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Unbegleitetes Fahren von Kraftfahrzeugen

Ausnahme vom Mindestalter

VG Aachen – Az.: 3 L 1383/19 – Beschluss vom 08.04.2020

1. Der Antrag wird abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.

2. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller ist 17 Jahre alt (geb. am 16. Juni 2002) und wird von seinen Erziehungsberechtigten vertreten. Er begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Mindestalter für das unbegleitete Führen eines Kraftfahrzeuges der Klasse B. Seit dem 18. Juni 2018 ist er Inhaber der Fahrerlaubnis der Klassen AM, L und T.

Am 18. Juni 2019 beantragte er beim Straßenverkehrsamt der Antragsgegnerin, ihm eine Ausnahme vom Mindestalter für das Führen von Kraftfahrzeugen der Klasse B zu genehmigen. Zur Begründung machte er geltend: Er könne weder seine Ausbildungsstätte noch seine Schulstätte in zumutbarer Weise mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen. Er wohne bei seiner Mutter in  N-S  , S  straße. Zu seiner Ausbildungsstätte, der Schreinerei K in    N-N1, K straße , betrage die Entfernung 11,2 km bzw. 14,5 km. Die Schulstätte, das Berufskolleg in  T , B Straße, sei von seinem Wohnort 36,4 km entfernt. Voraussichtlich ab Juli 2019 sei der Weg vom Heimatort   N-S zur Ausbildungsstätte nach   N-N1 durch die Vollsperrung der H-straße wegen des Abrisses der Brücke über die   S erschwert. Zu den einschlägigen Arbeitszeiten bestehe keine Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Hinsichtlich seiner Arbeitszeiten verweise er auf eine Bescheinigung der Schreinerei   K vom 28. Mai 2019, worin bestätigt werde, dass er als Auszubildender eine regelmäßige Arbeitszeit von 7:30 Uhr bis 16:15 Uhr habe, wobei sich bei Montagearbeiten auf wechselnden Baustellen die Arbeitszeit auf 06:00 bis 18:00 Uhr verändern könne. Der Fahrplan des Schulbusses zum Berufskolleg in Stolberg, wo während der Berufsschulblöcke Unterricht von montags bis freitags in der Zeit von 08:00 Uhr bis 14:45 Uhr stattfinde, sei so ungünstig, dass er an einem Schultag insgesamt 12 Stunden und 45 Minuten von zu Hause weg sei:

05:25 Uhr   ab zu Hause / Fußweg 7 Minuten

05:35 Uhr   ab Bus / X- Weg

05:54 Uhr   an Bus / Q-Straße

06:25 Uhr   ab N Q-Straße mit Schulbus

07:22 Uhr   an T mit Schulbus

————————————————————————

15:50 Uhr   ab T mit Schulbus

16:47 Uhr  an N Q-Straße mit Schulbus

17:27 Uhr  ab Bus Q-Straße in N

17:56 Uhr  an Bus X Weg und 18:10 Uhr zu Hause

Im Haushalt in   N-S seien zwar Kraftfahrzeuge vorhanden, und zwar ein VW Golf (das Fahrzeug seiner Mutter) und ein Kraftrad („45 km/h Moped“). Auch könne er das Moped bei gutem Wetter gefahrlos als Fortbewegungsmittel nutzen. Bei Schnee, Frost, Laubfall im Herbst oder bei einer Temperatur von unter 4 Grad Celsius, bei der verstärkt auf Glätte zu achten sei, sei das allerdings keine Möglichkeit. Sein Vater könne keine Fahrdienste übernehmen, da er in H (Westfalen) und damit rund 250 km von  N entfernt wohne. Seine Mutter, die mit ihm in   N-S wohne, sei zwar auch in N beschäftigt. Sie arbeite aber im Bereich des Baustellenmanagements und habe daher im Arbeitsalltag mit deutschlandweiten Einsatzorten zu rechnen. In seinem Freundes- und Bekanntenkreis sowie in der Nachbarschaft gebe es niemanden, der eine Arbeitsstelle in   N-N1 habe und ihn mitnehmen könne. Seine Mutter stamme nicht aus der F, weitere Familienangehörige seien deshalb nicht vor Ort.

