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Wirtschaftliche Verhältnisse bei erlaubter Abwesenheit des Betroffenen in Hauptverhandlung

KG Berlin – Az.: 3 Ws (B) 49/20 .- Beschluss vom 27.04.2020

Die Sache wird nach § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 21. November 2019 wird gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 349 Abs. 2 StPO mit der Maßgabe als offensichtlich unbegründet verworfen, dass der Betroffene der vorsätzlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung innerhalb geschlossener Ortschaften in zwei tateinheitlichen Fällen schuldig ist.

Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Die Liste der angewendeten Vorschriften wird wie folgt neu gefasst: §§ 41 Abs. 1 i.V.m. Anlage 2 Nr. 49 (Zeichen 274), 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO, 1 Abs. 1 und Abs. 2, 3 Abs. 4a und Abs. 5, 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV mit Anhang zu Nr. 11 der Anlage Tabelle 1 lit c), lfd. Nr. 11.3.9 und 11.3.10 BKatV, 24 Abs. 1, 25 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2a StVG, 17 Abs. 3 Satz 1, 19 Abs. 1 und 2 OWiG.

Gründe

I.

Der Polizeipräsident in B hat mit Bußgeldbescheid vom 26. September 2019 gegen den Betroffenen wegen zwei vorsätzlich in Tateinheit begangener Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 77 km/h und 62 km/h unter bußgelderhöhender Berücksichtigung von Voreintragungen im Fahreignungsregister eine Geldbuße in Höhe von 2000,00 € sowie ein dreimonatiges Fahrverbot verhängt und eine Wirksamkeitsbestimmung nach § 25 Abs. 2a StVG getroffen. Auf seinen hiergegen gerichteten Einspruch hat das Amtsgericht Tiergarten den Betroffenen, der von seiner Erscheinungspflicht zur Hauptverhandlung entbunden und dort auch nicht von seinem schriftlich bevollmächtigten Verteidiger vertreten worden war, am 21. November 2019 im Abwesenheitsverfahren gemäß § 74 Abs. 1 OWiG wegen einer vorsätzlichen Verkehrsordnungswidrigkeit zu einer Geldbuße von 1500,00 € verurteilt, ihm für die Dauer von drei Monaten verboten, Kraftfahrzeuge jeder Art im Straßenverkehr zu führen und eine Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG getroffen.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Betroffene am 11. August 2018 in B die Bundesautobahn … in Richtung Süd und nahm hinter der F.-Z.-B durch das Zeichen 274 wahr, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit von vorher 80 km/h auf 60 km/h herabgesetzt ist. Gleichwohl befuhr er diesen Bereich mit einer Geschwindigkeit von 137 km/h. Im weiteren Streckenverlauf erkannte der Betroffene durch das Zeichen 274, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit ab der Anschlussstelle Stubenrauchstraße wieder 80 km/h beträgt. Dennoch fuhr er in diesem Abschnitt der Autobahn mit einer Geschwindigkeit von 142 km/h.

Mit seiner gegen dieses Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat mit Zuschrift vom 20. Februar 2020 beantragt, die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.

Der Einzelrichter Richter am Landgericht …………überträgt die Sache dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern, da es geboten ist, das amtsgerichtliche Urteil im Hinblick auf die Darlegungserfordernisse der wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nachzuprüfen (vgl. § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG). Der Senat hält an seiner früheren Rechtsprechung, dass es im Falle der Festsetzung einer Geldbuße von über 250 Euro unter dem Regime der Bußgeldkatalog-Verordnung grundsätzlich der Aufklärung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen bedarf und die fehlende Feststellung dieser Umstände zur Aufhebung des Urteils führt (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Februar 2012 – 3 Ws (B) 52/12 -, juris) oder führen kann (Senat, Beschluss vom 12. März 2019 – 3 Ws (B) 53/19 -, juris), nicht mehr fest.

II.

Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

Die auf die allgemeine Sachrüge gebotene umfassende Überprüfung des Urteils zeigt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen auf, der die Aufhebung und Zurückverweisung der Sache gebietet.

