KG – Az.: 3 Ws (B) 328/21 – Beschluss vom 07.02.2022
In der Bußgeldsache wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 7. Februar 2022 beschlossen:
Auf den Antrag des Betroffenen wird die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Juli 2021 zugelassen.
Auf die Rechtsbeschwerde wird das Urteil mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Der Polizeipräsident in Berlin hat mit Bußgeldbescheid vom 18. Juni 2020 gegen den Betroffenen wegen (einfachen) Rotlichtverstoßes unter bußgelderhöhender Berücksichtigung von Voreintragungen ein Bußgeld in Höhe von 180,00 Euro verhängt. Nachdem der Betroffene gegen den Bußgeldbescheid form- und fristgerecht Einspruch eingelegt hatte, hat das Amtsgericht Tiergarten Termin zur Hauptverhandlung für den 27. Juli 2021 anberaumt, zu dem der Betroffene und sein Verteidiger ordnungsgemäß geladen worden sind.
Mit Schriftsatz vom 26. Juli 2021, der dem Gericht vor Aufruf der Sache vorgelegen hat, hat der Verteidiger für den Betroffenen die Verlegung des Hauptverhandlungstermins beantragt, da der Betroffene „akut verhandlungsunfähig erkrankt“ sei. Der Verteidiger hat ein ärztliches Attest vom 26. Juli 2021 angefügt, in dem – unter Angabe des Namens und der Kontaktdaten der ausstellenden Ärztin – ausgeführt wird, dass der Betroffene „aufgrund einer akuten Erkrankung derzeit arbeitsunfähig geschrieben und [..] somit aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage [sei], an gerichtlichen Verhandlungen bzw. Anhörungen teilzunehmen“. Aus der beigefügten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom selben Tag ergibt sich eine Arbeitsunfähigkeit vom 26. bis 30. Juli 2021. In seinem Schriftsatz führt der Verteidiger weiter aus, dass der Betroffene im August 2021 seinen Erholungsjahresurlaub antreten werde.
Nachdem weder der Betroffene noch sein Verteidiger zum Hauptverhandlungstermin erschienen waren, hat das Amtsgericht den Einspruch des Betroffenen mit Urteil vom 27. Juli 2021 nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Zur Begründung hat das Amtsgericht ausgeführt, dass die Verhandlungsunfähigkeit des Betroffenen weder nachvollziehbar vorgetragen noch glaubhaft gemacht worden sei. Eine Diagnose sei in der ärztlichen Bescheinigung nicht angegeben, und es sei nicht ersichtlich, aus welchen Gründen eine Reise- oder Verhandlungsunfähigkeit folge. Die Erklärung, der Betroffene trete im Anschluss an seine kurzzeitige Erkrankung im August Erholungsurlaub an, lasse eine Verhandlungsunfähigkeit wenig wahrscheinlich erscheinen.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seinem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Er macht die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend, erhebt die allgemeine Sachrüge und beantragt die Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts Tiergarten.
II.
Der Zulassungsantrag und die Rechtsbeschwerde haben Erfolg.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) aufzuheben.
a) Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist zulässig erhoben.
Sie genügt insbesondere den Formerfordernissen von §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Danach muss die Rechtsmittelbegründung die den Verfahrensmangel begründenden Tatsachen angeben, so dass das Gericht allein aufgrund der Beschwerdeschrift prüfen kann, ob – für den Fall, dass das Beschwerdevorbringen zutrifft – ein Verfahrensmangel vorliegt (vgl. Senat, Beschlüsse vom 7. Juni 2021 – 3 Ws (B) 143/21 -, juris; vom 29. März 2021 – 3 Ws (B) 70/21 -; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 64. Aufl., § 344 Rn. 20 f. m.w.N.).