Mit Schreiben 4. Juli 2019 hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller umfangreich zur Versagung der Ausnahmegenehmigung an und wies u.a. auf den Erlass des Ministeriums für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen vom 17. Dezember 2008 hin, wonach Pendlerzeiten von bis zu drei Stunden (je Fahrstrecke 1 1/2 Stunden) grundsätzlich als zumutbar anzusehen seien.

Am 10. Juli 2019 sprach die Mutter des Antragstellers bei der Antragstellerin zu einer Erörterung vor und erklärte: Der Antragsteller habe erhebliche Probleme, den Hin- und Rückweg vom Wohnort in   N-S bis zu seiner Ausbildungsstätte in   N-N1 zurückzulegen. Seine Arbeitszeiten seien extrem schwankend, so dass keine sichere ÖPNV-Verbindung bestehe. Man habe im vergangenen Winter einen Traktor gekauft, mit dem der Antragsteller zur Ausbildungsstätte gefahren sei. Aufgrund der enormen Steigungen auf dem Weg vom Wohnort zur Ausbildungsstätte sei der Verbrauch an Dieselkraftstoff derart hoch gewesen, dass das Ausbildungsgehalt nahezu verbraucht worden sei. Es könne dem Antragsteller nicht zugemutet werden, bei Eis- und Schneeglätte mit seinem Roller zu fahren, zumal sich der Winterdienst in den letzten Jahren verschlechtert habe.

Am 30. Juli 2019 bestellten sich die Prozessbevollmächtigten im Verwaltungsverfahren. Der Antragsteller ließ anwaltlich u.a. vortragen: Die Antragsgegnerin habe in den vergangenen Jahren sehr häufig entsprechende Ausnahmegenehmigung für Schüler und Auszubildende aus dem   N Land erteilt. Dies müsse auch hier geschehen. Nach Aktenlage sei nachgewiesen, dass weder die Ausbildungsstätte in   N-N1 noch die Berufsschule in  T mit dem nach Erlasslage maßgeblichen Zeitaufwand von 1,5 Stunden erreicht werden könne.

Mit dem – hier streitbefangenen – Bescheid vom 4. November 2019 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Ausnahmegenehmigung ab und führte zur Begründung u.a. aus: Es liege kein Fall einer unzumutbaren Härte vor. Bei der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Mindestalter sei grundsätzlich Zurückhaltung zu üben, wie sich aus dem einschlägigen Erlass des Ministeriums für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen vom 17. Dezember 2008 ergebe. Nur in eng begrenzten und besonders gelagerten Einzelfällen dürfe die Ausnahme genehmigt werden. Vor allem sei zunächst zu prüfen, ob die Strecke nicht durch Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder unter Ausnutzung vorhandener bzw. erwerbbarer Fahrerlaubnisklassen bewältigt werden könne. Pendlerzeiten in Höhe von 3 Stunden seien nach Erlasslage als zumutbar anzusehen. Die Bushaltestelle in   N-H könne mit solchen Fahrzeugen, für die der Antragsteller die Fahrerlaubnis bereits besitze, erreicht werden. Auch unter Berücksichtigung der aktuellen Brückenbaustelle im H könne diese Strecke in rund 20 bis 25 Minuten zurückgelegt werden. Anschließend könne das Berufskolleg in   T mit dem durch das Schulverwaltungsamt eingesetzten Schulbus in 52 Minuten erreicht werden. Auch die Rückfahrt sei durch den Schulbus (Abfahrt um 15:50 Uhr) gewährleistet. Es komme hinzu, dass am Berufskolleg in   T ein Blockunterricht stattfinde und vom Antragsteller nur noch an 45 Tagen aufgesucht werden müsse. Für Teilstrecken bis 20 km von der jeweiligen Wohnung bis zur Schul- bzw. Ausbildungsstätte oder zum nächsten ÖPNV-Standort werde es zumutbar angesehen, diese Strecke mit Fahrzeugen zurückzulegen, für die keine Fahrerlaubnis benötigt werde oder für die bereits eine Fahrerlaubnis erworben worden sei (im Fall des Antragstellers die Klassen AM, L und T) oder aufgrund des bereits erreichten Alters erw orben werden könne (im Fall des Antragstellers die Klasse A1). Bei Strecken von mehr als 20 km bis zu 50 km werde generell geprüft, ob die Schul-/ Ausbildungsstätte durch Nutzung des ÖPNV in dem nach Erlasslage als zumutbar angesehen Zeitaufwand von 3 Stunden (je Fahrtstrecke 1,5 Stunden) erreicht werden könne. Bei Teilstrecken über 50 km sei auch die Möglichkeit zur Anmietung einer Wohnung in der Schul-/ bzw. Ausbildungsstätte in Erwägung zu ziehen. Gemessen daran gelte im Einzelnen:

Weg vom Wohnort zur Ausbildungsstätte im   N-N1:

Auch unter Berücksichtigung der aufgrund des Abrisses der   S brücke im  H erforderlichen Umleitung über   N-I  betrage die Entfernung zwischen dem Wohnort des Antragstellers,   S straße  in   N-S, und seiner Ausbildungsstätte,   K straße  in   N-N1, insgesamt 15 km. Hier sei die Nutzung eines Fahrzeuges zumutbar, für das keine Fahrerlaubnis benötigt werde oder für welches bereits eine Fahrerlaubnis erworben worden sei oder aufgrund des Alters des Antragstellers erworben werden könne. Witterungsverhältnisse stellten regelmäßig keine unbillige Härte dar bezüglich der Benutzung andere Verkehrsmittel oder die Nutzung eines Kraftfahrzeug, für das eine Fahrerlaubnis bereits erworben worden sei (hier: Klassen AM, L und T) beziehungsweise erworben werden könne (hier: Klasse A1). Die Fahrweise müsse den Witterungsverhältnissen angepasst werden. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass mit der Fahrerlaubnis der Klasse AM nicht nur zweirädrige, sondern auch dreirädrige Kraftfahrzeuge gefahren werden dürften und sogar vierrädrige Leichtkraftfahrzeuge mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 45 km/h. Somit müsse der Antragsteller auch nicht auf ein Kraftfahrzeug der Klasse T oder L zurückgreifen, was nach Aussage seiner Mutter aus finanziellen bzw. wirtschaftlichen Gründen nicht möglich sei.

Weg vom Wohnort zur Schulstätte in   T/T1:

Auch unter Berücksichtigung der aufgrund des Abrisses der   S brücke im H erforderlichen Umleitung über   N-I  betrage die Entfernung zwischen dem Wohnort des Antragstellers,  S straße in   N-S, und dem Bushof in   N-J insgesamt 12,6 km. Hier sei die Nutzung eines Fahrzeuges zumutbar, für das keine Fahrerlaubnis benötigt werde oder für welches bereits eine Fahrerlaubnis erworben worden sei oder aufgrund des Alters erworben werden könne. Alternativ könne auch die Strecke von   N-S,   T1-I,   T1-F  nach   N-J mit einer Länge von insgesamt 13,5 km gewählt werden. Hierbei sei besonders zu beachten, dass das Berufskolleg in  T  vom Antragsteller bis zu Vollendung des 18. Lebensjahr nur noch an insgesamt 45 Tagen aufzusuchen sei.

Mit Bescheid vom 4. November 2019 setzte die Antragsgegnerin eine Verwaltungsgebühr von 130 Euro fest: Die Gebührenfestsetzung beruhe auf §§ 1 und 4 der Gebührenordnung für Maßnahmen im Straßenverkehr (GebOst) i.V.m. der Gebühren-Nr. 213 („Entscheidung über eine Ausnahme“), die eine Rahmengebühr vorsehe. Bei der Ausübung des ihr obliegenden Ermessens habe sie berücksichtigt, dass es sich um einen einfachen Fall handele; auch der anfallende Verwaltungsaufwand für die erbrachte bzw. zu erbringende Amtshandlung sei bei der Bestimmung der Gebühr in Rechnung gestellt worden.

