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Alkohol am Steuer: BGH klärt Beweislast bei relativer Fahruntüchtigkeit

Tödlicher Unfall trotz Alkoholwert unter der „magischen“ 1,1 Promille-Grenze – wie beweist man in solchen Fällen Fahruntüchtigkeit? Kann ein einzelner, schwerer Fahrfehler als alleiniger Beleg dafür dienen, wenn typische Ausfallerscheinungen fehlen? Der Bundesgerichtshof hat diese heikle Frage anhand eines dramatischen Falls nun eindeutig geklärt.
Schwerer Verkehrsunfall mit Todesfolge: Der BGH hatte über eine alkoholbedingte Fahrtüchtigkeit zu entscheiden, gemäß §§ 315c oder 316 StGB
Das BGH-Urteil zeigt, dass relative Fahruntüchtigkeit bei Alkohol am Steuer nicht allein durch Fahrfehler belegt werden kann | Symbolbild: KI generiertes Bild

Das Wichtigste: Kurz & knapp

  • Das wichtigste Ergebnis: Ein schwerer Fahrfehler allein reicht nicht aus, um jemanden wegen Alkohol am Steuer strafrechtlich zu verurteilen, wenn keine weiteren Anzeichen für eine Beeinträchtigung vorliegen. Gerichte müssen alle Umstände genau prüfen und dürfen nicht vorschnell von Alkohol auf Fahruntüchtigkeit schließen.
  • Wer ist betroffen? Personen, die mit einem Blutalkoholwert zwischen 0,3 und 1,1 Promille fahren und denen vorgeworfen wird, sie seien trotz geringen Alkoholeinflusses fahruntüchtig gewesen.
  • Praktische Konsequenzen: Bei dieser sogenannten „relativen Fahruntüchtigkeit“ reicht der Alkoholwert allein nicht aus. Die Gerichte müssen auch andere Beweise wie Fahrfehler, körperliche Anzeichen oder Zeugenaussagen genau prüfen. Betroffene können sich besser verteidigen, wenn keine typischen Ausfallerscheinungen vorliegen. Auch muss jede andere mögliche Ursache des Fahrfehlers geprüft werden.
  • Hintergrund: Der Bundesgerichtshof hat in einem Fall entschieden, dass ein Gericht den Alkoholeinfluss nicht allein aus einem Fahrfehler und einem Alkoholwert unter 1,1 Promille annehmen darf. Erkennende Anzeichen, wie kein Schwanken oder Lallen, sprechen gegen eine Fahruntüchtigkeit.
  • Zeitlicher Rahmen: Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist vom 26. Februar 2025 und gilt für alle zukünftigen Verfahren mit ähnlichen Fällen der relativen Fahruntüchtigkeit.

Quelle: Bundesgerichtshof (BGH), Beschluss Az.: 4 StR 526/24 vom 26. Februar 2025

Alkohol am Steuer: Wann ein Fahrfehler allein nicht für eine Verurteilung reicht – Ein wegweisendes BGH-Urteil analysiert

Ein lauer Abend, ein paar Drinks, dann die Heimfahrt. Was harmlos beginnt, kann tragisch enden – und juristisch komplex werden. Besonders heikel wird es, wenn Alkohol im Spiel ist, aber die gemessene Konzentration noch unter der Grenze liegt, ab der ein Fahrer automatisch als „absolut fahruntüchtig“ gilt. Genau hier setzt ein aktueller Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) an, der für viele Betroffene, Anwälte und Gerichte von großer Bedeutung ist. Es geht um die sogenannte relative Fahruntüchtigkeit – ein Zustand, der oft schwer nachzuweisen ist und bei dem Fehler schnell passieren können, wie der Fall von Herrn K. zeigt.

Der BGH musste klären: Reicht ein schwerer Fahrfehler, wie massives Rasen in einer Kurve, aus, um einen Fahrer trotz relativ niedriger Blutalkoholkonzentration (BAK) und fehlender typischer Ausfallerscheinungen wegen Trunkenheit im Verkehr zu verurteilen? Die Antwort der obersten deutschen Strafrichter fiel überraschend klar aus und rüttelt an manch vorschneller Schlussfolgerung.

