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Wiederaufnahme eines bereits eingestellten Bußgeldverfahrens

LG Berlin – Az.: 534 Qs 42/19 – Beschluss vom 13.05.2019

Die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 05. April 2019 wird auf seine Kosten verworfen.

Gründe

I.

Dem Betroffenen wurde in hiesigem Ordnungswidrigkeitenverfahren (Az. des Polizeipräsidenten in Berlin – Bußgeldstelle – …) zur Last gelegt, am 28. September 2018 als Führer eines PKW mit dem amtlichen Kennzeichen … die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 24 km/h überschritten zu haben. Mit Schreiben vom 16. Oktober 2018 wurde er in diesem Verfahren angehört. Mit Fax vom 03. Dezember 2018 meldete sich der Verteidiger Rechtsanwalt … unter Nennung des Az. … sowie unter Beilegung einer auf den 27. November 2018 datierenden Vollmacht, die augenscheinlich von dem Betroffenen unterschrieben wurde, und begehrte insbesondere die Einstellung des Bußgeldverfahrens.

Am 18. Dezember 2018 erließ der Polizeipräsident in Berlin – Bußgeldstelle – gegen den Betroffenen einen Bußgeldbescheid in Höhe von 90 Euro zuzüglich Gebühren und Auslagen in Höhe von 28,50 Euro sowie einem Punkt im Verkehrszentralregister. Dieser Bescheid wurde dem Verteidiger am 22. Dezember 2018 zugestellt; der Verteidiger legte hiergegen mit Fax vom 27. Dezember 2018 Einspruch ein. Am 21. Januar 2019 gewährte der Polizeipräsident in Berlin – Bußgeldstelle – dem Verteidiger Akteneinsicht mit einer Stellungnahmefrist bis zum 10. Februar 2019.

Am 13. Februar 2019 wurde der Vorgang seitens der Verwaltungsbehörde an die Justizbehörde abgegeben, wo er ausweislich des Poststempels am 01. März 2019 einging. Ebenfalls am 13. Februar 2019 übersandte der Verteidiger zu dem Az. 58.81.638110.8 ein Fax an den Polizeipräsidenten in Berlin – Bußgeldstelle – mit dem Inhalt, dass er „namens und in Vollmacht der/des Betroffenen den Einspruch zurück[nehme]“; das Fax ging am selben Tag bei dem Polizeipräsidenten in Berlin ein, wurde in der Folge jedoch erst verzögert an die Amtsanwaltschaft Berlin bzw. das Amtsgericht Tiergarten weitergeleitet.

Mit Schreiben vom 11. März 2019 teilte das Amtsgericht Tiergarten – in Unkenntnis der Einspruchsrücknahme des Verteidigers vom 13. Februar 2019 – diesem mit, dass es beabsichtige, das Verfahren gemäß § 47 Abs. 2 OWiG einzustellen. Der Verteidiger stimmte dieser Einstellung – in Kenntnis der von ihm am 13. Februar 2019 erklärten Einspruchsrücknahme – mit Schreiben vom 15. März 2019 zu, worauf das Gericht mit Beschluss vom 21. März 2019 das Verfahren nach § 47 Abs. 2 OWiG einstellte.

Nachdem das Gericht von der vorangegangenen Rücknahme des Einspruchs durch den Verteidiger Kenntnis erlangt hatte, hob es mit Beschluss vom 05. April 2019 den Beschluss vom 21. März 2019 auf, stellte fest, dass der Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin am 13. Februar 2019 Rechtskraft erlangt hatte, und legte dem Betroffenen die Kosten des Verfahrens sowie seine notwendigen Auslagen auf.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Betroffenen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Die durch den Verteidiger am 13. Februar 2019 erfolgte Rücknahme des Einspruchs war wirksam, so dass der Bußgeldbescheid vom 18. Dezember 2018 zunächst formell und materiell in Rechtskraft erwuchs. Das Amtsgericht Tiergarten hat rechtmäßig das nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellte Verfahren wegen des Hinzutretens neuer Umstände aufgehoben und die rechtskräftige Erledigung des Bußgeldverfahrens festgestellt.

Die Rücknahme des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid war wirksam, so dass der Bußgeldbescheid mit Wirkung vom 13. Februar 2019 rechtskräftig geworden ist. Die Rücknahme des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid war bis zum Beginn der Verkündung des Amtsgerichtsurteils in der Sache selbst bzw. bis zum Erlass des Beschlusses nach § 72 OWiG statthaft (vgl. Ellbogen in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 67 OWiG, Rn 100). Dass die schriftliche Vollmacht in hiesigem Verfahren noch vor dem Erlass des Bußgeldbescheides erteilt worden war, ist für deren Wirksamkeit unschädlich, da die Vollmacht nach Aktenlage explizit für hiesiges Verfahren erteilt wurde und es sich hierbei nicht um eine „allgemeine Strafprozessvollmacht“ – wie sie der vom Verteidiger genannten Rechtsprechung des OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.02.2013, Az. III-3 RVs 24/13, 3 RVs 24/13, zu Grunde lag – handelte.