Der Antragsteller hat am 28. November 2019 Klage – 3 K 3443/19 – gegen den Versagungs- und den Gebührenbescheid erhoben und im vorliegenden Verfahren um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.

Zur Begründung macht er geltend: Er verkenne nicht, dass eine Ausnahmesituation eine Ausnahmesituation bleiben solle. Die Antragsgegnerin solle aber auch nicht verkennen, dass hier eine Ausnahmesituation gegeben sei, die für ihn eine unzumutbare Härte darstelle. Spätestens in Folge der Baumaßnahme an der   S brücke im   H, mit der sich die Antragsgegnerin nicht in angemessener Art und Weise auseinandergesetzt habe, werde ein Erreichen bzw. Verlassen der Ausbildungsstelle nicht in einem Zeitfenster von einer 1,5 Stunden möglich sein. Die Baumaßnahme mit Straßensperrung bedeute, dass sämtliche Bürger von   N-S über   N-I fahren müssten, um entweder   N selbst oder den Bushof in   N-J zu erreichen. Dieser Umstand führe im Rahmen der Abwägung der Antragsgegnerin letztlich überhaupt keine zutreffende Berücksichtigung, obwohl darauf hingewiesen worden sei. Daher sei es eine Illusion, anzunehmen, dass man derzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln von   N-S nach   N-N1 fahren könne. Der erste „NetLiner“-Bus sei in   N-S erst ab 07:10 Uhr nutzbar. Die Ausbildungsstelle müsste aber morgens um 6:30 Uhr aufgesucht werden. Ein gleiches Problem gelte für die Rückfahrt, die zum einen um 16:19 Uhr möglich wäre, was aber nicht passe, wenn er um 16:19 Uhr vom Ausbildungsbetrieb noch nicht zur Bushaltestelle gelangen könne. Die nächste Fahrzeit sei dann erst wieder um 19:27 Uhr möglich. Unter Berücksichtigung des Abbruchs der   S brücke und der damit einhergehenden Baumaßnahme sei auch das Erreichen der Berufsschule in T nicht in 1,5 Stunden möglich. Vor diesem Hintergrund könne die Antragsgegnerin ihr Ermessen nur dahingehend ausüben, dass die entsprechende Genehmigung erteilt werde, zumal die privaten Familienverhältnisse mit einer alleinerziehenden Mutter ebenfalls zu seinen Gunsten zu berücksichtigen seien.

Der Antragsteller beantragt, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, eine Ausnahmegenehmigung vom Mindestalter für das unbegleitete Fahren von Fahrzeugen der Klasse B zu erteilten, soweit der Antragsteller von seinem Wohnort S Straße in  N-S

–  zu seiner Ausbildungsstelle nach N-N1, K Straße,

–  zum Berufskolleg in T, B Straße, und

–  zwischen diesen Fahrtzielen fährt.

Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf ihren Versagungsbescheid.

Am 3. Dezember 2019 hat der Vorsitzende als Berichterstatter einen Erörterungstermin durchgeführt. Auf die Terminsniederschrift vom selben Tage wird verwiesen. Mit Beschluss vom 18. März 2020 hat die Kammer das Eilverfahren auf den Berichterstatter übertragen.

Hinsichtlich des Vorbringens der Beteiligten und der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten im vorliegenden Eilverfahren und im zugehörigen Klageverfahren – 3 K 3443/19 – sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin verwiesen.

II.

Der Antrag hat keinen Erfolg.

Die beantragte einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist nicht zu erlassen. Voraussetzung dafür ist, dass der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm – erstens – ein Anspruch auf die begehrte Handlung zusteht (Anordnungsanspruch) und – zweitens – für ihn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung seines Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Anordnungsgrund), vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung (ZPO).