Die fatale Nacht des Herrn K.: Ein Unfall mit weitreichenden Folgen

Stellen wir uns Herrn K. vor. Es ist Nacht, er ist mit seinem Auto auf einer ihm unbekannten Landstraße unterwegs. Am Abend zuvor hatte er Alkohol getrunken. Eine spätere Blutprobe wird ergeben, dass seine BAK zur Tatzeit irgendwo zwischen 0,72 Promille und 1,35 Promille lag – ein Wert, der noch unter der magischen Grenze von 1,1 Promille für die absolute Fahruntüchtigkeit liegen kann. Zusätzlich hatte er einige Tage zuvor Marihuana konsumiert, was zu einer geringen THC-Konzentration im Blut führte.

Herr K. fährt zu einer Freundin. Ortskenntnis hat er keine. In einer Rechtskurve, die auf 50 km/h begrenzt ist, passiert es: Mit deutlich über 80 km/h verliert er die Kontrolle über sein Fahrzeug. Er gerät ins Schleudern, kommt auf die Gegenfahrbahn – und erfasst einen Fußgänger. Der Mann erleidet tödliche Verletzungen.

Herr K. bemerkt den Aufprall, er weiß, dass er einen Menschen getroffen hat. Doch statt anzuhalten und Hilfe zu leisten, fährt er weiter. Sein Motiv: die Vertuschung seiner Beteiligung, insbesondere seiner Alkoholisierung. Er nimmt dabei in Kauf, dass das Opfer vielleicht noch leben könnte, ohne Hilfe aber sterben würde – ein Gedanke, der später zu einer Anklage wegen versuchten Mordes führen wird.

Als die Polizei Herrn K. später stellt, ergibt sich ein widersprüchliches Bild: einerseits der schwere Fahrfehler und die Alkoholisierung. Andererseits stellen die Beamten keine typischen alkoholbedingten Ausfallerscheinungen fest. Kein Lallen, kein Schwanken. Auch ein hinzugezogener psychiatrischer Sachverständiger kommt zu einem bemerkenswerten Schluss: Aufgrund der erhaltenen Koordinationsfähigkeit des Herrn K. habe der Alkohol keine relevante Auswirkung auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit gehabt.

Genau diese Diskrepanz – schwerer Fahrfehler versus fehlende sonstige Ausfallerscheinungen – bildet den Kern des Problems, mit dem sich später die Gerichte befassen müssen.

Das erste Urteil: Fahrfehler als Beweis für Trunkenheit?

Das zuständige Landgericht sah die Sache zunächst klarer. Es verurteilte Herrn K. wegen mehrerer Delikte:

  1. Fahrlässige Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs durch Fahren trotz alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit (§ 222 StGB, § 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB).
  2. Versuchter Mord durch Unterlassen (weil er weiterfuhr und dem Opfer nicht half) in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort § 211, 22, 23, 13 StGB, § 142 StGB) und vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 StGB).

Entscheidend für die Verurteilungen wegen § 315c und § 316 StGB war die Annahme des Gerichts, Herr K. sei relativ fahruntüchtig gewesen. Das Gericht begründete dies im Wesentlichen mit der massiven Geschwindigkeitsüberschreitung in der Kurve. Diesen Fahrfehler wertete das Gericht als alkoholbedingt. Warum? Weil, so das Gericht, „andere Gründe für die […] deutlich überhöhte Geschwindigkeit nicht ersichtlich“ seien. Das Gericht vermutete eine alkoholbedingte Überschätzung der eigenen Fähigkeiten.

Diese Argumentation klingt auf den ersten Blick vielleicht plausibel: Wer betrunken rast, ist doch fahruntüchtig, oder? Doch genau hier legte der Verteidiger von Herrn K. (oder die Staatsanwaltschaft, dies geht aus den Quellen nicht eindeutig hervor, ist aber für die rechtliche Prüfung unerheblich) Revision beim Bundesgerichtshof ein. Eine Revision ist kein neuer Prozess, bei dem Zeugen gehört werden. Der BGH prüft nur, ob das vorinstanzliche Gericht das Recht richtig angewendet und die Verfahrensregeln, insbesondere bei der Beweiswürdigung, beachtet hat.