Für eine formgerechte Begründung der Verfahrensrüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG muss der Verfahrensgang mitgeteilt werden (vgl. Senat, Beschlüsse vom 2. Dezember 2021 – 3 Ws (B) 323/21 -, juris; vom 15. November 2021 – 3 Ws (B) 293/21 -; vom 27. August 2018 – 3 Ws (B) 194/18 -, juris), und es müssen die die Entschuldigung begründenden bestimmten Tatsachen so schlüssig vorgetragen werden, dass sich dem Rechtsbeschwerdegericht die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Terminteilnahme konkret erschließt (vgl. Senat, Beschlüsse vom 15. November 2021 a.a.O. und vom 14. Mai 2021 – 3 Ws (B) 61/21 -). Außerdem muss die Begründungsschrift – ohne Bezugnahmen oder Verweisungen – grundsätzlich darlegen, welche sachliche Einlassung des Betroffenen unberücksichtigt geblieben ist, wenn – wie hier – eine Gehörsrüge im Raum steht. Denn allein darin liegt die Verletzung des Anspruches auf rechtliches Gehör (vgl. Senat, Beschlüsse vom 15. April 2021 – 3 Ws (B) 86/21 -; vom 7. Mai 2020 – 3 Ws (B) 119/20 -; vom 18. Januar 2018 – 3 Ws (B) 5/18 -, juris; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 5. März 2018 – 6 RB 3/18 -, juris).
Vorliegend entspricht der Vortrag des Betroffenen diesen Anforderungen.
aa) Die Rechtsmittelbegründung teilt den gesamten Verfahrensgang einschließlich der wörtlichen Wiedergabe der Schriftsätze des Verteidigers sowie der gerichtlichen Schreiben mit, gibt den Zeitpunkt der Übermittlung des den Terminverlegungsantrag enthaltenden Schriftsatzes vom 26. Juli 2021 an das Amtsgericht und die Tatsache an, dass eine gerichtliche Entscheidung über diesen Antrag nicht ergangen ist, sondern ein Abwesenheitsurteil mit der Begründung erlassen wurde, dass die Verhandlungsunfähigkeit des Betroffenen weder nachvollziehbar vorgetragen noch glaubhaft gemacht worden sei.
bb) Der für eine formgerechte Begründung der Verfahrensrüge erforderliche schlüssige Vortrag der die Entschuldigung begründenden bestimmten Tatsachen ist ebenfalls erfolgt.
Bei einer Erkrankung ist es erforderlich, die Art der Erkrankung, die aktuell bestehende Symptomatik und die daraus zur Terminzeit resultierenden konkreten körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen darzulegen, die eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unmöglich gemacht haben oder unzumutbar erscheinen lassen, und dass dies dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt war oder im Rahmen seiner Aufklärungspflicht hätte bekannt sein müssen (ständige Rspr.: Senat, Beschlüsse vom 15. November 2021 a.a.O.; vom 14. Juli 2021 – 3 Ws (B) 186/21 -; 7. Juni 2021 a.a.O.; vom 24. Juli 2020 – 3 Ws (B) 166/20 -; vom 7. Dezember 2020 – 3 Ws (B) 302-303/20 -; Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 18. Aufl., § 74 Rn. 29).
Soweit sich die hierfür maßgeblichen Umstände nicht bereits aus den – dem Senat wie hier durch die gleichfalls erhobene Sachrüge eröffneten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 64. Aufl., § 344 Rn. 21a) – Urteilsgründen ergeben, sind sie zur ordnungsgemäßen Erhebung der Verfahrensrüge darzulegen. Diesen Anforderungen wird der Rügevortrag ebenfalls gerecht.
(1) Zunächst ist der Begründung des Rechtsmittels – sowie den Urteilsgründen – zu entnehmen, in welchem Umfang das Amtsgericht zum Zeitpunkt der Entscheidung Kenntnis von der Erkrankung des Betroffenen hatte (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Mai 2021 – 3 Ws (B) 114/21 -): Mit Schriftsatz vom 26. Juli 2021, der dem Gericht vor Aufruf der Sache vorgelegen hat, hat der Verteidiger für den Betroffenen die Verlegung des Hauptverhandlungstermins beantragt, da der Betroffene „akut verhandlungsunfähig erkrankt“ sei. Der Verteidiger hat ein ärztliches Attest vom 26. Juli 2021 angefügt, in dem – unter Angabe des Namens und der Kontaktdaten der ausstellenden Ärztin – ausgeführt wird, dass der Betroffene „aufgrund einer akuten Erkrankung derzeit arbeitsunfähig geschrieben und [..] somit aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage [sei], an gerichtlichen Verhandlungen bzw. Anhörungen teilzunehmen“. Aus der beigefügten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom selben Tag ergibt sich eine Arbeitsunfähigkeit vom 26. bis 30. Juli 2021.