Hier fehlt es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs auf Erteilung der beantragten Ausnahmegenehmigung („Streckenführerschein“).

Der Antragsteller bedarf zwar einer solchen Ausnahme. Für das unbegleitete Fahren von Fahrzeugen der Klasse B besteht nach § 10 Abs. 1 Nr. 5 Buchstabe a) der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) ein Mindestalter von 18 Jahren, welches der Antragsteller erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahres am 16. Juni 2020 erreicht.

Der Antragsteller hat aber keinen Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung. Einzig in Betracht kommende Anspruchsgrundlage ist § 74 FeV. Nach Absatz 1 der Vorschrift können die nach Landesrecht zuständigen Behörden in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte einzelne Antragsteller Ausnahmen von den Vorschriften der Fahrerlaubnis-Verordnung genehmigen; nach Abs. 2 setzen Ausnahmen vom Mindestalter die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters voraus.

Die formellen Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage hat der Antragsteller zwar erfüllt.

Er hat den erforderlichen Antrag mit Zustimmung seiner Eltern als gesetzlicher Vertreter (§ 1629 des Bürgerlichen Gesetzbuches) gestellt und an die nach Landesrecht zuständige Behörde gerichtet. Nach dem Landesrecht NRW ist das Straßenverkehrsamt der Antragsgegnerin die für die Erteilung der Ausnahme zuständige Behörde. Das folgt aus §§ 24 Nr. 9 letzter Halbsatz i.V.m. § 23 Nr. 7 Buchstabe b) der nordrhein-westfälischen Verordnung über die Zuständigkeiten im Bereich Straßenverkehr und Güterbeförderung vom 5. Juli 2016 (GV. NRW. S. 515). Dabei ist unbeachtlich, dass diese Zuständigkeitsverordnung noch auf eine in der Sache identische Vorgängerfassung des § 74 Abs. 1 FeV („§ 74 Absatz 1 Nummer 1“) verweist. Ferner sind für die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin als Kreisordnungsbehörde §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 des Ordnungsbehördengesetzes (OBG) NRW i.V.m. §§ 1, 3 und 6 des Gesetzes zur Bildung der Städteregion Aachen (Aachen-Gesetz) vom 26. Februar 2008 (GV. NRW. S. 162) und dessen Anlage 2 mit dem dortigen § 1 1) Nr. 25 maßgeblich.

Inhaltlich ist die Versagungsentscheidung vom 4. November 2019 aber nicht zu beanstanden.

Die Antragsgegnerin hat darin ihr behördliches Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt, vgl. § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) NRW und § 114 Satz 1 VwGO. Nach § 74 Abs. 1 FeV „kann“ in Einzelfällen eine Ausnahme von den Vorschriften der Fahrerlaubnis-Verordnung erteilt werden. Zu diesen Vorschriften zählt nach § 10 Abs. 1 Nr. 5 Buchstabe a) auch das Mindestalter von 18 Jahren für das (unbegleitete) Führen von Kraftfahrzeugen der Fahrerlaubnisklassen B, BE. § 74 Abs. 1 FeV ist keine Kopplungsvorschrift. Die Vorschrift enthält keinen Tatbestand der „unbeabsichtigten oder unzumutbaren Härte“, dessen Voraussetzungen als unbestimmter Rechtsbegriff einer uneingeschränkten Überprüfung des Verwaltungsgerichts unterläge und an dessen Erfüllung die Ausübung des behördlichen Ermessen als Rechtsfolge geknüpft wäre.

Vgl. zur Kategorie der Kopplungsvorschrift: Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 5. Juli 1985 – 8 C 22/83 – juris, Rn. 20.

Die Erteilung der Ausnahme nach § 74 Abs. 1 FeV ist vielmehr insgesamt in das behördliche Ermessen gestellt. Es handelt sich um eine einheitliche Ermessensentscheidung, bei der die gerichtliche Kontrolle nach Maßgabe des § 114 Satz 1 VwGO eingeschränkt ist.