Die Wende beim Bundesgerichtshof: Wenn Beweise fehlen und Zweifel bleiben

Der 4. Strafsenat des BGH in Karlsruhe sah den Fall anders als das Landgericht. Mit seinem Beschluss vom 26. Februar 2025 (Aktenzeichen 4 StR 526/24) hob er das Urteil des Landgerichts teilweise auf – und zwar genau in den Punkten, die auf der Annahme der relativen Fahruntüchtigkeit beruhten (§ 315c StGB und § 316 StGB). Die Sache muss nun von einer anderen Kammer des Landgerichts neu verhandelt werden.

Warum diese Entscheidung? Der BGH kritisierte die Beweiswürdigung des Landgerichts als lückenhaft und nicht tragfähig.

Kritikpunkt 1: Fahrfehler allein reicht nicht aus

Der BGH stellte klar: Die Schlussfolgerung des Landgerichts, die Raserei sei alkoholbedingt gewesen, nur weil keine anderen Gründe „ersichtlich“ waren, greift zu kurz. Das ist keine ausreichende Begründung für die Annahme einer Fahruntüchtigkeit im strafrechtlichen Sinne.

Die Richter betonten einen wichtigen Unterschied: Alkoholbeeinflussung ist nicht automatisch Fahruntüchtigkeit. Nur weil Alkohol vielleicht zu einer gewissen Enthemmung oder Fehleinschätzung führt (wie der vom Landgericht angenommenen Überschätzung der eigenen Fähigkeiten), heißt das nicht zwingend, dass der Fahrer nicht mehr in der Lage war, sein Fahrzeug über eine längere Strecke sicher zu steuern – auch bei schwierigen Situationen. Genau diese Unfähigkeit, das Fahrzeug sicher zu führen, definiert aber die Fahruntüchtigkeit nach §§ 315c und 316 StGB.

Kritikpunkt 2: Fehlende Gesamtwürdigung aller Umstände („Gesamtschau“)

Das Herzstück der BGH-Kritik war das Versäumnis des Landgerichts, eine umfassende Gesamtwürdigung aller relevanten Beweismittel vorzunehmen. Juristen nennen dies das Gebot der „Gesamtschau“. Das Gericht darf sich nicht nur auf belastende Indizien stürzen, sondern muss alle Umstände berücksichtigen – auch die, die den Angeklagten entlasten könnten.

Im Fall von Herrn K. hatte das Landgericht laut BGH mehrere wichtige Aspekte ignoriert oder nicht ausreichend gewürdigt, die gegen eine relevante alkoholbedingte Beeinträchtigung sprachen:

  • Die Blutalkoholkonzentration (BAK): Sie lag mit mindestens 0,72 Promille zwar im Bereich der relativen Fahruntüchtigkeit (der bei 0,3 Promille beginnt), aber eben auch deutlich unter dem Grenzwert von 1,1 Promille für die absolute Fahruntüchtigkeit. Je niedriger der Wert, desto stärker müssen die zusätzlichen Beweisanzeichen für eine Fahruntüchtigkeit sein.
  • Der Cannabiskonsum: Dieser lag möglicherweise bis zu zwei Tage zurück und die gemessene THC-Konzentration war relativ gering (mindestens 1,6 ng/ml). Ob dieser Konsum überhaupt noch eine relevante Wirkung hatte, blieb offen.
  • Die Beobachtungen der Polizei: Die Beamten hatten keine typischen alkoholbedingten Ausfallerscheinungen bei Herrn K. festgestellt. Das ist ein starkes Indiz gegen eine erhebliche Beeinträchtigung.
  • Das Sachverständigengutachten: Der psychiatrische Gutachter hatte explizit eine relevante Beeinträchtigung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit durch Alkohol ausgeschlossen, da die Koordinationsfähigkeit von Herrn K. noch gut war.

Das Landgericht hätte diese Punkte in seine Überlegungen einbeziehen und erklären müssen, warum es trotzdem von einer alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit ausging. Dies einfach zu übergehen, ist ein Rechtsfehler.