1. Die in dem Urteil festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitungen beruhen auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung.

a) Bei dem Messgerät ProVida 2000 modular handelt es sich um eine zusammen mit dem Einsatzfahrzeug der Polizei, in dem es Verwendung findet, geeichte Videoüberwachungsanlage (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26. November 2019 – 2 Rb 35 Ss 795/19 –, BeckRS 2019, 35477), die vorliegend die in Rede stehende Fahrt des Betroffenen aufgezeichnet hat. Die eigentliche Geschwindigkeitsermittlung wurde hier jedoch nicht mit der als standardisiertes Messverfahren anerkannten ProVidA 2000 modular – Anlage (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Dezember 2017 – 3 Ws (B) 302/17 –; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 11. Juni 2019 – (2 B) 53 Ss-Owi 132/19 [95/19] –; OLG Frankfurt, Beschluss vom 13. März 2013 – 2 Ss-OWi 1003/12 –, alle bei juris; OLG Hamm DAR 2009, 156), sondern nachträglich mit Hilfe des softwarebasierten Auswertungsverfahrens ViDistA2006 durchgeführt.

Bei dem Auswertungsverfahren ViDistA2006 handelt es sich ebenfalls um ein standardisiertes Messverfahren (vgl. OLG Karlsruhe a.a.O.; Brandenburgisches OLG DAR 2005, 162), bei dem es grundsätzlich genügt, wenn der Tatrichter – wie vorliegend geschehen – in den Urteilsgründen das angewandte Verfahren, das Messergebnis und den vorgenommenen Toleranzabzug mitteilt (vgl. BGHSt 39, 291; 43, 277; Senat, Beschluss vom 6. März 2019 – 3 Ws (B) 47/19 -, juris). Dies gilt nur dann nicht, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Gebrauchsanweisung für das Messgerät nicht eingehalten worden ist, oder sonstige Fehlerquellen konkret behauptet werden (vgl. Senat, Beschluss vom 6. März 2019 a.a.O. m.w.N.). Beides ist nicht der Fall.

Das Amtsgericht hat sich insbesondere durch die Vernehmung der Zeugen T und B von der ordnungsgemäßen Durchführung der Messungen überzeugt. Dabei hat es auch nachvollziehbar dargelegt, dass die Vorgaben für den Einsatz der ProVida 2000 Modular-Anlage beachtet wurden und deshalb die bei der Videoaufzeichnung festgehaltenen Daten zu Fahrstrecke und –zeit als Grundlage für die Geschwindigkeitsberechnung herangezogen werden können.

b) Es begegnet überdies keinen Bedenken, dass das Amtsgericht bei der ersten festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung Höhe F.-Z.-B um 77 km/h (nach Toleranzabzug) von einer vorsätzlichen Begehungsweise ausgegangen ist. Bei der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit drängt sich eine vorsätzliche Begehungsweise umso mehr auf, je massiver deren Ausmaß ist. Insoweit kann auf den Erfahrungssatz zurückgegriffen werden, dass jedenfalls bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 40 % – vorliegend beläuft sich diese bei der vorgenannten ersten Messung um mehr als 100 % – von Vorsatz auszugehen ist, sofern nicht besondere Umstände eine abweichende Wertung veranlassen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 31. Mai 2019 – 3 Ws (B) 161/19 – und vom 6. März 2019 a.a.O. m.w.N.). Derartige besondere Umstände weisen die Urteilsgründe nicht aus.

Gleiches gilt für die weitere rechtsfehlerfrei festgestellte vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung während der verfahrensgegenständlichen Fahrt des Betroffenen nach der Anschlussstelle Stubenrauschstraße um 62 km/h – mithin um 77,5 % – nach Toleranzabzug.

c) Zwar hat das Amtsgericht versäumt, das Konkurrenzverhältnis der beiden Verkehrsverstöße darzustellen. Das Urteil beruht aber nicht auf diesem Rechtsfehler.