Vgl. zur einheitlichen Ermessensentscheidung: Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 – GmS OBG 3/70 – BVerwGE 39, 355 (366 f.).

Auf diese Weise soll die Behörde den notwendigen Freiraum erhalten, um im Sinne der Einzelfallgerechtigkeit solchen Ausnahmesituationen Rechnung zu tragen, die bei strikter Anwendung der Bestimmung über das Mindestalter nicht hinreichend berücksichtigt werden könnten.

Vgl. Verwaltungsgericht (VG) Düsseldorf, Urteil vom 15. Oktober 2015 – 6 K 5037/14 -, juris Rn. 24; VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 15. Januar 2013 – 3 A 90/12 -, juris Rn. 22; VG Köln, Beschluss vom 03. Mai 2010 – 11 L 524/10 -, juris, Rn. 7; VG Minden, Beschluss vom 21. Oktober 2005 – 3 L 587/05 – juris.

Dementsprechend ist es allein Aufgabe der zuständigen Fahrerlaubnisbehörde in der Ausübung pflichtgemäßen Ermessens solche Einzelfälle zu identifizieren, die aufgrund ihrer Besonderheiten die Annahme rechtfertigen, dass der Verordnungsgeber eine strikte Anwendung des Mindestalters nicht beabsichtigt hat bzw. aufgrund übergeordneter Rechtsprinzipien nicht beabsichtigt haben kann. Letzteres wird regelmäßig dann der Fall sein, wenn die strikte Anwendung des Mindestalters zwar geeignet und erforderlich ist, generell zur Verkehrssicherheit beizutragen, aber die konkreten Nachteile, die ein Betroffener in seiner Lebenssituation dadurch erleiden würde, ein derart hohes Gewicht besitzen, dass diese Nachteile eine gewisse Einschränkung der generellen Verkehrssicherheit rechtfertigen. Diese Unverhältnismäßigkeit im Einzelfall begründet die unzumutbare Härte.

In diesem Sinne auch VG Braunschweig, Beschluss vom 18. Februar 2008 – 6 B 411/07 – juris, Rn. 26 und VG Augsburg, Beschluss vom 24. Januar 2003 – Au 3 E 03.1 -, juris Rn. 13.

Gemessen daran ist es nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin das Vorliegen einer unzumutbaren Härte im Fall des Antragstellers verneint hat. Insbesondere durfte sie sich bei der Bewertung des Falles an den Kriterien ausrichten, die der Erlass des Ministeriums für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen vom 17. Dezember 2008 zur Lenkung des behördlichen Ermessens aufstellt. Der Kriterienkatalog, der als Entscheidungshilfe dienen soll, steht, wie nach § 40 VwVfG NRW erforderlich, im Einklang mit dem – vom vorgenannten Erlass unter Ziffer 4 zutreffend umschriebenen – Zweck der Ermessensermächtigung. Danach ist bei der Erteilung einer Ausnahme vom Mindestalter grundsätzlich Zurückhaltung zu üben. Das gilt wegen des besonderen Risikos junger Fahranfänger und der erheblichen Bedeutung der körperlichen und geistigen Reife für ein sicheres Führen von Kraftfahrzeugen.

Vgl. dazu näher: VG Braunschweig, Beschluss vom 18. Februar 2008 – 6 B 411/07 – juris, Rn. 23 ff., unter Hinweis auf die aus der Verkehrsunfallstatistik gewonnen Erfahrungswerte, wonach junge Fahranfänger besonders häufig und überproportional an Unfällen im Straßenverkehr beteiligt sind.