Kritikpunkt 3: Alternative Ursachen für den Fahrfehler nicht geprüft

Eng damit verbunden ist der dritte Kritikpunkt: Das Landgericht hat alternative, nicht alkoholbedingte Gründe für die überhöhte Geschwindigkeit nicht ausreichend geprüft und ausgeschlossen.

  • Generelle Fahrweise: Es fehlten Feststellungen zum üblichen Fahrverhalten von Herrn K. Brisant: Herr K. hatte bereits 2022 wegen zu schnellen Fahrens seinen Führerschein verloren! Hätte das Gericht nicht prüfen müssen, ob Herr K. möglicherweise generell zu schnell fährt, auch nüchtern? Wenn ja, wäre die überhöhte Geschwindigkeit in der Kurve vielleicht gar nicht primär auf den Alkohol zurückzuführen.
  • Situative Faktoren: Wie stellte sich die Verkehrssituation für den ortsunkundigen Herrn K. dar? War das 50er-Schild gut erkennbar? War die Gefährlichkeit der Kurve bei Nacht für jemanden ohne Streckenkenntnis sofort ersichtlich? Auch Unachtsamkeit oder eine Fehleinschätzung der Situation aus anderen Gründen als Alkohol kommen als Ursache für den Fahrfehler in Betracht.

Der BGH bekräftigt hier einen zentralen Grundsatz: Bevor ein Fahrfehler dem Alkohol zugeschrieben wird, müssen andere plausible Ursachen sorgfältig geprüft und ausgeschlossen werden. Es gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten. Bestehen Zweifel, ob der Alkohol ursächlich für die Fahruntüchtigkeit war, darf keine Verurteilung wegen §§ 315c oder 316 StGB erfolgen.

Absolut vs. Relativ Fahruntüchtig: Ein wichtiger Unterschied

Um die Bedeutung des BGH-Beschlusses voll zu erfassen, ist es wichtig, den Unterschied zwischen absoluter und relativer Fahruntüchtigkeit zu verstehen:

  • Absolute Fahruntüchtigkeit: Liegt bei Kraftfahrzeugführern ab einer BAK (Blutalkoholkonzentration) von 1,1 Promille vor. Hier wird unwiderlegbar vermutet, dass der Fahrer nicht mehr sicher fahren kann. Der Nachweis der BAK genügt für eine Verurteilung nach § 316 StGB (Trunkenheit im Verkehr). Kommt ein Unfall oder eine konkrete Gefährdung hinzu, steht § 315c StGB (Gefährdung des Straßenverkehrs) im Raum.
  • Relative Fahruntüchtigkeit: Kann bereits ab einer BAK von 0,3 Promille gegeben sein. Hier genügt der BAK-Wert allein aber nicht für eine Verurteilung. Es müssen zusätzliche Beweisanzeichen hinzukommen, die belegen, dass die individuelle Leistungsfähigkeit des Fahrers alkoholbedingt so stark herabgesetzt war, dass er sein Fahrzeug nicht mehr sicher führen konnte.

Diese zusätzlichen Beweisanzeichen („Ausfallerscheinungen“) können vielfältig sein:

  • Alkoholtypische Fahrfehler: Schlangenlinien fahren, grundloses Bremsen, Nichtbeachten von Vorfahrtsregeln oder eben auch – wie im Fall diskutiert – unangepasste Geschwindigkeit. Wichtig ist aber immer: Der Fehler muss nachweislich auf den Alkohol zurückzuführen sein.
  • Körperliche und geistige Ausfallerscheinungen: Lallen, Torkeln, gerötete Augen, Orientierungslosigkeit, verlangsamte Reaktionen, enthemmtes oder aggressives Verhalten.
  • Aussagen von Zeugen: Polizeibeamte oder andere Beobachter, die den Zustand des Fahrers beschreiben.
  • Sachverständigengutachten: Medizinische oder psychologische Gutachten zur Leistungsfähigkeit.

Die Entscheidung 4 StR 526/24 unterstreicht: Gerade im Bereich der relativen Fahruntüchtigkeit, wo die BAK allein nicht ausreicht, ist eine sorgfältige und lückenlose Beweiswürdigung durch das Gericht unerlässlich. Pauschale Schlüsse oder das Ignorieren entlastender Indizien sind nicht zulässig.

