Bayerischer Verwaltungsgerichtshof – Az.: 11 C 22.2282 – Beschluss vom 22.11.2022
Der Klägerin wird unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 30. September 2022 Prozesskostenhilfe für die Klage Az.: W 6 K 22.743 bewilligt und Rechtsanwalt Ralph Geyer, Karlstein, beigeordnet.
Gründe
I.
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung für das beim Verwaltungsgericht Würzburg anhängige Klageverfahren, mit dem die Klägerin die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis begehrt.
Mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 17. März 2020 sprach das Amtsgericht Aschaffenburg die Klägerin des vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 25 tatmehrheitlichen Fällen und des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in einem Fall schuldig und verhängte eine Geldstrafe. Dem lag zugrunde, dass die Klägerin zwischen Mitte 2016 und Mitte 2017 in 25 Fällen jeweils drei Gramm Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von 5 % erworben und am 6. Februar 2020 2,15 Gramm Marihuana in ihrer Wohnung aufbewahrt hatte.
Daraufhin forderte das Landratsamt Aschaffenburg (Fahrerlaubnisbehörde) die Klägerin, die seit dem 9. September 2003 Inhaberin der Fahrerlaubnis der Klassen B, L, M und S war, zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens auf. Nachdem die Klägerin dieser Aufforderung nicht fristgerecht nachgekommen war, entzog ihr das Landratsamt mit bestandskräftigem Bescheid vom 1. September 2020 die Fahrerlaubnis.
Im Rahmen des Neuerteilungsverfahrens brachte die Klägerin ein ärztliches Gutachten der Begutachtungsstelle für Fahreignung TÜV Süd Life Service GmbH Aschaffenburg bei. Dem Gutachten vom 21. September 2021 (Absendedatum) zufolge hat sie eingeräumt, bis 2019 gelegentlich (bis zu zehn Mal) THC und 2017 zumindest einmal Speed konsumiert zu haben. Den Konsum anderer Betäubungsmittel, den Mischkonsum mit Alkohol und die Teilnahme am Straßenverkehr nach Betäubungsmittelkonsum habe sie verneint. Zwei den CTU-Kriterien entsprechende Urinproben am 16. und 30. August 2021 hätten keinen Nachweis für derzeitigen Betäubungsmittelkonsum erbracht.
Daraufhin forderte das Landratsamt die Klägerin zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens auf. Nach dem von ihr vorgelegten Gutachten der Begutachtungsstelle für Fahreignung TÜV Süd Life Service GmbH Aschaffenburg vom 7. Dezember 2021 (Absendedatum) hat die Überprüfung der verkehrsbedeutsamen Leistungsfunktionen der Klägerin ausreichende Ergebnisse erbracht. Aus ihren Darstellungen könne nachvollzogen werden, dass sie seit 2019 keine Drogen mehr konsumiere. Sie habe zwar keine fachspezifische Unterstützung in Anspruch genommen, jedoch eigenständig Veränderungen vorgenommen und in diesem Rahmen ihre Drogenproblematik bearbeitet. Sie habe die negativen Konsequenzen ihres Drogenkonsums erkannt, sich von ihrem drogenkonsumierenden Umfeld distanziert, günstige Veränderungen in ihrer Lebensweise durchgeführt und verdeutlichen können, nun u.a. über eine erhöhte Problemlösekompetenz und ein stabileres Selbstwertgefühl zu verfügen. Die dargestellten Veränderungen und Vorsätze (Fortsetzung der Drogenabstinenz) leiteten sich nachvollziehbar aus der geleisteten Auseinandersetzung ab und seien im Hinblick auf die stabile Einhaltung einer Drogenabstinenz günstig zu bewerten. Da jedoch eine fortgeschrittene Drogenproblematik (Hypothese D2 der Beurteilungskriterien) vorgelegen habe, sei eine drogenabstinente Lebensweise über zwölf Monate in einem zusammenhängenden Zeitraum gesichert nachzuweisen. Zwar sei auch bei einer weiteren Urinprobe der Klägerin (Befundeingang 24.11.2021) kein aktueller Betäubungsmittelkonsum nachgewiesen worden. Auch eine Haaranalyse vom 1. Juni 2021 habe eine Abstinenz von Mitte November 2020 bis Mitte Mai 2021 ergeben. Dies sei jedoch aufgrund der vier Monate zurückliegenden Probenentnahme nicht ausreichend. Am Untersuchungstag habe der Klägerin keine Haarprobe angeboten werden können, da ihre Haare chemisch behandelt worden seien. Außerdem entsprächen die von der Klägerin beigebrachten Abstinenzbelege den in den Beurteilungskriterien formulierten Anforderungen (CTU-Kriterien) nicht ohne Weiteres. Empfohlen werde der Beleg der Drogenabstinenz in einem Drogenkontrollprogramm aus mindestens sechs unvorhersehbar angeordneten, forensisch gesicherten polytoxikologischen Urinkontrollen im Verlauf von zwölf Monaten durch einen in Anlage 4a FeV genannten Arzt; ergänzend oder alternativ die Durchführung einer Haaranalyse (zwei Proben von jeweils 6 cm Länge im Abstand von einem halben Jahr).
Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Ablehnung ihres Wiedererteilungsantrags erklärte die Klägerin gegenüber dem Landratsamt ihre Bereitschaft zur Haaranalyse und zu weiteren Abstinenzkontrollen in Form eines Drogenkontrollprogramms.
Mit Bescheid vom 25. März 2022 lehnte das Landratsamt den Antrag auf Erteilung der Fahrerlaubnis ab. Das medizinisch-psychologische Gutachten vom 7. Dezember 2021 bestätige die Nichteignung der Klägerin zum Führen von Kraftfahrzeugen.
Mit Schriftsatz vom 27. April 2022 ließ die Klägerin Klage beim Verwaltungsgericht Würzburg erheben mit den Anträgen, den Beklagten zur Erteilung der Fahrerlaubnis zu verpflichten und ihr unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Mit Beschluss vom 30. September 2022 hat das Verwaltungsgericht den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Bevollmächtigten abgelehnt. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife habe die Klage keine Aussicht auf Erfolg. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin ihre Fahreignung, die sie aufgrund des feststehenden Konsums von Speed verloren habe, wiedererlangt haben könne. Die Behörde dürfe die Fahrerlaubnis nur dann wieder erteilen, wenn die Klägerin ein positives Gutachten zur Ausräumung der Eignungszweifel vorlege. Das Gutachten vom 7. Dezember 2021 komme jedoch unter Anwendung der Hypothese D2 plausibel und nachvollziehbar zu dem Ergebnis, es sei nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass die Klägerin, die keinen ausreichenden Abstinenznachweis erbracht habe, zukünftig Speed einnehmen werde. Die Darlegungs- und Beweislast für die Wiedererlangung der Fahreignung liege bei der Klägerin. Hierfür reiche ihre erklärte Bereitschaft zur Vorlage aktueller Abstinenznachweise nicht aus.
Zur Begründung der hiergegen eingelegten Beschwerde wiederholt die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten ihre Bereitschaft zur Erbringung von Abstinenznachweisen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hat die Klägerin nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten für die Klage.
1. Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 ZPO auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
a) Die Klägerin verfügt nach ihren Angaben und den hierzu vorgelegten Nachweisen nicht über ausreichendes Einkommen und Vermögen (§ 115 ZPO), um die Kosten der beabsichtigten Prozessführung auch nur zum Teil oder in Raten aufzubringen.
b) Die Klage hat auch hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig.
Prozesskostenhilfe darf verweigert werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist. Dabei dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten jedoch nicht überspannt werden. Deren Prüfung soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder -verteidigung in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (stRspr, vgl. BVerfG, B.v. 28.7.2022 – 2 BvR 1814/21 – juris Rn. 18). Auch ist eine Beweisantizipation im Prozesskostenhilfeverfahren nur in engen Grenzen zulässig. Der unbemittelten Partei darf nicht wegen Fehlens der Erfolgsaussichten ihres Rechtsschutzbegehrens Prozesskostenhilfe verweigert werden, obwohl eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen würde (BVerfG, B.v. 28.1.2013 – 1 BvR 274/12 – NJW 2013, 1727 Rn. 14).