Grundsätzlich gilt, dass mehrere Verkehrsverstöße, die auf einer ununterbrochenen Fahrt begangen werden, nicht nur im materiellen, sondern auch im prozessualen Sinn als mehrere Taten zu bewerten sind (vgl. Senat, Beschluss vom 3. September 2010 – 3 Ws (B) 426/10 -; OLG Celle, Beschluss vom 10. Juni 2010 – 322 SsBs 161/10 -; OLG Hamm, Beschluss vom 12. September 2011 – III – 3 RBs 248/11 -, beide juris; König in Hentschel/König/Dauer Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl., § 3 Rn. 56a m.w.N.). Der Umstand, dass mehrere Verstöße auf der gleichen Fahrt begangen wurden, ändert nichts daran, dass das Fahren als solches keine rechtliche Klammer im Sinne einer rechtlichen Tateinheit zu den einzelnen Fehlverhaltensweisen im Verkehr bildet (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 30. Mai 2005 – 1 Ss (OWi) 87 B/05 -, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 12. September 2011 – 3 RBs 248/11 -, BeckRS 2011, 24798). Dies gilt jedenfalls für fahrlässig begangene Verkehrsverstöße. Eine einzige Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit ist dagegen dann anzunehmen, wenn strafrechtlich oder ordnungswidrigkeitenrechtlich erhebliche Verhaltensweisen durch einen derart unmittelbaren zeitlich-räumlichen und inneren Zusammenhang gekennzeichnet sind, dass sich der gesamte Vorgang bei natürlicher Betrachtungsweise auch für einen unbeteiligten Dritten als einheitliches zusammengehöriges Tun darstellt (vgl. Senat, Beschlüsse vom 18. August 2016 – 3 Ws (B) 381/16 -, juris; vom 17. Januar 2011 – 3 Ws (B) 683/10 -, 3. September 2010 – 3 Ws (B) 426/10 -, vom 7. April 1997 – 3 Ws (B) 305/96 -; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 14. Januar 2005 – 1 Ss 251/04 -, juris; Gürtler in Göhler, OWiG 17. Aufl., § 19 Rdn. 2; Lafontaine in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 41 StVO (Stand: 11.05.2018), Rn. 244) und auf einer einheitlichen Willensbetätigung i.S.v. derselben Willensrichtung beruht. Bei mehreren Vorsatztaten kann auf Grund jeweils neuen Tatentschlusses bei einheitlicher Zielsetzung natürliche Handlungseinheit gegeben sein (vgl. BayObLG DAR 1990, 363; BGH NJW 2003,1613).

Diesen Maßstab zugrunde gelegt stehen die von dem Betroffenen – wenn auch bei wechselnden Geschwindigkeitsbeschränkungen begangenen – vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitungen in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang, die dem Ziel dienten, eilig voranzukommen, so dass sich das gesamte Geschehen bei natürlicher Betrachtungsweise durch einen unbeteiligten Dritten (objektiv) als ein einheitliches zusammengehöriges Tun darstellt und als natürliche Handlungseinheit im Sinne einer gleichartigen Tateinheit (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juli 2017 – 4 StR 566/17 -; BGH, Urteil vom 27. Juni 1996 – 4 StR 29/13 -, beide juris) zu werten ist.

Die Folge dieser Bewertung ist für die Tenorierung des Schuldspruches nicht stets eindeutig. Teilweise wird die natürliche Handlungseinheit als einheitliche Handlung, also als eine Tat im Rechtssinne (vgl. Fischer, StGB 67. Aufl., Vor § 52 Rn. 1, 3), und teilweise wird sie als Tateinheit behandelt (BGH, Beschluss vom 4. Juli 2017, a.a.O.; Urteil vom 27. Juni 1996, a.a.O.). Während Fischer seine Auffassung als „nahe liegend“ ohne weitere Argumentation bezeichnet, hat der 4. Senat des Bundesgerichtshofes bereits in seinem Urteil vom 27. Juni 1996 entschieden, dass es sich grundsätzlich bei gleichartiger Tateinheit – wie im vorliegenden Fall – empfiehlt, dies auch im Urteilsspruch kenntlich zu machen. Davon kann aber – so der Bundesgerichtshof – nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 260 Abs. 4 Satz 5 StPO abgesehen werden, wenn der Tenor unübersichtlich und unverständlich würde; dies entspräche nicht dem auch zu berücksichtigenden Gebot der Klarheit und Verständlichkeit der Urteilsformel (vgl. Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 28. Aufl. S. 12).

