Bayerischer Verwaltungsgerichtshof – Az.: 11 CE 11.947 – Beschluss vom 30.06.2011
I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 1. April 2011 wird aufgehoben.
II. Der Antrag wird abgelehnt.
III. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.
IV. Der Streitwert wird für beide Rechtszüge jeweils auf 6.250 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt die vorläufige Neuerteilung einer Fahrerlaubnis im einstweiligen Rechtsschutzverfahren.
Zuletzt wurde ihm mit Urteil des Amtsgerichts Landsberg a. Lech vom 18. April 2006 die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Art entzogen, weil er am 13. November 2005 als Führer eines Kraftfahrzeugs mit einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,35 Promille am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen hatte.
Bereits am 6. Juli 2006 hatte der Antragsteller die Wiedererteilung seiner Fahrerlaubnis beantragt. Auf Aufforderung der Fahrerlaubnisbehörde hin unterzog er sich einer medizinisch-psychologischen Begutachtung (erstellt am 26.3.2007), die zum Ergebnis kam, dass zu erwarten sei, dass er auch zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde. Sein Wiedererteilungsantrag wurde daraufhin abgelehnt.
Im Rahmen der anschließenden Verpflichtungsklage erhob das Verwaltungsgericht München Beweis durch Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens (erstellt am 3.12.2008), das zu dem Ergebnis kommt, dass der Antragsteller aus ärztlicher Sicht zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht geeignet sei sowie durch die Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (erstellt am 4.12.2008), das zu dem Ergebnis kommt, dass der Antragsteller zukünftig nicht zuverlässig zwischen dem Führen eines Kraftfahrzeugs und dem Trinken von Alkohol trennen werde und dass ein verkehrs- und regelkonformes Fahrverhalten aufgrund der fehlenden selbstkritischen Verarbeitung der früheren Vorfälle nicht angenommen werden könne. Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab; der Antrag auf Zulassung der Berufung zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof blieb ohne Erfolg.
Am 30. Juni 2009 stellte der Antragsteller erneut einen Antrag auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis. Am 7. September 2010 unterzog er sich auf Anforderung der Fahrerlaubnisbehörde einer weiteren medizinisch-psychologischen Untersuchung, die zum Ergebnis kam, es sei nicht zu erwarten, dass er zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde und es sei zudem trotz der aktenkundigen Straftaten zu erwarten, dass er nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde.
Der Antragsgegner hielt das Gutachten für nicht nachvollziehbar und lehnte den Neuerteilungsantrag ab. Der Antragsteller ließ durch seinen Bevollmächtigten Verpflichtungsklage erheben und stellte einen Antrag nach § 123 VwGO mit dem Inhalt,
den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, dem Antragsteller die Fahrerlaubnis der Klassen B und C 1 E auszustellen.
Das Verwaltungsgericht München gab dem Antrag nach § 123 VwGO mit Beschluss vom 1. April 2011 statt und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, der Antragsteller habe nunmehr ein nachvollziehbares medizinisch-psychologisches Gutachten vorgelegt, wonach er die Fahreignung wiedererlangt habe.
Hiergegen wendet sich der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren und trägt zur Begründung im Wesentlichen vor, das Gutachten vom 27. September 2010 sei nicht nachvollziehbar.
Der Antragsteller verteidigt den angegriffenen Beschluss.
Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der Antragsteller hat unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Im Unterschied zu der sonst im Rahmen der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs vorausgesetzten überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. z.B. Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 123, RdNr. 77) verlangt der Senat in gefestigter Rechtsprechung, dass eine deutlich überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Bestehen der Fahrberechtigung sprechen muss, weil auch die Zuerkennung der nur vorläufigen Berechtigung, fahrerlaubnispflichtige Fahrzeuge im Straßenverkehr zu führen, zu erheblichen Gefährdungen Rechtsgüter Dritter führen kann (etwa BayVGH vom 16.8.2010 Az. 11 CE 10.262).