Bei Anwendung dieser Maßstäbe können hinreichende Erfolgsaussichten der Klage nicht verneint werden, weil das medizinisch-psychologische Gutachten die Wiedererlangung der Fahreignung der Klägerin nicht nachvollziehbar verneint und daher einer näheren Überprüfung im Klageverfahren bedarf. Dies betrifft sowohl die Bejahung einer fortgeschrittenen Drogenproblematik (Hypothese D2 der Beurteilungskriterien) im Unterschied zu einer Drogengefährdung ohne Anzeichen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik (Hypothese D3) als auch die Annahme, die von der Klägerin beigebrachten Abstinenzbelege entsprächen nicht den CTU-Kriterien.
Für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung oder nach vorangegangenem Verzicht gelten die Vorschriften für die Ersterteilung (§ 20 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13.12.2010 [Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980], zuletzt geändert durch Verordnung vom 18.3.2022 [BGBl I S. 498]). Die Fahrerlaubnisbehörde hat zu ermitteln, ob Bedenken gegen die Eignung des Bewerbers zum Führen von Kraftfahrzeugen bestehen (§ 22 Abs. 2 Satz 1 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die solche Bedenken begründen, verfährt die Fahrerlaubnisbehörde nach den §§ 11 bis 14 FeV (§ 22 Abs. 2 Satz 5 FeV).
aa) Zwar ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die materielle Beweislast für die Fahreignung nach Verlust im (Wieder-)Erteilungsverfahren bei der Klägerin als Antragstellerin liegt (vgl. § 2 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 4 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 5.3.2003 [BGBl I S. 310, 919], zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.7.2021 [BGBl I S. 3108]; Rebler, NZV 2021, 184 f.). Auch hat die Klägerin bisher kein positives medizinisch-psychologisches Gutachten zum Nachweis der Wiedererlangung ihrer Fahreignung vorgelegt. Allerdings bestehen erhebliche Zweifel, ob das medizinisch-psychologische Gutachten vom 7. Dezember 2021 (Absendedatum) zu Recht von einer fortgeschrittenen Drogenproblematik und darauf aufbauend von erhöhten und von der Klägerin nicht erfüllten Voraussetzungen für die Wiedererlangung der Fahreignung ausgeht. Hierzu erscheint es geboten, die Begutachtungsstelle im Klageverfahren schriftlich und ggf. auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung durch Einvernahme des Gutachters zu befragen. Nach Einschätzung des Senats genügt das Gutachten jedenfalls nicht den Anforderungen des § 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Anlage 4a Nr. 2 Buchst. a und b an die Nachvollziehbarkeit, Nachprüfbarkeit und Vollständigkeit (vgl. hierzu zuletzt BayVGH, B.v. 14.9.2022 – 11 CS 22.876 – juris Rn. 19 m.w.N.).
Ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist unter anderem, wer Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (ausgenommen Cannabis) einnimmt (Anlage 4 Nr. 9.1 zur Fahrerlaubnis-Verordnung). Auffälligkeiten im Straßenverkehr im Zusammenhang mit dem Betäubungsmittelkonsum sind hierfür nicht Voraussetzung. Der von der Klägerin eingeräumte (einmalige) Konsum von Speed (Amphetamin) im Jahr 2017 hatte daher den Verlust der Fahreignung zur Folge.
Zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder die Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen hat die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen, wenn die Fahrerlaubnis wegen Abhängigkeit oder Einnahme von Betäubungsmitteln entzogen war (§ 14 Abs. 2 Nr. 1 FeV) oder wenn zu klären ist, ob der Betroffene noch abhängig ist oder – ohne abhängig zu sein – weiterhin Betäubungsmittel einnimmt (§ 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV). Die für die Begutachtungsstellen entwickelten Beurteilungskriterien (Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung, Hrsg. Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie [DGVP], Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin [DGVM], 3. Aufl. 2013), die mit Schreiben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur vom 27. Januar 2014 (VkBl 2014, 132) als aktueller Stand der Wissenschaft eingeführt sind, unterscheiden bei Betäubungsmitteln zwischen mehreren Abstufungen der Drogenvorgeschichte (vgl. hierzu auch Uhle in Hettenbach/Kalus/Möller/Pießkalla/Uhle, Drogen und Straßenverkehr, 3. Aufl. 2016, § 4 Rn. 163 ff. = S. 530 ff.). Dabei entspricht Hypothese D1 einer Drogenabhängigkeit, Hypothese D2 einer fortgeschrittenen Drogenproblematik und Hypothese D3 einer Drogengefährdung ohne Anzeichen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik. Hypothese D4 hingegen ist bei ausschließlich gelegentlichem Cannabiskonsum einschlägig. Für die Einstufung definieren die Beurteilungskriterien (S. 169 ff.) jeweils eine Reihe von Indikatoren zu den jeweiligen Hypothesen.
Die Einstufung eines Drogenkonsums als fortgeschrittene Drogenproblematik (Hypothese D2) setzt die Erfüllung zumindest eines der Kriterien D2.1 bis D2.3 voraus; zudem dürfen die Kriterien für eine Drogenabhängigkeit nicht erfüllt sein (Beurteilungskriterien S. 181). Kriterium D2.1 ist erfüllt, wenn das frühere Drogenkonsumverhalten ein fehlangepasstes Muster von Substanzgebrauch darstellt, das sich in wiederholten und deutlich nachteiligen Konsequenzen manifestiert hat (Substanzmissbrauch nach DSM-IV). Von Kriterium D2.2 ist auszugehen, wenn dem Drogenkonsum wiederholt oder überdauernd eine problematische Motivation zugrunde lag und/oder das grundsätzliche Bedürfnis zu einer angemessenen Verhaltens- und Wirkungskontrolle gefehlt hat. Kriterium D2.3 schließlich ist dann einschlägig, wenn der Klient eine polyvalente Drogenproblematik aufweist oder er (auch) als hoch suchtpotent bekannte Drogen oder Drogen konsumiert hat, deren Wirkungsverlauf, Wirkstoffkonzentration oder Konsumrisiko als unkontrollierbar eingestuft werden müssen (Beurteilungskriterien S. 181-183).
Im Unterschied dazu liegt eine Drogengefährdung ohne Anzeichen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik (Hypothese D3) vor, wenn die Kriterien D3.1 und D3.2 erfüllt und die Kriterien für eine fortgeschrittene Drogenproblematik (Hypothese D2) bzw. für eine Drogenabhängigkeit (Hypothese D1) nicht erfüllt sind. Für den Bereich des reinen Cannabiskonsums ist hier auch der regelmäßige Konsum einzuordnen (Beurteilungskriterien S. 187-189). Kriterium D3.1 liegt vor, wenn der Klient häufiger oder gewohnheitsmäßig ausschließlich Cannabis und/oder nur gelegentlich eine Droge mit einer höheren Suchtpotenz und Gefährlichkeit als Cannabis konsumiert hat. Kriterium D3.2 setzt voraus, dass der Klient noch über die Kompetenz verfügte, auf negative Konsequenzen seines Drogenkonsums angemessen zu reagieren.
bb) Das von der Klägerin vorgelegte Gutachten begründet die Annahme einer fortgeschrittenen Drogenproblematik (Hypothese D2) trotz einer (nur) gelegentlichen Konsumausübung mit einer problematischen Konsummotivation und dem Konsum mehrerer Substanzen (S. 15). Dabei geht es aufgrund der Angaben der Klägerin, die als offen und widerspruchsfrei bezeichnet werden, von einem einmaligen Speedkonsum im Jahr 2017 und einem monatlich ein- bis zweimaligen (und damit nicht als regelmäßig anzusehenden) Cannabiskonsum von 2017 bis 2019 aus. Hierfür hatte die Klägerin Probleme mit ihrem Ex-Mann angegeben, von dem sie inzwischen getrennt sei. Der einmalige Speedkonsum habe ihr „gar nicht gefallen“, andere Drogen habe sie nicht konsumiert und sei auch nicht nach Konsum mit dem Auto gefahren.