Da es sich in Verkehrsbußgeldverfahren in der Regel – so auch vorliegend – um überschaubare Sachverhalte handelt, war der Schuldspruch in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang abzuändern. Ein entsprechender rechtlicher Hinweis war nach §§ 46 Abs.1 OWiG, 265 StPO entbehrlich, weil der Senat ausschließt, dass sich der Betroffene anders als geschehen hätte verteidigen können.

2. Der Rechtsfolgenausspruch ist rechtsfehlerfrei.

Die Bemessung der Rechtsfolgen liegt grundsätzlich im Ermessen des Tatgerichts, so dass sich die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht darauf beschränkt, ob dieses von rechtlich zutreffenden Erwägungen ausgegangen ist und von seinem Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat (vgl. Senat, Beschluss vom 12. März 2019 – 3 Ws (B) 53/19 -, juris m.w.N.). Hier weisen weder die Festsetzung einer Geldbuße in Höhe von 1500,00 € noch die Anordnung des dreimonatigen Regelfahrverbots einen Rechtsfehler zu Lasten des Betroffenen auf.

a) Wegen des Vorliegens von Tateinheit richtet sich die Festsetzung einer einheitlichen Geldbuße nach den §§ 19 Abs. 1 und Abs. 2 OWiG, 3 Abs. 5 BKatV. Danach bestimmt sich bei mehreren Gesetzesverletzungen die Geldbuße nach dem Gesetz, das die höchste Geldbuße androht. Rechtsfehlerfrei hat das Amtsgericht seiner Rechtsfolgenentscheidung den Bußgeldtatbestand nach §§ 1 Abs. 1 und Abs. 2, 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV mit Anhang zu Nr. 11 der Anlage Tabelle 1 lit c), lfd. Nr. 11.3.10 BKatV zugrunde gelegt und die Geldbuße, da es sich um zwei Verstöße handelt, nach § 3 Abs. 5 BKatV angemessen erhöht.

(1) Grundlage für die Bußgeldbemessung bleiben auch unter dem Regime der Bußgeldkatalog-Verordnung (nachfolgend: BKatV) die Kriterien des § 17 Abs. 3 OWiG (Senat, Beschluss vom 10. März 2014 – 3 Ws (B) 78/14 -, juris). Für die Zumessung maßgeblich sind nach Satz 1 dieser Vorschrift die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und der Vorwurf, der den Täter trifft. Nach § 17 Abs. 3 Satz 2 1.HS. kommen die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters auch in Betracht. Sie spielen bei der Zumessung demnach nur eine untergeordnete Rolle und finden in den Bußgeldregelsätzen, die der Verordnungsgeber aus Gründen der Vereinfachung und Anwendungsgleichheit im BKat festgelegt hat, dadurch Ausdruck, dass sich ihre Höhe in Übereinstimmung mit § 17 Abs. 3 Satz 1 OWiG an der Bedeutung des Verkehrsverstoßes und dem Tatvorwurf orientiert (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 19. Januar 2017 – 2 Ss OWi 1029/16 -, juris). Die Regelsätze gehen von gewöhnlichen Tatumständen und durchschnittlichen wirtschaftlichen Verhältnissen aus, die als angemessen gelten (vgl. Senat VRS 77,75; OLG Köln VRS 78,61; OLG Frankfurt, Beschluss vom 19. Januar 2017 a.a.O.; OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juli 2019 – III – 3 RBs 82/19; Gürtler in Göhler a.a.O., § 17 Rn. 29; Engelhardt/Rübenstahl in Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis, Wirtschaftsstrafrecht, § 17 OWiG Rn. 25). Systematisch stellen diese Regelsätze Zumessungsrichtlinien dar (OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juli 2019, a.a.O.; Lafontaine a.a.O.), die der Tatrichter bei der Ausübung seines Rechtsfolgeermessens nicht unbeachtet lassen darf, andernfalls wird er dem Prinzip des Bußgeldkatalogs mit dem Ziel der weitestmöglichen Gleichbehandlung gleichartiger Fälle nicht gerecht (Mitsch in Karlsruher Kommentar OWiG, 6. Aufl. § 17 Rn. 103). Besondere Umstände, die zum Abweichen vom Regelsatz nach oben oder unten führen, die auch in der Person des Betroffenen liegen können, hat der Tatrichter erst zu erwägen, wenn sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben (vgl. Mitsch a.a.O., § 17 Rn. 103). Dies gilt auch für die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juli 2019 a.a.O.; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 17. Oktober 2019 – 202 ObOWi 948/19 -, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. Dezember 2018 – 1 Rb 10 Ss 644/18 -, juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 19. Januar 2017 a.a.O.; OLG Celle NZV 2016, 144; OLG Braunschweig, Beschluss vom 20. Oktober 2015 – 1 Ss (OWi) 156715 -, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 13. Juni 2014 – 2 SsBs 30/14 -, juris; OLG Oldenburg, Beschluss vom 29. Oktober 2014 – 2 Ss-OWi 278/14 -, juris; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 1. September 2011 – 1 Ss Bs 66/11 -, juris). Die tatrichterliche Aufklärungspflicht setzt erst ein, wenn der Betroffene konkrete Tatsachen vorträgt, die ein Abweichen von der Regel nahelegen (OLG Koblenz a.a.O.). Denn solche Umstände sind aufgrund der Regel-Ausnahme-Systematik der BKatV nicht von vornherein Gegenstand der Amtsaufklärung (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. Dezember 2018 a.a.O.). Demnach obliegt es dem Betroffenen unter dem Regime der BKatV, durch eigenen Sachvortrag die Aufklärungspflicht des Tatrichters auszulösen. Die im Rahmen der Einzelfallabwägung getroffenen Feststellungen zum Abweichen vom Regelfall muss das Tatgericht in den Urteilsgründe nachvollziehbar darstellen, so dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Prüfung ermöglicht wird, festzustellen, ob das Tatgericht rechtsfehlerfrei von dem Regelsatz des BKat abgewichen ist. Bezogen auf die wirtschaftlichen Verhältnisse bedeutet dies, dass das Tatgericht einseitige und wenig aussagekräftige Angaben des Betroffenen wiederum nicht ungeprüft der Entscheidung zugrunde legen darf (vgl. Bayerisches Oberstes Landesgericht a.a.O.).