Die Einspruchsrücknahme ist am 13. Februar 2019 auch gegenüber der zuständigen Stelle erfolgt. Denn am 13. Februar 2019 war das Verfahren noch bei dem Polizeipräsidenten in Berlin – Bußgeldstelle – anhängig (vgl. zum maßgeblichen Kriterium der Anhängigkeit § 69 Abs. 4 S. 1 OWiG und Gertler in: BeckOK OWiG, Graf, 22. Edition, Stand: 15.03.2019, § 67 OWiG, Rn 148). Die Kammer teilt insofern nicht die Rechtsauffassung des Verteidigers, dass die Zuständigkeit für die Entgegennahme der Rücknahmeerklärung bereits mit Absendung der Verwaltungsakten an die Amtsanwaltschaft Berlin am 13. Februar 2019 auf diese übergegangen sei (so aber Ellbogen in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 67 OWiG, Rn 105, mit Verweis auf Göhler/Seitz, Rn. 38). Diese Ansicht ist mit dem Wortlaut des § 69 Abs. 4 S. 1 OWiG nicht vereinbar, da nach dem Gesetz die Aufgaben der Verwaltungsbehörde (erst) mit dem Eingang der Akten bei der Staatsanwaltschaft auf diese übergehen. So lange sich die Akten daher im Transfer von der Verwaltungsbehörde zur Staats- bzw. Amtsanwaltschaft befinden, ist das Verfahren dort noch nicht anhängig und die Verwaltungsbehörde mithin weiter zur Entgegennahme von Rücknahmeerklärungen zuständig.

Der Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin – Bußgeldstelle – vom 18. Dezember 2018 erwuchs mithin am 13. Februar 2019 zunächst formell und materiell in Rechtskraft.

Die rechtzeitig erfolgte und wirksame Rücknahme des Einspruchs bildete somit grundsätzlich ein Verfahrenshindernis, auch wenn das Amtsgericht Tiergarten hiervon bei dem Erlass des Beschlusses vom 21. März 2019 keine Kenntnis hatte (vgl. Heribert Blum in: Blum/Gassner/Seith, Ordnungswidrigkeitengesetz, 1. Auflage 2016, § 67 OWiG, Rn 40; BayObLG, Beschluss vom 20. Dezember 2000 – 1 ObOWi 586/00).

Der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 21. März 2019 über die Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG war auf Grund des bereits formell und materiell rechtskräftigen Bußgeldbescheids zwar objektiv rechtswidrig, jedoch nicht nichtig. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 12. November 1984 – 2 BvR 1350/84) und des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 24. Januar 1984 – 1 StR 874/83) ist eine Entscheidung eines Gerichts nur dann nichtig, wenn sie an einem so schweren, offen zutage liegenden Mangel leidet, dass es auch bei Berücksichtigung der Belange der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus schlechthin unerträglich wäre, es als unabänderlich hinzunehmen. Solche schwerwiegenden Mängel lagen mit dem Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 21. März 2019 nicht vor. Aus den gleichen Gründen handelt es sich bei dem Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten auch nicht um einen wirkungslosen sog. Nicht-Beschluss (vgl. insofern: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19. November 1959 – 2 StR 357/59).

Ob der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 21. März 2019 die Rechtskraft des Bußgeldbescheides überlagerte (vgl. hierzu Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19. November 1959 – 2 StR 357/59 – und Beschluss vom 16. November 1962 – 2 StR 316/62; OLG Bamberg, 3. Senat für Bußgeldsachen, Beschluss vom 15. Februar 2017 – 3 Ss OWi 1294/16), hatte die Kammer vorliegend nicht zu entscheiden. Denn selbst im Falle einer Überlagerung der Rechtskraft des Bußgeldbescheides durch die Einstellung vom 21. März 2019 war das Amtsgericht Tiergarten im vorliegenden Fall befugt, den Beschluss auf Grund des Vorliegens neuer erheblicher Tatsachen – namentlich der nunmehr bekannt gewordenen Rechtskraft des Bußgeldbescheides – wieder aufzunehmen und seine Entscheidung abzuändern.

