dieser Bedarf hängt aber nicht von der Menge der Fahrstreifen in der entgegengesetzten Richtung ab.

b)

Ob die Bildung der Gasse zu dem Erfolg führt, daß dann auch tatsächlich Rettungsfahrzeuge durchfahren können, ist zur Überzeugung des Gerichts zur Feststellung des Tatbestands nicht erforderlich. Zwar konnte im vorliegenden Fall nach den Maßen des Zeugen M. eine Gasse von maximal 160 Zentimeter Breite gebildet werden, die nicht von mehrspurigen Fahrzeugen durchfahren werden konnte. Es ist aber möglich, daß die Rettungsdienste gerade deshalb mit einspurigen Fahrzeugen wie etwa Motorrädern den Unfallort ansteuern. Eine Rettungsgasse von 160 Zentimetern Breite ist daher immer noch besser als gar keine.

c)

Allerdings setzt die Vorschrift aus Sicht des Gerichts weiter voraus, daß der Verkehr auf allen Fahrstreifen stockt. Nur dann können die Fahrzeugführer eine „Gasse“ bilden. Dies geschieht, indem die Kraftfahrer vom Beginn des Hindernisses in der Mitte durch Ausweichen nach rechts und links eine Gasse bilden (König, in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. München 2016, § 11, Rn 9). § 11 Abs. 2 StVO trifft eine Regelung dazu, wie sich die Kraftfahrzeugführer auf einem Fahrstreifen bei Stau zu positionieren haben.

Ist dagegen ein Fahrstreifen frei, entfällt bei logischer Betrachtung die Möglichkeit, überhaupt eine „Gasse“ zu bilden. Auf einem freien Fahrstreifen ist kein Fahrzeug, dessen Fahrer ausweichen kann.

§ 11 Abs. 2 StVO führt umgekehrt nicht zu einem Verbot, einen freien Fahrstreifen zu nutzen. Die Nutzung der Fahrstreifen ist in § 2 StVO geregelt. Soll ein Fahrstreifen ganz von der Nutzung gesperrt werden, ist dies durch entsprechende Hinweistafeln anzuzeigen, etwa entsprechend Zeichen 223.3, 531 oder 616 StVO. Derartige Hinweise bestanden aber vorliegend nicht.

d)

Der Betroffene kam allerdings nicht ganz links zum Stehen, sondern ließ zum linken Fahrbahnrand noch einen Abstand von 60 Zentimetern.

Der Verstoß gegen § 11 Abs. 2 StVO setzt aber aus Sicht des Gerichts weiterhin eine gewisse zeitliche Komponente des Stillstands oder der Schrittgeschwindigkeit voraus. Die Vorschrift gilt zwar, „sobald“ Fahrzeuge Schrittgeschwindigkeit fahren, gleichwohl muß dem jeweiligen Fahrzeugführer zugebilligt werden, sich noch auf die Verkehrslage einzustellen und dann den Rand anzusteuern.

Vorliegend unterzog der Zeuge M. den Betroffenen jedoch umgehend einer Kontrolle. Das Gericht konnte nicht feststellen, ob der Betroffene eine Endposition gefunden hatte, in der er auf die weitere Durchfahrt warten wollte, oder sich noch im Unklaren war, wie er sich überhaupt zu verhalten habe. Das Bilden einer Gasse setzt aber auch voraus, daß sich der Verkehrsteilnehmer über die Situation im Klaren ist und erkennt, daß er ausweichen muß. Das Gericht kann sich hiervon nicht restlos überzeugen, weil der Zeuge den Betroffenen alsbald nach Erreichen der Unfallstelle kontrollierte. Jedenfalls vor dem Betroffenen fuhr auch kein Fahrzeug in Schrittgeschwindigkeit, so daß der Betroffene daraus eine Reaktionsaufforderung hätte ableiten können.

Damit kann das Verhalten nicht nach § 11 Abs. 2 StVO geahndet werden.

2.)

Das Verhalten des Betroffenen verstieß aber gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO.

Auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts hat das Gericht gemäß § 265 StPO vor und in der Hauptverhandlung hingewiesen.

Nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ist das Überholen bei unklarer Verkehrslage unzulässig.

a)

Der Betroffene befand sich, als er zum Überholen des vor ihm fahrenden Fahrzeugs ansetzte, in einer unklaren Verkehrslage. Die Verkehrslage ist unklar, wenn nach allen Umständen mit gefahrlosem Überholen nicht gerechnet werden darf (KG, Beschluß vom 21. Januar 2010 – 12 U 50/09 – NZV 2010, 506). Unklar ist die Verkehrslage grundsätzlich auch auf einer Autobahn nach dem Warnschild „Unfall“, weil die Unfallstelle auch den Überholstreifen einbeziehen kann (König a. a. O., § 5, Rn 34). Dasselbe muß dann erst recht für eine schmalere, kurvige Landstraße gelten.

Im vorliegenden Fall gab es genug objektive Umstände, die ein gefahrloses Überholen ausschlossen. Objektiv waren die Verkehrsteilnehmer durch zwei mobile Hinweisschilder vorgewarnt. Das letzte Hinweisschild stand etwa 100 Meter hinter dem letzten Fahrzeug der Warteschlange. Die Straße ist kurvig, eine Weitsicht nicht möglich. Die wartenden Fahrzeuge waren von der Position des Betroffenen beim Ansetzen zum Überholen noch nicht zu erkennen. Die vorangehenden Fahrzeugführer hatten die Verkehrslage erfaßt und sich eingereiht. Der Führer des vor dem Betroffenen fahrenden Fahrzeugs näherte sich mit mäßiger Geschwindigkeit der Unfallstelle (sonst hätte der Betroffene keinen Grund gehabt, ihn zu überholen).

b)

Der Betroffene handelte fahrlässig.

Er hätte erkennen können, daß die Verkehrslage beim Ansetzen des Überholens unklar war.

Der Betroffene hat zumindest ein Verkehrszeichen wahrgenommen und war darauf vorbereitet, daß ein Unfall passiert sein konnte. Er schloß auf ein vorsichtiger fahrendes Fahrzeug auf. Er konnte bei Beginn des Überholvorgangs aufgrund des möglichen Unfalls nicht absehen, ob er diesen beenden könnte – was tatsächlich nach seiner eigenen Angabe ja auch nicht möglich war. Er hätte angesichts der Vorwarnung auch mit weiteren mobilen Verkehrszeichen auf der rechten Fahrbahnseite rechnen müssen. Alle diese Indizien müssen von einem verantwortungsbewußten Kraftfahrer dahin gewertet werden, daß ein sorgloser Abschluß des Überholvorgangs nicht möglich war, weshalb das Überholen unterbleiben muß.

V.

Die Verwaltungsbehörde hat sich entschlossen, den Verstoß zu ahnden. Das ist nicht zu beanstanden. Auch das Gericht hält eine Ahndung für geboten.

Als Rechtsfolge für den Verstoß sieht § 24 StVG eine Geldbuße bis 2.000,- Euro vor.

Der Bußgeldkatalog sieht in Ziffer 19 eine Regelbuße von 100,- Euro vor.

Das Gericht ist hiervon zu Lasten des Betroffenen abgewichen. Denn das Verhalten des Betroffenen führte zu einer zumindest abstrakten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer und der Blockade von Rettungsfahrzeugen.

Außerdem war das Verhalten des Betroffenen geeignet, einen „Mitzieheffekt“ begründen, so daß weitere Fahrzeuge aus der Warteschlange ausscheren und die linke Spur zum schnelleren Vorwärtskommen bis an die Unfallstelle nutzen könnten.

In Anbetracht dessen erscheint im vorliegenden Fall ein Bußgeld von 150,- Euro angemessen. Die finanziellen Verhältnisse des Betroffenen erlauben ihm, diese Geldbuße zu zahlen.

VI.

Als Verurteilter trägt der Betroffene die Kosten des Verfahrens, §§ 46 OWiG, 465 StPO.

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