Als einen von mehreren Indikatoren für eine fortgeschrittene Drogenproblematik bezeichnet Nr. 3 des Kriteriums D2.2 ein problematisches Konsummotiv und beschreibt als (einziges) Beispiel eine „weitgehende Realitätsflucht“. Für deren Annahme oder für ein hiermit vergleichbar problematisches Konsummotiv der Klägerin sind dem Gutachten jedoch keine Anhaltspunkte zu entnehmen. Gleiches gilt für die weiteren Indikatoren, die in den Kriterien D2.1 bis 2.3 hinsichtlich des Drogenkonsums beschrieben werden. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass die Klägerin mit dem offenbar lediglich einmaligen Speedkonsum das Kriterium D2.3 (polyvalente Drogenproblematik oder Konsum als hoch suchtpotent bekannter Drogen oder von Drogen, deren Wirkungsverlauf, Wirkstoffkonzentration oder Konsumrisiko als unkontrollierbar eingestuft werden müssen) mit den dort beschriebenen Indikatoren erfüllen würde.
Eine nähere Begründung der angenommenen fortgeschrittenen Drogenproblematik wäre hier jedoch geboten gewesen, weil durchaus in Betracht gekommen, wenn nicht sogar naheliegend gewesen wäre, stattdessen von einer Drogengefährdung ohne Anzeichen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik (Hypothese D3) auszugehen. Das Gutachten muss in allen wesentlichen Punkten insbesondere im Hinblick auf die gestellten Fragen vollständig sein. Sein Umfang richtet sich nach der Befundlage. Bei eindeutiger Befundlage wird das Gutachten knapper, bei komplizierter Befundlage ausführlicher erstattet (§ 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Anlage 4a Nr. 2 Buchst. b). Für eine Drogengefährdung ohne Anzeichen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik sprechen sowohl die im ärztlichen und im medizinisch-psychologischen Gutachten wiedergegebenen Äußerungen der Klägerin zu ihrer Drogenvorgeschichte als auch die in den Gutachten getroffenen Feststellungen. Die Annahme einer fortgeschrittenen Drogenproblematik ist anhand der Begründung des Gutachtens nicht nachvollziehbar.
Im Falle einer Drogengefährdung ohne Anzeichen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik gelten geringere Anforderungen an eine angemessene Problembewältigung und damit an die Wiedererlangung der Fahreignung (vgl. Beurteilungskriterien S. 184 ff., S. 189 ff.; Uhle in Hettenbach/Kalus/Möller/Pießkalla/Uhle, a.a.O. § 4 Rn. 225-237 = S. 548 ff.). Diese hätte die Klägerin im Zeitpunkt der letzten Begutachtung – ausgehend von ihren Äußerungen und den in den Gutachten getroffenen Feststellungen – möglicherweise bereits erfüllt. Eine angemessene Problembewältigung liegt vor, wenn der Klient sich (auf der Grundlage einer Einsicht in die Risiken eines fortgesetzten Drogenkonsums) entschieden hat, zukünftig auf jeden Drogenkonsum – auch unabhängig vom Führen eines Kraftfahrzeugs – zu verzichten und ausreichend motiviert ist, den Drogenverzicht dauerhaft beizubehalten (Kriterium D3.3), wenn der vorliegende drogenfreie Zeitraum vor dem Hintergrund des früheren Konsummusters und der Motivation des Klienten als bereits ausreichend lang bewertet werden kann und nachvollziehbar dokumentiert ist (Kriterium D3.4) und wenn sich keine Hinweise auf besondere Risikofaktoren finden, die der Erwartung einer zukünftig drogenfreien Lebensführung entgegenstehen (Kriterium D3.5). Die erforderliche Dauer des Drogenverzichts zum Begutachtungszeitraum gemäß Kriterium D3.4 beträgt grundsätzlich mindestens sechs Monate (Indikator 1); soweit der Drogenkonsum aber über einen langen Zeitraum stattgefunden hat (z.B. über Jahre regelmäßiger Cannabiskonsum), ist erst durch einen längeren Abstinenzzeitraum eine günstige Voraussetzung für die Stabilität der Verhaltensänderung gegeben (Indikator 2). Dabei muss der Drogenverzicht durch die Ergebnisse geeigneter polytoxikologischer Urin- oder Haaranalysen bestätigt werden, die den Kriterien der Hypothese CTU (Chemisch-Toxikologische Untersuchung; hierzu Beurteilungskriterien S. 244 ff.) entsprechen (Indikator 3).
