Az.: 322 SsRs 280/13
Beschluss vom 28.10.2013
Leitsatz:
1. Es kann davon ausgegangen werden, dass ordnungsgemäß aufgestellte Vorschriftszeichen von Verkehrsteilnehmern in aller Regel wahrgenommen werden. Daher braucht die Möglichkeit, dass der Betroffene das Vorschriftszeichen übersehen hat, nur in Rechnung gestellt zu werden, wenn sich hierfür Anhaltspunkte ergeben. (im Anschluss an BGHSt 43, 241).
2. Bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen kann in der Regel von vorsätzlicher Begehungsweise ausgegangen werden, wobei dies nach der Rechtsprechung ab Überschreitungen von ca. 40 % angenommen wird. Bei niedrigeren Überschreitungen müssen weitere Indizien herangezogen werden, wie etwa das Vorliegen von mehreren Geschwindigkeitsüberschreitungen in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang.
1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Soltau vom 11.07.2013 wird zugelassen (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG).
2. Die Sache wird dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen, weil es geboten ist, das Urteil zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nachzuprüfen (§ 80a Abs. 3 OWiG).
3. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird mit der Maßgabe verworfen, dass der Betroffene eines fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit schuldig ist und gegen ihn eine Geldbuße von 80,00 € verhängt wird. Die Feststellungen im angefochtenen Urteil zur vorsätzlichen Begehung werden aufgehoben.
4. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens werden dem Betroffenen auferlegt. Sie werden jedoch um 25 % ermäßigt. In dieser Höhe sind auch die notwendigen Auslagen des Betroffenen von der Landeskasse zu erstatten.
Gründe
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen vorsätzlichen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 26 km/h zu einer Geldbuße von 160,00 € verurteilt. Nach den Feststellungen befuhr der Betroffene am 28.09.2012 mit einem Pkw BMW die Bundesautobahn 7 in Richtung H. mit einer vorwerfbaren Geschwindigkeit von 126 km/h, obwohl die Geschwindigkeit zuvor durch drei beidseitig aufgestellte Schilderpaare auf 100 km/h beschränkt worden war. Die Messung erfolgte mit dem Messgerät LEIVTEC XV 3 durch einen geschulten Messbeamten entsprechend den Herstellerangaben. Anhaltspunkte für eine Fehlmessung gab es nicht. Nach den Feststellungen nahm der Betroffene die Geschwindigkeitsüberschreitung mindestens bedingt in Kauf. Da der Betroffene drei Schilderpaare passiert habe, habe er nach der Überzeugung des Gerichts jedenfalls die letzte Wiederholungsbeschilderung auch bemerkt oder jedenfalls infolge länger andauernder völliger Unaufmerksamkeit billigend in Kauf genommen. Dass der Betroffene mit einer Geschwindigkeit gefahren sei, die mehr als 25 % über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gelegen habe, lasse auf eine jedenfalls bedingt vorsätzliche Begehungsweise schließen. Dem Betroffenen sei es nach der Überzeugung des Gerichts ohne weiteres möglich gewesen, seine Geschwindigkeit schon anhand der Fahrgeräusche des ihm vertrauten Fahrzeugs, der sonstigen Fahrgeräusche und/oder anhand der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung verändere, ausreichend zuverlässig zu schätzen und zu erkennen, dass er die erlaubte Geschwindigkeit wesentlich überschreite.