Unter Ziffer 5, 1. Spiegelstrich des vorgenannten Erlasses heißt es: „Pendlerzeiten von bis zu drei Stunden insgesamt (je Fahrtstrecke 1 1/2 Std.) bei einer Arbeitszeit von sechs und mehr Stunden sind grundsätzlich als zumutbar anzusehen; bei Zeiten von unterhalb von drei Stunden liegt kein Härtefall (…) vor.“

Bei der einzelfallbezogenen Heranziehung dieses Prüfkriteriums für das Vorliegen eines Härtefalls sind der Antragsgegnerin keine Ermessensfehler unterlaufen. Sie hat den maßgeblichen Sachverhalt im Verwaltungsverfahren lückenlos und durch mehrfache Anhörungen aufgeklärt. Insbesondere hat sie dabei berücksichtigt, dass sich seit September 2019 wegen des Abrisses der   S brücke im H für den Antragsteller die Wegstrecke zur Ausbildungsstätte bzw. zur Schulstätte verlängert hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die ausführlichen Darlegungen des angegriffenen Versagungsbescheides vom 4. November 2019 verwiesen, denen das Gericht folgt. Die Wegstrecke des Antragstellers zur Ausbildungsstätte in   N-N1 beträgt ca. 15 km. Diesem Gesichtspunkt durfte die Antragsgegnerin das maßgebliche Gewicht für die Erteilung einer Ausnahme vom Mindestalter absprechen. Bei einer derartigen Distanz sind Pendlerzeiten von mehr als 1 1/2 Stunden pro Strecke, wie sie der vorgenannte Erlass als Härtefallkriterium anführt, für den Antragsteller offensichtlich nicht zu befürchten. Der Antragsteller ist Inhaber der Fahrerlaubnis der Klasse AM und verfügt über ein Kleinkraftrad („Roller“) mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 45 km/h, mit dem er die in Rede stehende Strecke ohne unzumutbare Zeitnachteile gegenüber der Fahrt mit dem PKW bewältigen kann.

Unbegleitetes Fahren von Kraftfahrzeugen
(Symbolfoto: Von eurobanks/Shutterstock.com)

Auch dem Haupteinwand des Antragstellers, bei Schnee und Eis sei die Fahrt mit dem Roller zu gefährlich und damit unzumutbar, musste die Antragsgegnerin nicht folgen. Vielmehr zieht sie richtigerweise den Grundsatz heran, dass widrige Witterungsverhältnisse dadurch zu bewältigen sind, dass die Kraftfahrzeugführer ihre Fahrweise entsprechend anzupassen haben. Abgesehen davon durfte die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang auch maßgeblich darauf abstellen, dass der Antragsteller als Inhaber der Fahrerlaubnis der Klasse AM berechtigt ist, nicht nur zweirädrige, sondern auch dreirädrige Kraftfahrzeuge und sogar vierrädrige Leichtkraftfahrzeuge mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 45 km/h zu führen, vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 FeV zur Fahrberechtigung der Klasse AM.

Zutreffend hat die Antragsgegnerin im Übrigen davon abgesehen, den Antragsteller auf die Fahrt mit einem Traktor zu verweisen, wie der Antragsteller sie für einen gewissen Zeitraum unter hohen finanziellen Kosten durchgeführt hat. Zwar ist der Antragsteller Inhaber der Fahrerlaubnis der Klassen T und L. Diese Fahrerlaubnisklassen berechtigen aber nur zum Führen von Zugmaschinen, die „nach ihrer Bauart zur Verwendung für land- oder forstwirtschaftliche Zwecke bestimmt sind“ und „für solche Zwecke eingesetzt werden.“, vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 FeV zur Klasse T und zur Klasse L.