Experten-Box: Relative Fahruntüchtigkeit – Was zählt wirklich?

Die Feststellung der relativen Fahruntüchtigkeit (BAK 0,3‰ – 1,09‰) ist komplex. Anders als bei der absoluten Fahruntüchtigkeit (ab 1,1‰) reicht der reine Promillewert nicht aus. Gerichte müssen eine Gesamtschau aller Umstände vornehmen. Dazu gehören:

  1. Die Höhe der BAK: Je näher an 1,1‰, desto geringere zusätzliche Beweisanzeichen sind nötig. Je näher an 0,3‰, desto gravierender müssen die Ausfallerscheinungen sein.
  2. Beweisanzeichen: Das können Fahrfehler sein (Schlangenlinien, überhöhte Geschwindigkeit etc.), wenn sie nachweislich alkoholbedingt sind. Ebenso zählen körperliche Ausfallerscheinungen (Lallen, Torkeln) und das Verhalten des Fahrers (Enthemmung, Aggressivität).
  3. Gegenindizien: Fehlen solche Ausfallerscheinungen (wie im Fall von Herrn K.), spricht dies gegen eine relevante Beeinträchtigung. Auch entlastende Gutachten oder plausible alternative Erklärungen für Fahrfehler müssen berücksichtigt werden. Kernbotschaft des BGH (4 StR 526/24): Ein Fahrfehler allein genügt nicht, wenn andere Beweise (niedrige BAK, keine Ausfallerscheinungen) dagegen sprechen. Alternative Ursachen müssen geprüft werden. Die Beweiswürdigung muss lückenlos und nachvollziehbar sein.

Bedeutung für die Praxis: Was heißt das für Betroffene und die Justiz?

Der BGH hat mit diesem Beschluss kein vollkommen neues Recht geschaffen, aber er hat die bestehenden hohen Anforderungen an den Nachweis der relativen Fahruntüchtigkeit nachdrücklich bekräftigt. Die Entscheidung hat spürbare Konsequenzen:

  • Für Tatgerichte (Amts- und Landgerichte): Sie müssen ihre Urteile in Fällen relativer Fahruntüchtigkeit noch sorgfältiger begründen. Sie dürfen nicht vorschnell von einem Fahrfehler auf eine alkoholbedingte Untüchtigkeit schließen, sondern müssen alle Indizien – belastende wie entlastende – abwägen und dies in den Urteilsgründen nachvollziehbar darlegen (§ 267 StPO). Die Prüfung alternativer Ursachen für Fahrfehler ist Pflicht.
  • Für Staatsanwaltschaften: Die Anklage muss auf einer soliden Beweisgrundlage stehen. Der reine Nachweis einer BAK zwischen 0,3 und 1,09 Promille und eines Fahrfehlers reicht oft nicht aus. Es müssen aktiv weitere Beweise für Ausfallerscheinungen gesammelt und gewürdigt werden.
  • Für Verteidiger: Die Entscheidung stärkt die Verteidigungsmöglichkeiten. Anwälte können Urteile angreifen, die auf einer unzureichenden Gesamtwürdigung beruhen oder plausible Alternativerklärungen für das Fahrverhalten des Mandanten ignorieren. Die genaue Dokumentation des Zustands des Beschuldigten nach der Tat (z.B. durch Polizeiberichte, eigene Beobachtungen) gewinnt an Bedeutung.
  • Für Betroffene: Wer mit einer BAK zwischen 0,3 und 1,09 Promille in einen Unfall verwickelt ist oder einen Fahrfehler begeht, ist nicht automatisch strafbar nach §§ 315c oder 316 StGB. Entscheidend ist, ob tatsächlich eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit nachgewiesen werden kann. Das Fehlen typischer Ausfallerscheinungen kann ein wichtiges Argument sein. Dennoch Vorsicht: Schon ab 0,5 Promille liegt in der Regel eine Ordnungswidrigkeit (§ 24a StVG) vor, die mit Bußgeld, Punkten und Fahrverbot geahndet wird – auch ohne Ausfallerscheinungen oder Unfall!

Die Entscheidung zeigt, dass der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ auch und gerade im Bereich der relativen Fahruntüchtigkeit Geltung beansprucht. Die Hürden für eine strafrechtliche Verurteilung liegen hier bewusst hoch.