(2) Darüber hinaus wird in der Rechtsmittelbegründung ausgeführt, welche Feststellungen im Rahmen der gerichtlichen Nachforschung – zum Beispiel durch einen Anruf bei der behandelnden Ärztin – insbesondere im Hinblick auf die Symptomatik und die krankheitsbedingten Beeinträchtigungen des Betroffenen hätten getroffen werden können und damit dem Gericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht hätten bekannt sein müssen: In der Rechtsmittelbegründung wird dargelegt, dass der Betroffene akut an einer massiven von Diarrhoe und Magenkrämpfen begleiteten Magen-Darm-Grippe gelitten habe und nicht in der Lage gewesen sei, sich mehr als 15 Minuten außerhalb des Zugangs zu einem Abort zu entfernen. Die Anfahrt zum Gericht vom Wohnort des Betroffenen nehme circa 30 Minuten mit dem privaten Pkw und eine Stunde mit dem öffentlichen Personennahverkehr in Anspruch (Rechtsmittelbegründungsschrift, S. 25, 29, 34).
cc) Ferner ist dem Rügevortrag zu entnehmen, dass der Betroffene durch den Gehörsverstoß mit entscheidungserheblichem Sachvortrag nicht gehört worden ist: Der Betroffene hätte in einer Hauptverhandlung den verfahrensgegenständlichen Tatvorwurf bestritten (vgl. auch Senat, Beschlüsse vom 24. Juli 2020 und vom 7. Mai 2020, jeweils a.a.O.; vom 3. September 2019 – 3 Ws (B) 263/19 -; vom 18. Januar 2018 a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. Oktober 2018 – 3 Ss OWi 1464/18 –, juris). Insbesondere hätte er seine Fahrereigenschaft abgestritten und Anhaltspunkte vorgetragen, aus denen sich, wie er meint, erhebliche Zweifel an der technischen Richtigkeit der verfahrensgegenständlichen Verkehrsüberwachung ergeben hätten (Rechtsmittelbegründungsschrift, S. 31).
b) Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist auch begründet.
Bleibt der Betroffene trotz ordnungsgemäßer Ladung der Hauptverhandlung fern und wird daraufhin sein Einspruch durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, so kann die Einspruchsverwerfung das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzen, wenn rechtzeitig vorgebrachte und hinreichende Entschuldigungsgründe von dem erkennenden Gericht nicht berücksichtigt worden sind oder einem rechtzeitig gestellten Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen (§ 73 Abs. 2 OWiG) zu Unrecht nicht entsprochen worden ist (vgl. Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 5. März 2018 a.a.O. m.w.N.).
Ersteres ist hier der Fall.
aa) Nach § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG ist maßgeblich, ob ein Betroffener objektiv entschuldigt ist, nicht hingegen, ob er sich genügend entschuldigt hat (vgl. Senat, Beschlüsse vom 9. Juli 2019 – 3 Ws (B) 201/19 -, juris; vom 18. Januar 2018 a.a.O.; vom 20. Januar 2017 – 3 Ws (B) 19/16 – und vom 22. März 2002 – 3 Ws (B) 48/02 -, jeweils juris m.w.N.). Entscheidend ist deshalb nicht, was der Betroffene selbst zur Entschuldigung vorgetragen hat, sondern ob sich aus den Umständen, die dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt und im Wege des Freibeweises feststellbar waren, eine ausreichende Entschuldigung ergibt (vgl. Senat, Beschluss vom 22. März 2002, a.a.O.). Ein Betroffener ist angesichts dessen nicht zur Glaubhaftmachung oder zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe verpflichtet (vgl. Senat, Beschlüsse vom 9. Juli 2019 a.a.O.; vom 11. Februar 2019 – 3 Ws (B) 9/19 -, juris; vom 27. August 2018 und vom 18. Januar 2018, jeweils a.a.O; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 5. November 2020 – (2 B) 53 Ss-OWi 439/20 (253/20) -, juris). Liegen Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung vor, hat sich das Gericht um Aufklärung zu bemühen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 9. Juli 2019 und vom 18. Januar 2018, jeweils a.a.O.; vom 20. August 2014 – 3 Ws (B) 388/14 -, juris). Der Einspruch darf nur verworfen werden, wenn sich das Amtsgericht die Überzeugung verschafft hat, dass genügende Entschuldigungsgründe nicht gegeben sind (vgl. Senat, Beschluss vom 2. Juni 2015 – 3 Ws (B) 124/15 -, juris).