Unter Beachtung dieses Maßstabes ist das Amtsgericht rechtsfehlerfrei vom Vorliegen eines Regelfalls ausgegangen. Es ist zutreffend von dem für die vorsätzliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 77 km/h vorgesehenen Regelsatz von 680,00 € der hier einschlägigen Nr. 11.3.10 des Anhangs (Tabelle 1) zur laufenden Nr. 11 der Anlage (BKat) zu § 1 Abs. 1 BKatV ausgegangen und hat diesen gemäß § 3 Abs. 4a BKatV aufgrund der vorsätzlichen Begehungsweise verdoppelt.

Zwar weist das Amtsgericht in diesem Zusammenhang auf eine Regelbuße in Höhe von 600,00 € hin. Hierbei handelt es sich jedoch um ein offensichtliches Fassungsversehen, denn der Tatrichter hat zum einen auf den bundeseinheitlichen Bußgeldkatalog Bezug genommen und zum anderen – wenn auch im Hinblick auf das Fahrverbot – ausdrücklich auf die oben genannte Nr.11.3.10 des Anhangs (Tabelle1) zur laufenden Nr. 11 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV hingewiesen. Soweit die Geldbuße über den nach § 3 Abs. 4a BKatV verdoppelten Regelsatz in Höhe von 1360,00 € hinausgeht, hat das Amtsgericht bußgelderhöhend den Gesamtumfang der Tat gewertet und damit ersichtlich auf die weitere in Tateinheit begangene vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung um 62 km/h abgestellt. Die Erhöhung des verdoppelten Regelsatzes ist daher ausreichend dargelegt, die ausschließlich auf dem Gesamtumfang der Tat (UA S.5) beruht.

(2) Dass die Urteilsgründe trotz der Höhe der verhängten Geldbuße keine Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen ausweisen, gefährdet den Bestand des Urteils nicht. Denn sie waren nach dem obigen Maßstab entbehrlich, weil das Amtsgericht das Abweichen vom Regelsatz nicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse gestützt hat. Auch oblag dem Tatgericht mangels konkreter Anhaltspunkte eine Pflicht zur Aufklärung solcher Umstände auch nicht mit Blick auf die Leistungs(un)fähigkeit des Betroffenen.