FAQ: Häufige Fragen zur relativen Fahruntüchtigkeit und zum BGH-Beschluss

FAQ - Häufig gestellte Fragen

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Ab wann bin ich relativ fahruntüchtig?

Rechtlich relevant wird eine relative Fahruntüchtigkeit ab einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,3 Promille. Allerdings bedeutet das Erreichen dieses Wertes noch nicht automatisch, dass Sie auch tatsächlich fahruntüchtig im Sinne des Strafrechts sind. Es müssen zwingend weitere aussagekräftige Beweisanzeichen hinzukommen, die belegen, dass Ihre individuelle Fähigkeit, ein Fahrzeug sicher zu führen, durch den Alkohol beeinträchtigt war. Solche Anzeichen können typische Fahrfehler (Schlangenlinien, krasse Geschwindigkeitsüberschreitungen) oder persönliche Ausfallerscheinungen (Lallen, Torkeln, verwaschene Sprache) sein.


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Reicht ein Unfall als Beweis für relative Fahruntüchtigkeit?

Ein Unfall allein ist nicht automatisch ein ausreichender Beweis für eine relative Fahruntüchtigkeit, auch wenn Alkohol im Spiel war (BAK 0,3‰ – 1,09‰). Zwar kann ein typischer alkoholbedingter Fahrfehler, der zum Unfall führt, ein starkes Indiz sein. Das Gericht muss jedoch immer eine Gesamtwürdigung vornehmen. Es muss prüfen, ob der Unfall tatsächlich auf die Alkoholwirkung zurückzuführen ist oder ob andere Ursachen (Unachtsamkeit, plötzliche äußere Umstände, technischer Defekt, generelle Fahrweise des Fahrers) wahrscheinlicher sind. Fehlen zudem sonstige Ausfallerscheinungen, wird der Nachweis der relativen Fahruntüchtigkeit schwierig.


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Was passiert, wenn ich mit 0,7 Promille angehalten werde, aber keine Fehler mache?

Wenn Sie mit einer BAK zwischen 0,5 Promille und 1,09 Promille fahren und dabei keine Ausfallerscheinungen zeigen und keinen Fahrfehler begehen oder einen Unfall verursachen, machen Sie sich in der Regel nicht nach § 315c oder § 316 StGB strafbar. Allerdings begehen Sie eine Ordnungswidrigkeit nach § 24a Straßenverkehrsgesetz (StVG), die sogenannte „0,5-Promille-Grenze“. Diese wird typischerweise mit einem Bußgeld (oft 500 Euro beim ersten Mal), zwei Punkten in Flensburg und einem Monat Fahrverbot geahndet.


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Warum hat der BGH das Urteil gegen Herrn K. aufgehoben?

Der BGH hat das Urteil aufgehoben, weil das Landgericht die relative Fahruntüchtigkeit von Herrn K. nicht ausreichend bewiesen hat. Das Landgericht stützte sich fast ausschließlich auf die hohe Geschwindigkeit in der Kurve und schloss daraus auf eine alkoholbedingte Enthemmung. Der BGH kritisierte, dass das Gericht dabei wichtige Gegenindizien (niedriges Ende der BAK-Spanne, keine körperlichen Ausfallerscheinungen laut Polizei und Gutachter) ignoriert hat. Zudem hat das Gericht alternative Erklärungen für die überhöhte Geschwindigkeit (generelle Neigung zum Rasen, Ortsunkenntnis) nicht geprüft. Die Beweiswürdigung war somit lückenhaft und entsprach nicht den Anforderungen an eine Gesamtschau aller Umstände.


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Was bedeutet „Gesamtwürdigung“ oder „Gesamtschau“ im Strafprozess?