Hierbei ist eine großzügige Auslegung zugunsten des Betroffenen geboten (vgl. BGHSt 17, 391; Senat, Beschluss vom 2. Dezember 2021 a.a.O.). Bloße Zweifel dürfen nicht zu Lasten des Betroffenen gehen (vgl. OLG Rostock, Beschluss vom 20. August 2021 – 21 Ss OWi 102/21 (B) -, juris).
Das Ergebnis der von Amts wegen vorzunehmenden Aufklärung und die sich daraus ergebende Überzeugung des Gerichts – beides muss sich aus den Urteilsgründen nachvollziehbar ergeben – ermöglichen dem Rechtsbeschwerdegericht die Überprüfung, ob das Tatgericht § 74 Abs. 2 OWiG rechtsfehlerfrei angewendet hat.
bb) In Fällen der Erkrankung bietet die bloße Mitteilung, der Betroffene sei (verhandlungsunfähig) erkrankt, für sich genommen noch keinen Anhaltspunkt für eine genügende Entschuldigung und Anlass, im Freibeweis Feststellungen zur Verhandlungs(un)fähigkeit des Betroffenen zu treffen (ständige Rspr.: Senat, Beschlüsse vom 7. Mai 2021, vom 15. April 2021 und vom 24. Juli 2020, jeweils a.a.O.; vom 16. Februar 2015 – 3 Ws (B) 80/15 -; an der im Beschluss vom 23. Mai 2011 – 3 Ws (B) 268/11 – vom Senat vertretenen Auffassung ist nicht festgehalten worden, vgl. insbesondere Senat, Beschluss vom 27. August 2018 a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. Oktober 2018 a.a.O.).
Hat der Betroffene aber dem Gericht eine ordnungsgemäß ausgestellte ärztliche Bescheinigung vorgelegt, belegt dies, dass ein ausgebildeter Mediziner einen krankheitswertigen Zustand festgestellt hat (vgl. Senat, Beschluss vom 27. August 2018 a.a.O.) – ein Umstand mit relativ hohem Beweiswert (vgl. Senat, Beschluss vom 27. August 2018 und vom 8. Januar 2018, jeweils a.a.O.). Daher ist auch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht von vornherein ungeeignet, Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung zu bieten (vgl. Senat, Beschlüsse vom 2. Dezember 2021 a.a.O. und vom 2. Juni 2015 a.a.O.; Brandenburgisches OLG, Beschlüsse vom 5. November 2020 a.a.O. und vom 26. August 2019 – (1 B) 53 Ss-OWi 173/19 (263/19) -; OLG Hamm, Beschlüsse vom 23. August 2012 – III-3 RBs 170/12 -, und vom 22. Dezember 2009 – (3) 6 Ss OWi 984/09 (330) – und vom 28. Oktober 2002 – 2 Ss OWi 873/02 -; OLG Oldenburg, Urteil vom 11. August 2011 – 2 SsRs 187/11 -; OLG Dresden, Beschluss vom 19. September 2008 – Ss (OWi) 543/08 -, jeweils juris). Eine ärztliche Bescheinigung löst die gerichtliche Aufklärungspflicht aus, weil sich aus ihr zwanglos hinreichende – wenn auch im Rahmen der gerichtlichen Nachforschungspflicht gegebenenfalls zu verifizierende – Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung ergeben. Dabei ist das Ausbleiben des Betroffenen nicht erst dann entschuldigt, wenn er verhandlungsunfähig ist. Vielmehr ist es ausreichend, dass ihm infolge der Erkrankung das Erscheinen vor Gericht nicht möglich oder nicht zuzumuten ist (vgl. Senat, Beschlüsse vom 11. Februar 2019 und vom 2. Juni 2015, jeweils a.a.O.).