Ferner hat die Antragsgegnerin die erheblichen Wegzeiten nicht verkannt, welche für den Antragsteller an den Tagen entstehen, an denen in seiner Berufsschule in   T,   B Straße, der (Block-) Unterricht für Tischler/Schreiner stattfindet. Nach der Berechnung des Antragstellers im Antrag kommt insoweit ein (nach der Erlasslage erheblicher) Zeitaufwand von etwa 2 Stunden pro Wegstrecke in Betracht. Allerdings ist maßgeblich, dass der Antragsteller diesen hohen Zweitaufwand auf unter 1 1/2 Stunden reduzieren kann, wenn er, wie die Antragsgegnerin ihm im Versagungsbescheid zutreffend entgegenhält, den vom Schulverwaltungsamt eingesetzten Bus von der Haltestelle   N-J benutzt. Dieser Bus benötigt für die Wegstrecke zwischen   T und N-J  52 Minuten. Die Strecke zwischen Bushof und Wohnort von 12,6 km bzw. alternativ von 13,5 km lässt sich für den Antragsteller in einer knappen halben Stunde zurücklegen. Es begegnet keinen Bedenken, wenn die Antragsgegnerin auch für diese Fahrt eine ganzjährige Benutzung von solchen Kraftfahrzeugen für zumutbar hält, die der Antragsteller als Inhaber der Fahrerlaubnis der Klassen AM bereits führen darf, zumal, wie oben bereits erwähnt, dazu nicht nur zweirädrige, sondern auch dreirädrige Kraftfahrzeuge und sogar vierrädrige Leichtkraftfahrzeuge zählen. Ferner hat die Antragsgegnerin den Stundenplan der Berufsschule in   T beigezogen und durfte bei ihrer Entscheidungsfindung im Versagungsbescheid darauf abstellen, dass der Antragsteller bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres die Berufsschule nur noch an insgesamt 45 Tagen aufzusuchen hat. Es ist im Übrigen in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein rein organisatorischer Vorteil für eine Familie, die hier aus dem Antragsteller und seiner alleinerziehenden Mutter besteht, für sich genommen noch keinen Härtefall und damit noch keinen Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Mindestalter („Streckenführerschein“) zu begründen vermag. Vielmehr sind alle zumutbaren Möglichkeiten zu nutzen, um den Ausbildungsort bzw. die Schulstätte ohne Ausnahmegenehmigung zu erreichen.

Vgl. VG Köln, Beschluss vom 3. Mai 2010 – 11 L 524/10 – juris, Rn. 15; VG Braunschweig, Beschluss vom 18. Februar 2008 – 6 B 411/07 – juris, Rn. 27;

VG Augsburg, Beschluss vom 24. Januar 2003 – Au 3 E 03.1 -, juris Rn. 13.

Aus dem anwaltlich erhobenen Einwand des Antragstellers, die Antragsgegnerin habe in den vergangenen Jahren sehr häufig entsprechende Ausnahmegenehmigung für Schüler und Auszubildende aus dem   N Land erteilt, folgt kein Anspruch auf Ausnahmeerteilung. Insbesondere lässt sich aus diesem pauschal gebliebenen Hinweis keine bestimmte Verwaltungspraxis der Antragsgegnerin entnehmen, die in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) für den Fall des Antragstellers eine Ausnahmegenehmigung bindend vorschreiben könnte. Sollte der Einwand darauf abzielen, dass die Antragsgegnerin nach der Einschätzung des Antragstellers in der Vergangenheit „Streckenführerscheine“ erteilt habe, ohne dass die engen Voraussetzungen eines durch Ermessensausübung zu bestimmenden unzumutbaren Härtefalles vorgelegen hätten, wäre damit für den Antragsteller nichts gewonnen. Selbst wenn man diese rechtswidrige Praxis einmal unterstellt, könnte diese die (nach Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebundene) Antragsgegnerin nicht für die Zukunft binden und damit auch keine Ansprüche des Antragstellers entstehen lassen („keine Gleichheit im Unrecht“).

Nach alledem liegt weder ein Ermessensfehler vor noch gar eine Ermessensreduzierung auf Null im Sinne eines (Anordnung-) Anspruchs auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung.

Schließlich hat der Antragsteller auch keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Nachteile, die dem Antragsteller ohne die begehrte Ausnahmegenehmigung in den kommenden Wochen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres entstehen, sind rechtlich ohne maßgebliches Gewicht und können daher die beantragte einstweilige Anordnung, mit der die Hauptsache vorweggenommen werden soll, nicht rechtfertigen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

2.  Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs.  2, 53 Abs. 2 Nr. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG) und entspricht dem im Hauptverfahren festgesetzten Betrag, da eine Vorwegnahme der Hauptsache beantragt war.

 

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