„Gesamtwürdigung“ oder „Gesamtschau“ ist ein zentraler Grundsatz der richterlichen Beweiswürdigung im deutschen Strafprozess (§ 261 StPO – Grundsatz der freien Beweiswürdigung). Es bedeutet, dass das Gericht seine Überzeugung von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten nicht nur auf einzelne, isolierte Beweismittel stützen darf. Stattdessen muss es alle relevanten Beweise (Zeugenaussagen, Urkunden, Sachverständigengutachten, Indizien) in ihrer Gesamtheit betrachten und gegeneinander abwägen. Widersprüche müssen aufgeklärt und in der Urteilsbegründung nachvollziehbar bewertet werden. Das Gericht muss darlegen, warum es bestimmten Beweisen mehr glaubt als anderen und wie es zu seinem abschließenden Urteil gelangt ist.


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Welche Rolle spielt mein sonstiges Fahrverhalten?

Ihr übliches Fahrverhalten im nüchternen Zustand kann in Fällen relativer Fahruntüchtigkeit eine wichtige Rolle spielen. Wie der BGH im Fall von Herrn K. andeutete, muss das Gericht prüfen, ob ein bestimmter Fahrfehler (z.B. überhöhte Geschwindigkeit) für Sie typisch oder untypisch ist. Wenn Sie bekanntermaßen auch nüchtern zu Geschwindigkeitsüberschreitungen neigen, kann dies ein Argument dafür sein, dass der konkrete Fehler nicht zwingend alkoholbedingt war. Umgekehrt kann ein Fahrfehler, der für Sie völlig untypisch ist, eher für eine alkoholbedingte Beeinträchtigung sprechen – vorausgesetzt, andere Umstände stützen dies ebenfalls.


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Kann ich trotz Freispruch vom Vorwurf der Trunkenheit meinen Führerschein verlieren?

Ja, das ist möglich. Auch wenn Sie strafrechtlich nicht wegen § 315c oder § 316 StGB verurteilt werden, kann die Fahrerlaubnisbehörde unabhängig davon Ihre Fahreignung überprüfen. Stellt die Behörde aufgrund der Aktenlage (z.B. wegen der festgestellten BAK, auch wenn sie unter 1,1 Promille lag, oder wegen wiederholter Auffälligkeiten) Zweifel an Ihrer Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen fest, kann sie eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU) anordnen. Bestehen Sie diese nicht oder verweigern Sie sie, kann Ihnen die Fahrerlaubnis entzogen werden (§ 3 StVG, §§ 11, 13 Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV). Dies ist ein verwaltungsrechtliches Verfahren, das getrennt vom Strafverfahren läuft.


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Fazit: Hohe Hürden für den Nachweis der relativen Fahruntüchtigkeit bestätigt

Der Beschluss des Bundesgerichtshofs im Fall 4 StR 526/24 ist mehr als nur eine Einzelfallentscheidung. Er ist eine deutliche Erinnerung daran, dass im Strafrecht hohe Anforderungen an die Beweisführung gelten – insbesondere, wenn es um den Nachweis der relativen Fahruntüchtigkeit geht. Ein schwerer Fahrfehler allein, selbst wenn er tragische Folgen hat, genügt nicht, um eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit zweifelsfrei zu belegen, wenn andere Indizien diesem Schluss entgegenstehen.

Die Gerichte sind verpflichtet, alle Umstände des Einzelfalls sorgfältig und umfassend zu würdigen. Sie müssen entlastende Beweise berücksichtigen und plausible alternative Erklärungen für das Verhalten des Fahrers prüfen. Nur wenn nach dieser Gesamtschau keine vernünftigen Zweifel mehr daran bestehen, dass der Fahrer aufgrund von Alkoholeinfluss nicht mehr in der Lage war, sein Fahrzeug sicher zu führen, darf eine Verurteilung wegen §§ 315c oder 316 StGB erfolgen.

Für Betroffene bedeutet dies, dass eine Verteidigung auch bei einer Alkoholfahrt unter 1,1 Promille keineswegs aussichtslos ist. Die genauen Umstände und das Vorliegen oder Fehlen von Ausfallerscheinungen sind entscheidend. Die Entscheidung des BGH schärft den Blick für die Notwendigkeit einer präzisen und fairen Beweiswürdigung im Verkehrsstrafrecht. Sie unterstreicht, dass der Weg von einer Blutalkoholkonzentration unter 1,1 Promille zu einer strafrechtlichen Verurteilung kein Automatismus ist, sondern einer sorgfältigen Prüfung im Einzelfall bedarf.

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