Ob eine Wiederaufnahme des nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellten Verfahrens (bzw. die Neueinleitung eines Verfahrens mit demselben Verfahrensgegenstand) bei Bekanntwerden erheblicher neuer Umstände zulässig ist, ist in der Rechtsprechung und Literatur umstritten.

In der Literatur wird eine Wiederaufnahme des nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellten Verfahrens überwiegend für zulässig gehalten, wenn dem Gericht erhebliche neue Umstände bekannt geworden sind, welcher der vorangegangenen Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG nunmehr die Grundlage entziehen (vgl. Bohnert/Krenberger/Krumm in: Krenberger/Krumm, OWiG 5. Auflage 2018, § 47 OWiG, Rn 27; A. Bücherl in: BeckOK OWiG, Graf 22. Edition, Stand: 15.03.2019, § 47 OWiG, Rn 39; Mitsch in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 47 OWiG, Rn 37 m.w.N.; vgl. zur Erheblichkeit der neuen Tatsachen: Schneider in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage 2019, § 211 StPO, Rn 5).

Nach der restriktiveren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 26. August 2003 – 5 StR 145/03 (LG Berlin), Juris Rn 5) ist hingegen eine Wiederaufnahme bzw. Neueröffnung eines (dort: nach § 153 Abs. 2 StPO) eingestellten Verfahrens nicht ohne Weiteres möglich:

„Die Möglichkeit, das Verfahren wegen neuer Tatsachen ohne weiteres wieder aufnehmen bzw. neu eröffnen zu können, wäre mit der systematischen Einordnung der gerichtlichen Einstellung nach § 153 Absatz II StPO nicht in Einklang zu bringen. Wenn der Richter den Sachverhalt umfassend ermitteln kann, rechtfertigt dies regelmäßig nicht, zu Lasten des Betr. eine Durchbrechung der Rechtssicherheit zuzulassen, sofern sich neue Tatsachen ergeben. Die gerichtliche Einstellung nach § 153 Absatz II StPO ist dem Urteilsverfahren ähnlich. Nach Urteilserlass ermöglicht § 362 StPO allein wegen neuer Tatsachen keine Wiederaufnahme zu Lasten des Angekl. und damit auch keine Durchbrechung der Rechtskraft zu Ungunsten des Angekl. Kommt das Gericht, dem im Vorfeld der Einstellung nach § 153 Absatz II StPO dasselbe Aufklärungspotenzial zur Verfügung steht, zu dem Ergebnis, anstelle eines Urteilsspruchs das Verfahren nach § 153 Absatz II StPO einzustellen, wäre schwerlich nachvollziehbar, warum die richterliche Entscheidung in diesem Falle bei Auftreten neuer Tatsachen durch eine Neueröffnung des Verfahrens faktisch gegenstandslos werden sollte …“

Auch unter Zugrundelegung dieser restriktiveren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – die eine Wiederaufnahme lediglich nicht „ohne weiteres“ bzw. „regelmäßig nicht“ zulässt – ist aus Sicht der Kammer eine Wiederaufnahme eines nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellten Verfahrens zumindest dann zulässig, wenn – wie hier – der Verteidiger bei seiner Zustimmung über die Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG die durch ihn im Namen des Betroffenen abgegebene Rücknahme des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid kannte, er die bereits erfolgte Rücknahme bei seiner Zustimmung zu der Verfahrenseinstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG dem Gericht verschweigt, das Gericht daraufhin in Unkenntnis der bereits eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheides eine rechtswidrige Einstellung des Verfahrens vornimmt und unverschuldet erst später von der bereits eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheides erfährt.

Denn in einer solchen Konstellation konnten weder der Verteidiger noch der Betroffene – im Sinne der von dem Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 26. August 2003 aufgestellten Grundsätze – ein schützenswertes Vertrauen in den Bestand der von dem Gericht vorgenommenen Einstellung bilden. Das Interesse der Rechtsgemeinschaft an der Beseitigung der rechtswidrigen Verfahrenseinstellung (hier. nach § 47 Abs. 2 OWiG) und an der Wiederherstellung der ursprünglich eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheides überwiegen in diesem Fall das nicht schützenswerte Interesse des Betroffenen an dem Fortbestand der Einstellung deutlich.

Der Betroffene hatte schließlich die Kosten des weiteren vor dem Amtsgericht Tiergarten geführten Verfahrens zu tragen, da er im Ergebnis in der Sache unterlag (vgl. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 19. November 1959 – Az. 2 StR 357/59; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 26. November 1984 – Az. 5 Ss 349/84 – 312/84 I; OLG Bamberg, Beschluss vom 15. Februar 2017 – Az. 3 Ss OWi 1294/16).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

 

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