Von einem langjährigen regelmäßigen Cannabiskonsum der Klägerin gehen weder die von ihr beigebrachten Gutachten aus noch spricht nach Aktenlage etwas dafür. Damit wäre grundsätzlich ein Abstinenznachweis für einen Zeitraum von sechs Monaten erforderlich und ausreichend. Diesen hat die Klägerin dem medizinisch-psychologischen Gutachten zufolge durch eine Haaranalyse am 1. Juni 2021 für einen Zeitraum von Mitte November 2020 bis Mitte Mai 2021 erbracht. Zwar hielt das medizinisch-psychologische Gutachten den Nachweis für nicht mehr ausreichend aktuell. Allerdings hat die Klägerin im Rahmen des ärztlichen Gutachtens am 16. und 30. August 2021 zwei Urinproben und im Rahmen der medizinisch-psychologischen Untersuchung eine weitere Urinprobe (Befundeingang 24.11.2021) abgegeben. Damit lagen bei Abfassung des Gutachtens für einen Zeitraum von etwa einem Jahr eine negative Haaranalyse und drei negative Urinproben als Abstinenznachweise vor. Aus welchen Gründen das medizinisch-psychologische Gutachten hierzu auf S. 14 ausführt, die von der Klägerin beigebrachten Abstinenzbelege entsprächen den CTU-Kriterien „nicht ohne Weiteres“, erschließt sich nicht. Für die Urinproben halten sowohl das ärztliche Gutachten (S. 6) als auch das medizinisch-psychologische Gutachten (S. 8) ausdrücklich fest, die Probengewinnung und die Untersuchung entsprächen den CTU-Kriterien. Gleiches gilt aber laut auch medizinisch-psychologischem Gutachten (S. 3) für die Haaranalyse, zumindest „soweit dies aus den Unterlagen nachprüfbar ist“. Hierzu steht die Bewertung auf S. 14 des Gutachtens in Widerspruch, wozu die Verfasser des Gutachtens im Klageverfahren ebenfalls zu befragen sind.
zugrundeliegende(n) Frage(n) zu beantworten und gegebenenfalls die hierzu erforderlichen Feststellungen zu treffen. Weder die Behörde noch das Gericht kann die Einschätzung des Gutachters ersetzen. Ist jedoch – wie hier – diese Einschätzung nicht nachvollziehbar begründet, obliegt es dem Gericht, dem nachzugehen und den Gutachter hierzu zu befragen. Es erscheint jedenfalls aus den genannten Gründen nicht von vornherein ausgeschlossen, dass das medizinisch-psychologische Gutachten bei Zugrundelegung einer Drogengefährdung ohne Anzeichen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik (Hypothese D3) und ausreichenden Abstinenznachweisen durch eine Haaranalyse und drei Urinproben im Laufe eines Jahres, die den CTU-Kriterien entsprechen, unter Berücksichtigung der grundsätzlich als „günstig“ bewerteten Angaben der Klägerin (S. 16 des Gutachtens) zu einem für sie positiven Ergebnis gekommen wäre. Damit können aber hinreichende Erfolgsaussichten der Klage nicht verneint werden.
2. Aufgrund der Komplexität der aufgeworfenen Fragen und der Bedeutung des Verfahrensausgangs für die rechtsunkundige Antragstellerin erscheint die Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO erforderlich.
3. Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Eine Gebühr nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) fällt nicht an, da die Beschwerde in vollem Umfang Erfolg hat. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).