Gegen dieses Urteil wendet der Betroffene sich mit seinem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Er hält die Zulassung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung für geboten und rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Mit seiner allgemein erhobenen Sachrüge stellt er das angefochtene Urteil insgesamt zur Nachprüfung, rügt aber insbesondere die Verurteilung wegen Vorsatzes.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Antrag als unbegründet zu verwerfen, da es sich bei der Vorsatzfrage um Entscheidungen im Einzelfall handele.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde war zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen und auf den Senat zu übertragen. Zwar ist die Frage des Vorliegens einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung in der Regel als eine solche des Einzelfalls anzusehen (KG, Beschluss v. 29.09.2000, 2 Ss 218/00, juris). Der Bußgeldrichter hat hier bei der Beurteilung der Frage, ob eine vorsätzliche Begehensweise vorliegt, jedoch gerade nicht anhand der Umstände des Einzelfalls entschieden, sondern einen allgemeinen Rechtssatz aufgestellt, wonach daraus, dass der Betroffene mit einer Geschwindigkeit von mehr als 24 % über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gefahren ist, auf eine bedingt vorsätzliche Begehungsweise geschlossen werden könne. Dies entspricht nicht der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung (siehe dazu unten 2.). Die Rechtsbeschwerde war daher zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen und auf den Senat zu übertragen, zumal davon auszugehen ist, dass sich ähnliche Fallkonstellationen wiederholen können.
2. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat teilweise Erfolg, da die Verurteilung wegen vorsätzlicher Begehungsweise keinen Bestand haben konnte. Der Senat hat insoweit von seiner Möglichkeit Gebrauch gemacht, gemäß § 79 Abs. 6 OWiG in der Sache selbst zu entscheiden und wegen fahrlässiger Begehungsweise verurteilt und das Bußgeld ermäßigt. Im Übrigen hatte die Rechtsbeschwerde jedoch keinen Erfolg.
a) Die Feststellungen zur objektiven Tatseite im angefochtenen Urteil lassen keinen Rechtsfehler erkennen. Messungen mit dem Messgerät LEIVTEC XV 3 sind von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zugelassen (vgl. dazu Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 3. Aufl., Rdnr. 1327a). Die Messung ist als standardisiertes Messverfahren anerkannt (vgl. dazu AG Gelnhausen, Urteil vom 06.07.2012, 44 OWi – 2575 Js 6195/12, juris; AG Wetzlar, Urteil vom 05.06.2012, 45 OWi – 2 JS 53476/12, juris). Eine Verfahrensrüge zur Ordnungsmäßigkeit der Messung ist vom Betroffenen nicht erhoben worden.
b) Die Verurteilung wegen vorsätzlichen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit konnte hingegen keinen Bestand haben.
Die Verurteilung wegen Vorsatzes bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung auf der Autobahn setzt zum einen Kenntnis von der bestehenden Geschwindigkeitsbeschränkung und zum anderen Kenntnis von ihrer Überschreitung voraus (vgl. dazu etwa KG, VRS 122, 232; OLG Zweibrücken DAR 2011, 274). Das Amtsgericht hat hier die Kenntnis des Betroffenen von der bestehenden Geschwindigkeitsbeschränkung daraus abgeleitet, dass der Betroffene drei Schilderpaare mit der Geschwindigkeitsbegrenzung passiert hatte. Diese Schlussfolgerung entspricht der obergerichtlichen Rechtsprechung, wonach davon ausgegangen werden kann, dass ordnungsgemäß aufgestellte Vorschriftszeichen von Verkehrsteilnehmern in aller Regel wahrgenommen werden, auch wenn es dazu keine ge-nauen, durch wissenschaftliche Erhebungen gesicherten Erkenntnisse geben mag (vgl. BGHSt 43, 241, 250; OLG Jena, DAR 2008, 35; OLG Celle, NZV 2011, 618). Die Möglichkeit, dass der Betroffene das Vorschriftszeichen übersehen hat, brauchen die Gerichte nur in Rechnung zu stellen, wenn sich hierfür Anhaltspunkte ergeben oder der Betroffene dies im Verfahren einwendet (BGH, a.a.O.). Genau dies war hier nicht der Fall. Der Betroffene hat sich nicht darauf berufen, die Begrenzung übersehen zu haben, sondern die Ordnungsmäßigkeit der Messung angezweifelt.