Bleiben dem Gericht Zweifel an einer genügenden Entschuldigung wegen der behaupteten Erkrankung, ist es gehalten, diesen – gegebenenfalls im Wege des Freibeweises – nachzugehen (vgl. Bayerisches ObLG, Beschluss vom 6. September 2019 – 202 ObOWi 1581/19 -, juris) und sich durch Nachforschungen Gewissheit zu verschaffen. Ohne ausreichende Aufklärung darf das Gericht den Einspruch nicht verwerfen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 8. Januar 2018 – 3 Ws (B) 353/17 -, juris, vom 20. Januar 2017 a.a.O.; vom 4. Juni 2015 – 3 Ws (B) 264/15 – juris; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 5. November 2020 a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. Oktober 2018 a.a.O.; OLG Hamm, Beschluss vom 3. Juni 2008 – 5 Ss OWi 320/08 -, juris).
cc) Nach diesem Maßstab halten die Urteilsgründe rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Die Erwägungen des Amtsgerichts, der Betroffene habe die vorgebrachten Entschuldigungsgründe umfassend vorzutragen und glaubhaft zu machen (UA S. 2), zeigen, dass das Gericht zu hohe Anforderungen an den Begriff der genügenden Entschuldigung gestellt hat (vgl. Senat, Beschlüsse vom 9. Juli 2019, vom 11. Februar 2019, vom 27. August 2018 und vom 18. Januar 2018, jeweils a.a.O; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 5. November 2020 a.a.O.).
Dadurch hat es sich den Blick darauf verstellt, dass Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung mit den ärztlichen Bescheinigungen vorlagen, die die gerichtliche Aufklärungspflicht ausgelöst haben, der das Gericht nicht nachgekommen ist. Im Freibeweisverfahren hätte sich das Amtsgericht die Überzeugung verschaffen können und müssen, ob die in der Rechtsmittelbegründungsschrift vorgetragenen genügenden Entschuldigungsgründe vorlagen.
(1) Zwar löste die bloße Mitteilung des Verteidigers im Terminverlegungsantrag, der Betroffene sei verhandlungsunfähig erkrankt, die gerichtliche Aufklärungspflicht nicht aus. Denn in ihrer Pauschalität lässt eine solche Mitteilung lediglich vermuten, dass der Betroffene meint, aufgrund seines Gesundheitszustandes sei ihm eine Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht möglich oder nicht zuzumuten, während er die konkreten und sodann überprüfbaren Anhaltspunkte hierfür unerwähnt lässt.
(2) Aber die in der Hauptverhandlung vorliegenden ärztlichen – wenn auch pauschalen d.h. ohne Angaben einer Diagnose oder eines Diagnoseschlüssels und ohne Angaben von Symptomen der Erkrankung – „Arbeits- und Verhandlungsunfähigkeitsbescheinigungen“ haben die gerichtliche Aufklärungspflicht ausgelöst und führten dazu, dass sich das Gericht Kenntnis über die näheren Krankheitsumstände hätte verschaffen müssen, bevor es von einem Ausbleiben ohne genügende Entschuldigung ausgehen konnte.
Dieser Pflicht steht nicht entgegen, dass die Ärztin dem Betroffenen auch „Verhandlungsunfähigkeit“ – ein Rechtsbegriff, über den nur das Gericht entscheidet – attestiert hat (vgl. Senat, Beschluss vom 16. November 2015 – 3 Ws (B) 541/15 -; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 19. Januar 2018 – 1 OWi 2 SsBs 84/17 -, jeweils juris). Denn dieser Umstand schmälert weder den Beweiswert der Bescheinigung noch stellt er die Glaubwürdigkeit der Ärztin nachhaltig in Frage.
Zwar muss der Tatrichter eine ärztliche Bescheinigung nicht anerkennen (vgl. OLG Rostock a.a.O.) – dabei wäre es unerlässlich gewesen, dies plausibel darzulegen -, aber die Urteilsausführungen zeigen, dass das Amtsgericht „nur“ Zweifel an dem Inhalt der ärztlichen Einschätzung hatte („die Verhandlungsunfähigkeit erscheine wenig wahrscheinlich“, UA S. 2). Diese Zweifel hätte es im Wege des Freibeweises aufklären und sich Gewissheit über den Gesundheitszustand des Betroffenen verschaffen müssen. Dem ist das Amtsgericht nicht nachgekommen, obwohl dies tatsächlich möglich und rechtlich zulässig war. Denn der Name der Ärztin und ihre Kontaktdaten waren der Bescheinigung zu entnehmen und vor dem Hintergrund der Übersendung des Attestes hatte der Betroffene die Ärztin gegenüber dem Gericht von ihrer Schweigepflicht entbunden (vgl. Senat, Beschluss vom 2. Dezember 2021 a.a.O., m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 6. September 2019 und OLG Bamberg, Beschluss vom 29. Oktober 2018, jeweils a.a.O.; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 19. Januar 2018 – 1 OWi 2 Ss Bs 84/17 -, juris).