Ausweislich des Akteninhalts ergibt die führerscheinrechtliche Biografie des Antragstellers seit der Begutachtung vom 4. Dezember 2008 bis zur Begutachtung vom 27. September 2010 nur insofern Neues, als der Antragsteller mit Urteil des Amtsgerichts Starnberg vom 7. April 2010 von dem Vorwurf des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in drei Fällen freigesprochen wurde. Außerdem legte er eine Bescheinigung vor, wonach er zwischen dem 27. Mai 2010 und dem 6. September 2010 zehn Sitzungen in Einzeltherapie bei einem Diplom-Psychologen in Berlin absolviert habe.
Aus dem Gutachten vom 27. September 2010, insbesondere auch aus der ergänzenden Stellungnahme der begutachtenden Diplompsychologin vom 11. Januar 2011 geht hervor, dass das jetzt positive Ergebnis der Beurteilung der Fahreignung des Antragstellers im Wesentlichen damit begründet wird, dass dieser durch seine mehrjährige Therapie nunmehr in der Lage sei, mit seiner Impulskontroll- und Anpassungsstörung, insbesondere in Beziehungsfragen, konstruktiv umzugehen. Dies rechtfertige im Zusammenwirken mit seiner mehrjährigen Legalbewährung eine positive Prognose. Bezug genommen wird dabei auf eine stationäre Therapie im Jahr 2006 und eine anschließende ambulante Therapie, die etwa zwei Jahre gedauert hat.
Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass die beiden Gutachten vom 4. Dezember 2008 und 27. September 2010 aus der Absolvierung dieser Therapie völlig gegenteilige Schlüsse ziehen. Während das Gutachten vom 27. September 2010 hierin mit den entscheidenden Grund für eine positive Prognose in Bezug auf den Antragsteller sieht, führt das Gutachten vom 4. Dezember 2008 aus, eine angemessene Verarbeitung der Ursachen des früheren Alkohol- und Drogenmissbrauchs des Antragstellers könne nicht in ausreichendem Umfang belegt werden, da er seine derzeitigen Erkenntnisse nur sehr allgemein, unspezifisch und wenig persönlich erlebt geschildert habe. Eine objektive Darstellung der im Rahmen der besagten Therapie erfolgten Behandlungen etwa durch die Vorlage des Therapieberichts der Klinik sei nicht erfolgt, so dass auch insoweit nichts Gegenteiliges angenommen werden könne. Sein Änderungsmotiv begründe sich nicht aus der Erkenntnis seines früheren Drogen- und jetzigen auf Alkohol beschränkten Problems, sondern lediglich aus der damaligen Beziehungsproblematik. Demgegenüber sieht das Gutachten vom 27. September 2010 in der Bewältigung der Beziehungsproblematik den zentralen Gesichtspunkt für die positive Prognose für den Antragsteller.
Nachdem beide Gutachten, ohne dass sie von einer wesentlich unterschiedlichen Tatsachengrundlage auszugehen hatten, zu einem konträren Ergebnis kommen, kann der Senat derzeit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Fahreignung des Antragstellers annehmen. Dies gilt umso mehr, als auch die beiden weiteren Gutachten vom 3. Dezember 2008 und vom 26. März 2007 zu einem für den Antragsteller negativen Ergebnis kommen, obwohl auch in Bezug auf diese beiden Gutachten die relevante Sachlage von derjenigen im Zeitpunkt der Erstellung des neuesten Gutachtens nicht wesentlich zu unterscheiden ist. Insbesondere ist auch die Argumentation im Gutachten vom 27. September 2010, auch die „Legalbewährung“ des Antragstellers rechtfertige nunmehr eine positive Prognose, vor dem Hintergrund, dass er in dieser „Bewährungszeit“ über keine Fahrerlaubnis verfügte, nicht aussagekräftig. Ob sich etwas anderes aus den absolvierten zehn Sitzungen Einzeltherapie vom 27. Mai 2010 bis 6. September 2010 ergibt, vermag der Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht zu beurteilen, da sich aus den Akten nichts zum insoweit möglicherweise erzielten Therapieerfolg ergibt. Auch das Gutachten vom 27. September 2010 geht hierauf nicht näher ein. Damit wird im Hauptsacheverfahren, gegebenenfalls durch Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens, das die Widersprüchlichkeiten der bislang erstellten Gutachten berücksichtigt, der Sachverhalt weiter aufzuklären sein.
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG in Verbindung mit den Empfehlungen in dem Abschnitt II Nrn. 1.5, 46.3, 46.5 und 46.8 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).