Der Betroffene war in zulässiger Weise von seiner Präsenzpflicht nach § 73 Abs. 2 OWiG entbunden. Er hatte seine Fahrereigenschaft eingeräumt und mitgeteilt, keine weiteren Angaben zur Sache und damit auch keine Angaben zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu machen. Denn zur Sache gehören über die reine Identitätsfeststellung hinausgehende Angaben zu den persönlichen Verhältnissen, insbesondere der beruflichen Tätigkeit und der wirtschaftlichen Verhältnisse, die für die äußere und innere Tat und die Verhängung von Rechtsfolgen von Bedeutung sein können (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 62. Aufl., § 243 Rn. 12). Aus diesem Umstand hat das Tatgericht folgerichtig geschlossen, dass der Betroffene auf entsprechende Angaben verzichtet (UA S. 2). Der Betroffene hat sich in Kenntnis des Vorwurfes und der im Bußgeldbescheid vorgesehenen erheblichen Rechtsfolgen (Geldbuße von 2000 Euro und ein Fahrverbot von drei Monaten) mit seinem Antrag nach § 73 Abs. 2 OWiG, dem das Gericht bei Vorliegen der Voraussetzungen – wie vorliegend geschehen – nachkommen muss, bewusst die Möglichkeit genommen, in der Hauptverhandlung Umstände vorzutragen, die ein Abweichen vom Regelfall hätten begründen können.

Gleiches gilt auch für Verfahren, in denen der Betroffene erlaubt abwesend ist, sein Verteidiger, der zugleich als sein Vertreter in der Hauptverhandlung auftritt, aber mangels Instruierung seitens des Betroffenen keine Angaben machen kann (vgl. Senat, Beschluss vom 6. April 2018 – 3 Ws (B) 82/18 -, juris; OLG Karlsruhe a.a.O.) und für die Verfahren, in denen der Betroffene zwar zur Hauptverhandlung erscheint, aber – berechtigterweise – zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen schweigt (insoweit missverständlich zum Umfang der Aufklärungspflicht: Senat, Beschluss vom 12. März 2019 – 3 Ws (B) 53/19 -, juris Rn. 14). Denn auch in diesem Fällen sieht der Betroffene bewusst davon ab, entsprechende Angaben u.a. zur Leistungsfähigkeit zu machen.

b) Die Verhängung des dreimonatigen Fahrverbots begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Denn der Gesetzgeber sieht für innerorts begangene Geschwindigkeitsüberschreitungen von 77 km/h nach § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV in Verbindung mit Nr. 11.3.10 des Anhangs (Tabelle 1) zur laufenden Nr. 11 der Anlage (BKat) zu § 1 Abs. 1 BKatV regelmäßig die Anordnung eines dreimonatigen Fahrverbots neben der Verhängung einer Geldbuße vor.

Das Amtsgericht hat rechtsfehlerfrei keinen Grund angenommen, von dem Fahrverbot ausnahmsweise abzusehen.

Von der Anordnung eines Fahrverbots kann abgesehen werden, wenn der Sachverhalt so erheblich vom Regelfall abweicht und deswegen Ausnahmecharakter besitzt, dass die Verhängung der regelhaften Sanktionen der BKatV eine unangemessene Härte darstellt (vgl. Senat, Beschluss vom 12. März 2019 a.a.O. m.w.N.). Auf ein Fahrverbot kann somit im Ausnahmefall insbesondere dann verzichtet werden, wenn dem Betroffenen in Folge des Fahrverbots Arbeitsplatz- und oder sonstiger wirtschaftlicher Existenzverlust droht und diese Konsequenz nicht durch zumutbare Vorkehrungen abgewendet oder vermieden werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 25. März 2015 – 3 Ws (B) 19/15 -, juris m.w.N.). Dass die Anordnung des Fahrverbots für den Betroffenen eine solche ganz außergewöhnliche Härte darstellen würde, die er auch nicht durch ihm zumutbare Maßnahmen abfedern kann (vgl. Senat NJW 2016, 1110 m.w.N.), ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Die Aufklärung von Amts wegen zur Feststellung fahrverbotsfeindlicher Umstände war nach dem obigen Maßstab nicht geboten. Auch insoweit obliegt es dem Betroffenen, entsprechende Umstände vorzutragen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 1 OWiG, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

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