Die Feststellungen des Amtsgerichts zur Kenntnis des Betroffenen von der Überschreitung dieser Geschwindigkeitsbegrenzung können jedoch keinen Bestand haben. Das Amtsgericht stützt diese Feststellungen, also dass der Betroffene eine Überschreitung der bestehenden Geschwindigkeitsbeschränkung für möglich hielt, auf den Erfahrungssatz, dass der Betroffene bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 25 % über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit anhand der Fahrgeräusche und anhand der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung verändert, seine Geschwindigkeit ohne Weiteres zuverlässig schätzen und erkennen könne, dass er die erlaubte Geschwindigkeit wesentlich überschreite. Dies lässt sich mit der bestehenden obergerichtlichen Rechtsprechung zur Annahme von vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitungen nicht vereinbaren.
In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen in der Regel von vorsätzlicher Begehungsweise ausgegangen werden kann, wenn anhand der Motorengeräusche, der sonstigen Fahrgeräusche, der Fahrzeugvibration und anhand der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung ändert, der Fahrer zuverlässig einschätzen kann und dadurch erkennt, dass er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit wesentlich überschreitet (vgl. dazu OLG Koblenz, DAR 1999, 227; KG, Beschluss vom 29.09.2000, 2 Ss 218/00; OLG Celle, NZV 2011, 618; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2006, 249; OLG Düsseldorf, NZV 1995, 161; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 3 StVO, Rdnr. 56). Bei „erheblichen“ Geschwindigkeitsüberschreitungen im Sinne dieser Rechtsprechung handelt es sich um Werte von
– 38,75 % (Kammergericht, Beschluss vom 16.06.1999, 2 Ss 130/99),
– 40 % (Kammergericht, Beschluss vom 29.09.2000, 2 Ss 218/00; OLG Koblenz, DAR 1999, 227),
– 45 % (OLG Celle, NZV 2011, 618) und
– 50 % (OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2006, 249).
Demgegenüber kann bei niedrigeren Geschwindigkeitsüberschreitungen, etwa
– 32 % (OLG Brandenburg, DAR 2008, 532), bzw.
– 23,75 % (OLG Jena, DAR 2008, 35)
eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Überschreitung der Geschwindigkeit nicht allein aus der Höhe der Überschreitung abgeleitet werden, sondern es müssen weitere Indizien herangezogen werden, wie etwa das Vorliegen von mehreren Geschwindigkeitsverstößen in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang. Solche weiteren Indizien für eine vorsätzliche Begehungsweise hat das Amtsgericht hier nicht festgestellt und sie sind auch nicht sonst aus den Urteilsgründen erkennbar. Die Feststellungen im angefochtenen Urteil tragen mithin nur eine Verurteilung wegen fahrlässiger Begehungsweise. Das angefochtene Urteil war daher zum subjektiven Tatbestand mit den Feststellungen sowie zum Rechtsfolgenausspruch aufzuheben.
c) Der Senat kann ausschließen, dass bei einer erneuten Verhandlung weitere Feststellungen getroffen werden können, aus denen sich eine vorsätzliche Begehungsweise ableiten ließe. Der Senat macht daher von seiner Möglichkeit nach § 79 Abs. 6 OWiG Gebrauch, in der Sache selbst zu entscheiden.
d) Der Betroffene war aufgrund der übrigen getroffenen Feststellungen wegen einer fahrlässigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu verurteilen. Auch zum Rechtsfolgenausspruch sind keine Umstände erkennbar, die ein Abweichen von der im Bußgeldkatalog für die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung vorgesehenen Regelgeldbuße von 80,00 € gerechtfertigt hätten. Insbesondere liegen, so die Feststellungen des Amtsgerichts, keine Voreintragungen im Verkehrszentralregister vor. Demnach war die Geldbuße auf einen Betrag von 80,00 € festzusetzen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 4 Satz 1 StPO. Der Betroffene hat mit seiner Rechtsbeschwerde einen Teilerfolg, den der Senat auf 25 % bemessen hat, da der Betroffene seine Sachrüge allgemein erhoben und das angefochtene Urteil insgesamt zur Nachprüfung gestellt hat. In Höhe von 25 % waren die Kosten jedoch gemäß § 473 Abs. 3 StPO zu ermäßigen, da davon auszugehen ist, dass der Betroffene dann, wenn er nur wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsübertretung verurteilt worden wäre, keine Rechtsbeschwerde eingelegt hätte.