Der gerichtlichen Aufklärungspflicht stand auch nicht die Erwägung des Amtsgerichts entgegen, die Verhandlungsunfähigkeit erscheine wenig wahrscheinlich, weil der Betroffene erklärt habe, im Anschluss an die kurzzeitige Erkrankung im August seinen Erholungsurlaub anzutreten (UA S. 2).
Denn abgesehen davon, dass zwischen dem Hauptverhandlungstermin am 27. Juli 2021 und dem Urlaubbeginn des Betroffenen im August mindestens vier Tage gelegen haben, hätte dieses Argument erst dann Gewicht bekommen können, wenn das Gericht den behaupteten krankheitswertigen Zustand des Betroffenen aufgeklärt hätte.
Soweit das Gericht des Weiteren meint, dem Betroffenen sei trotz des – die „Verhandlungsunfähigkeit“ infolge einer akuten Erkrankung bescheinigenden – ärztlichen Attestes und der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das Erscheinen in der Hauptverhandlung möglich und zumutbar, muss es im Urteil darlegen, warum es von der Unrichtigkeit der Bescheinigungen überzeugt ist oder warum es die Krankheit in ihren Auswirkungen für so unbedeutend hält, dass sie einer Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht entgegensteht (vgl. Senat, Beschlüsse vom 9. Juli 2019, vom 11. Februar 2019 und vom 22. März 2002, jeweils a.a.O.). Dies ist nicht bzw. nicht ausreichend erfolgt.
Nach alle dem hat das Amtsgericht den Einspruch zu Unrecht verworfen. Denn es hat den Begriff der genügenden Entschuldigung fehlerhaft angewendet, ist daher seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen und hat sich keine Überzeugung davon verschafft, dass genügende Entschuldigungsgründe nicht gegeben sind.
2. Das Urteil beruht auf diesem Rechtsfehler.
Durch die Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG ist das Vorbringen des Betroffenen, er sei zur fraglichen Zeit nicht Fahrer des betreffenden Fahrzeugs gewesen, und sein Vortrag über Anhaltspunkte, aus denen sich erhebliche Zweifel an der technischen Richtigkeit der verfahrensgegenständlichen Verkehrsüberwachung ergeben hätten (siehe oben unter 1. a) cc)), vom Gericht nicht zur Kenntnis genommen worden. Damit ist das rechtliche Gehör des Betroffenen verletzt worden (vgl. Senat, Beschluss vom 18. Januar 2018 a.a.O.).
Dieser Rechtsfehler wäre nur dann unbeachtlich, wenn die vor Erlass des Urteils durch den Betroffenen vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und weitere ärztliche Bescheinigung unbrauchbar (vgl. BayObLG, Beschluss vom 6. September 2019 a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. Oktober 2018 a.a.O.) und damit ganz offensichtlich nicht geeignet gewesen wären, sein Ausbleiben in der Hauptverhandlung genügend zu entschuldigen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 9. Juli 2019 und vom 4. Juni 2015, jeweils a.a.O. m.w.N.). Das ist hier ersichtlich nicht der Fall.
3. Auf die (unausgeführte) allgemeine Sachrüge kommt es nicht mehr an. Im Übrigen kann der Betroffene damit nicht durchdringen: Die allgemeine Sachrüge führt bei einem Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG nur zur Prüfung, ob Verfahrenshindernisse vorliegen oder Prozessvoraussetzungen fehlen (vgl. BGHSt 21, 242; Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 18. Aufl., § 74 Rn. 48b). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
4. Der Senat hebt daher auf die zugelassene Rechtsbeschwerde das angefochtene Urteil mit seinen Feststellungen auf und verweist das Verfahren zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurück.