LG Nürnberg-Fürth – Az.: 5 Qs 4/20 – Beschluss vom 15.01.2020
In dem Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort erlässt das Landgericht Nürnberg-Fürth – 5. Strafkammer – durch die unterzeichnenden Richter am 15. Januar 2020 folgenden Beschluss
1. Auf die Beschwerde der Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg, Az. 54 Gs 12201/19, vom 03.12.2019 aufgehoben.
2. Der Führerschein ist der Beschuldigten unverzüglich herauszugeben.
3. Die-Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen der Beschuldigten,
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth führt gegen die Beschuldigte ein Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort. Auf ihren Antrag entzog das Amtsgericht Nürnberg mit Beschluss vom 03.12.2019 der Beschuldigten am 13.12.2019 vorläufig die Fahrerlaubnis wegen des Verdachts, dass sie sich des unerlaubten Entfernens vom Unfallort strafbar gemacht habe. Es bestehe ein dringender Verdacht, dass die Beschuldigte zwischen dem 10.07.2018, 18:40 Uhr und dem 11.07.2018, 15:30 Uhr auf der Wallenrodstraße – mit dem PKW Mercedes A 170, Kennzeichen pp. aus Unachtsamkeit beim Ausparken mit ihrem Kotflügel beziehungsweise Radlauf hinten rechts gegen den Stoßfänger hinten links des dort geparkten PKW BMW 316i, amtliches Kennzeichen pp., des Geschädigten gestoßen sei, Bei dem Unfall soll die Beschuldigte den PKW BMW 316i beschädigt und einen Fremdschaden von 1.937,05 Euro netto verursacht haben. Obwohl die Beschuldigte den Unfall bemerkt und erkannt bzw. damit gerechnet habe, dass ein nicht völlig unbedeutender Fremdschaden entstanden sei, habe sie die Unfallstelle verlassen, bevor sie eine nach den Umständen angemessene Zeit gewartet hätte, ohne dass jemand bereit gewesen sei, zugunsten der anderen Unfallbeteiligten und des Geschädigten die erforderlichen Feststellungen zu treffen, Dadurch seien dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass der Beschuldigten die Fahrerlaubnis entzogen werde.
Die Beschuldigte hat mit Schreiben vom 16.12.2019 Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis eingelegt. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, dass kein bedeutender Fremdschaden verursacht worden sei. Die im Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg angegebene Wertangabe zum Fremdschaden betrage 1.937105 Euro. Im Übrigen-wird ergänzend auf die Beschwerdebegründung vom 16.12.2019 Bezug genommen (vgl. BI. 69f. d.A.).
Das Amtsgericht Nürnberg hat der Beschwerde mit Verfügung vom 27.12.2019 nicht abgeholfen. Die Staatsanwaltschaft beantragte am 10.01.2020 die Beschwerde, welche beim Gericht am 14.01.2020 einging, als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Nach § 111a StPO kann die Fahrerlaubnis vorläufig nur dann entzogen werden, wenn sich aus der vorgeworfenen Tat auch ergibt, dass-die Beschuldigte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist (§ 69 StGB). Dringende Gründe für den endgültigen Entzug der Fahrerlaubnis liegen vor, wenn dies in hohem Maße wahrscheinlich ist. Das ist der Fall, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit für die körperliche oder charakterliche Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen besteht. Nach derzeitigen Ermittlungsstand ist ein endgültiger Entzug der Fahrerlaubnis mangels Nachweisbarkeit der charakterlichen Ungeeignetheit der Beschuldigten zum Führen von Kraftfahrzeugen unwahrscheinlich.
Die Beschuldigte ist derzeit nicht dringend verdächtig, einen Regelfall des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB verwirklicht zu haben. Zwar besteht momentan ein Tatverdacht der Unfallflucht (§ 142 Abs. 1 StGB) aufgrund der Angaben der Zeugen PHM pp. (vgl. BI. 4, 12 sowie 21f. d.A.), P. (vgl. B). 7 d.A.) und D (vgl. BI. 26 d.A.) und der in der Akte befindlichen Lichtbilder (vgl. BI. 9 bis II sowie 35 bis 39). Nach dem derzeitigen Ermittlungsergebnis zur Schadenshöhe, insbesondere der Reparaturkalkulation des Sachverständigenbüros pp. (vgl. BI. 46 ff d.A.), besteht jedoch kein dringender Verdacht, dass die Beschuldigte durch den Unfall einen bedeutenden Fremdschaden verursacht hat.
Ein bedeutender Fremdschaden liegt ab einem Betrag von 2.500,00 € netto vor (ständige Rechtsprechung der Kammer, vgl. Beschluss vom 07.11.19, Az. 5 Qs 64/19). Die Kammer hatte Anfang 2018 die Änderung von § 44 Abs. 1 StPO und damit die seit dem 24.08.2017 geschaffene Möglichkeit der Verhängung von Fahrverboten von bis zu 6 Monaten anstelle von 3 Monaten zum Anlass genommen, ihre Rechtsprechung zum Begriff des bedeutenden Fremdschadens zu ändern (bis 2017: 1.800,00 € netto, vgl. z. B. Beschluss vom 11.04.2008, Az. 5 Qs 61/08). Im Hinblick auf die in § 69 Abs. 2 Nr- 3 StGB angeordnete Gleichsetzung des bedeutenden Fremdschadens mit der Tötung bzw. nicht unerheblichen Verletzung eines Menschen einerseits und der wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten 10 Jahren andererseits hat die Kammer im Interesse der Rechtssicherheit eine großzügige Anpassung der Wertgrenze nach oben vorgenommen. Die Kammer hat dabei die Entwicklung der Einkommen und der Kosten für die Beseitigung der Folgen von Verkehrsunfällen berücksichtigt und sich an einer groben Schätzung der wirtschaftlichen Entwicklung orientiert. Eine exakte Ermittlung der Kostenentwicklung bei der Beseitigung von Unfallfolgen ist nicht zuletzt wegen der Vielfältigkeit der Unfallszenarien von geringer Aussagekraft. Die Kammer hat deswegen davon abgesehen anhand von einem Musterunfallgeschehen auf eine insoweit singuläre Kostenentwicklung abzustellen (vgl. aber zu diesem Ansatz LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 13.05.2008, Az 5/9a Qs 5/08), Die Verbraucherpreise für die Wartung und Reparatur von Fahrzeugen sind allein in den Jahren von 2010 bis 2016 um 11,6 % angestiegen (vgl. Statistisches Bundesamt, Verbraucherpreisindex für Deutschland, Klassifikation CC 0723). Im gleichen Zeitraum steigerte sich der Reallohnindex lediglich um 7,8 % (vgl. Statistisches Bundesamt, Verdienste und Arbeitskosten, Reallohnindex und Nominallohnindex, 4. Vierteljahr 2017). Auch im Bereich der Bergungs- und Abschleppkosten ist es zu deutlichen Preissteigerungen gekommen. So sind beispielsweise die Preise für ein Standard-Bergungsfahrzeug zum Abtransport von liegen gebliebenen Pkws bis 7,49 t zwischen den Jahren 2006 und 2016 um 35,5 % angestiegen (vgl. VBA, Preis- und Strukturumfrage im Bergungs- und Abschleppgewerbe, Ergebnisse 2006 bis 2016). Eine großzügige Anpassung der Wertgrenze war im Interesse der Rechtssicherheit geboten, um eine wiederholte Anpassung um kleinere Beträge in kürzeren Zeitabständen möglichst zu vermeiden.
Nachdem der im Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 03.12.2019 bezifferte Schaden mit 1.937,05 € netto unterhalb dieses Betrages liegt, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Beschuldigte wusste oder hätte wissen können, dass ein Schaden in dieser Höhe eingetreten ist.
b) Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschuldigte aus anderen Gründen zur Führung von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Allein aus dem Umstand, dass die Beschuldigte mit der vorliegenden Tat dringend einer Unfallflucht, also einer Katalogtat im Sinne des § 69 Abs. 2 StGB, verdächtigt ist, kann noch nicht auf eine charakterliche Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen geschlossen werden.
c) Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 StPO.