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Terminverlegung rechtsfehlerhaft abgelehnt – Betroffener ist dann genügend entschuldigt

KG Berlin – Az.: 3 Ws (B) 282/19 – 122 Ss 72/19 – Beschluss vom 08.10.2019

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 28. September 2018 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Gründe

I.

Mit Bußgeldbescheid vom 11. April 2017 hat der Polizeipräsident in Berlin gegen den Betroffenen wegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes eine Geldbuße von 260 Euro festgesetzt, ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet und dieses mit einer Wirksamkeitsbestimmung nach § 25 Abs. 2a StVG versehen.

Hiergegen hat der Betroffene form- und fristgerecht Einspruch eingelegt. Nachdem fünf Hauptverhandlungstermine jeweils auf Antrag der Verteidigung vor dem Hintergrund von Erkrankungen des Betroffenen bzw. Verhinderungen des Verteidigers aufgehoben worden waren, hat das Amtsgericht den Termin zur Hauptverhandlung auf den 28. September 2018 bestimmt. Die Ladung ist dem Verteidiger am 30. Juli 2018 zugegangen. Mit Schreiben vom 31. Juli 2018 hat dieser beanstandet, dass ihm bisher die Einsicht in die Messdaten im tuff-Format nicht gewährt worden sei, woraufhin das Gericht mit Verfügung vom 15. August 2018 die Daten von der Behörde erfordert hat. Nach Eingang dieser am 13. September 2018 hat die zuständige Dezernentin am 17. September 2018. die Mitteilung über das Vorliegen der Daten an den Verteidiger verfügt und ihm ergänzende Akteneinsicht gewahrt. Da eine Übersendung dieser Nachricht an den Verteidiger weder per Fax möglich, noch dieser telefonisch zu erreichen war, wurde das Schreiben schließlich, auf den Postweg gegeben; sodass es erst am 27. September 2018 bei diesem eingegangen ist. Noch am gleichen Tag hat er die Verlegung des für den Folgetag geplanten Hauptverhandlungstermins beantragt, da ihm die Einsicht in die nun vorliegenden Messdaten noch nicht möglich gewesen und beabsichtigt sei, diese an den von der Verteidigung beauftragten Sachverständigen zur Auswertung zu übermitteln.

Mit Urteil vom 28. September 2018 hat das Amtsgericht Tiergarten den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 11. April 2017 verworfen, da er im Hauptverhandlungstermin trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen war, obgleich er nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden gewesen ist. Zur Begründung hat das Gericht Folgendes ausgeführt:

„Dem Aussetzungsantrag des Verteidigers, der dem Gericht am heutigen Vormittag zuging und mit dem der Verteidiger erneut Akteneinsicht beantragt, um die Falldatei im Tuff-Format einzusehen, wird nicht stattgegeben. Es bestand bereits ausreichend Gelegenheit zur Akteneinsicht. Die Akte mit den entsprechenden Rohmessdaten ist bereits durch Verfügung vom 11.12.2017 an den Verteidiger zur Akteneinsicht übersandt worden. Erneute Übersendung der Rohmessdaten wurde mit Schreiben vom 13.3.2018 angeboten. Bereits am 10.10.2017, 17.11.2017, 09.02.2018, 02.03.2018 und 16.03.2018 waren Termine anberaumt und auf Anträge der Verteidigung verlegt worden.

Mit Verfügung vom 17.09.2018 abgesandt am 19.09.2018 wurde der Verteidigung erneut Akteneinsicht gewahrt.

Der erhobene Einspruch war daher nach § 74 Abs. 2 OWiG zu verwerfen.“

Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

II.

Die Rechtsbeschwerde führt auf die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 OWiG statthafte und in zulässiger Weise erhobene Verfahrensrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.

Das nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangene Verwerfungsurteil hat keinen Bestand, weil das Amtsgericht durch die Ablehnung des Terminverlegungsantrages gegen seine prozessuale Fürsorgepflicht verstoßen hat.

Das Gericht hat den Einspruch des Betroffenen ohne Verhandlung zur Sache durch Urteil zu verwerfen, wenn dieser ohne genügende Entschuldigung ausbleibt, obwohl er nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden war, § 74 Abs. 2 OWiG. Die Entschuldigung eines Ausbleibens im Termin ist dann als genügend anzusehen, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Betroffenen einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen (vgl. Senat, Beschluss vom 27. August 2018 – 3 Ws (B) 194/18, juris).

Der Betroffene war in diesem Sinne genügend entschuldigt, da der Verteidigung die Einsichtnahme in die vom Gericht beigezogenen Daten ohne eigenes Verschulden vor der Hauptverhandlung nicht möglich war und das Gericht angesichts dessen mit der Ablehnung des darauf gestützten Terminverlegungsantrags seine Fürsorgepflicht verletzt hat.

1. Die Umsetzung der dem Verteidiger formal gewährten Akteneinsicht konnte vor dem Hintergrund des Umstandes, dass ihm die Mitteilung hierüber erst am Tag vor dem Hauptverhandlungstermin zugegangen ist, nicht in zumutbarer Weise erfolgen.

Das Recht eines Betroffenen, sich nach §§ 137 Abs. 1 Satz 1 StP0, 46 Abs. 1 OWiG in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers zu bedienen, umfasst vor dem Hintergrund des darin zum Ausdruck kommenden Rechts auf ein faires Verfahren auch die Befugnis, sich im Ordnungswidrigkeitenverfahren von einem gewählten Anwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen (vgl. OLG Thüringen VRS 113, 322; BayObLG, Beschluss vom 31. Oktober 2001 – 1 ObOWi 433/01, juris m.w.N.). Diesem ist gemäß § 147 Abs. 1 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG Einsicht in die dem Gericht vorliegenden Akten zu gewähren, worunter auch jene Aktenbestandteile zählen, die vom Gericht beigezogen worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 2004 – 5 StR 299/03 und Urteil vom 26. Mai 1981 – 1 StR 48/81, jeweils bei juris; OLG Karlsruhe NStZ 1982, 299).

Die Verteidigung kann zwar, soweit es zur Überprüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich ist, grundsätzlich auch in solche Unterlagen Einsicht nehmen, die sich nicht bei den Akten befinden, da sie ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen kann, ob Beweisantrage gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen (vgl. Senat, Beschluss vom 27. April 2018 – 3 Ws (B) 133/18, juris). Sind aber derartige Unterlagen vom Gericht beigezogen worden, hat es der Verteidigung die Einsicht in diese – in zumutbarer Weise (vgl. OLG Hamm NJW 1972, 1096) – zu ermöglichen.

Zwar hat die Tatrichterin die Einsichtnahme in die Dateien im tuff-Format genehmigt, allerdings war es dem in Gotha ansässigen Verteidiger angesichts des Umstandes, dass dieser erst am Tag vor dem Hauptverhandlungstermin Kenntnis vom Eingang der Unterlagen erlangte, faktisch nicht mehr möglich, die Akteneinsicht in zumutbarer Weise wahrzunehmen. Dies gilt insbesondere angesichts des Umstandes, dass es der Verteidigung gerade darum bestellt war, die erforderten Unterlagen dem von ihr hinzugezogenen Sachverständigen zur Prüfung zu übergeben, was dem Amtsgericht aufgrund der Übersendung dessen vorläufiger Einschätzung und der entsprechenden Mitteilungen durch den Verteidiger bekannt war.

2. Die gerichtliche Fürsorgepflicht hatte es daher erfordert, dem Terminverlegungsantrag zu entsprechen.

Das Gericht hat über einen Terminaufhebungsantrag der Verteidigung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wobei maßgeblich ist, ob die gerichtliche Fürsorgepflicht eine Terminverlegung gebietet (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juli 2014 – 3 Ws (B) 255/14, juris). Die Terminierung ist grundsätzlich Sache des Vorsitzenden, der jedoch gehalten ist, über derartige Anträge unter Berücksichtigung der eigenen Terminplanung, der Gesamtbelastung des Spruchkörpers, des Gebotes der Verfahrensbeschleunigung und der berechtigten Interessen der Prozessbeteiligten zu entscheiden (vgl. BGH NStZ 1998, 311; Senat, Beschluss vom 30. Juli 2014 a.a.0.). Bei dieser Güterabwägung ist insbesondere das Verteidigungsinteresse des Betroffenen zu berücksichtigen, welchem im Zweifel Vorrang einzuräumen ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 25. Juni 2015 – 3 RBs 200/15, BeckRS 2015, 16614). So kann das Recht auf ein faires Verfahren sowie die gerichtliche Fürsorgepflicht eine Terminverlegung gebieten (vgl. OLG Köln DAR 2005, 576; Senat NZV 2003, 433; BayObLG. ZfS 1994, 387; Bohnert/Krenberger/Krumm in Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Aufl., § 74 Rn. 17 m.w.N.).

Der Umstand, dass ein Terminverlegungsantrag gestellt wurde, begründet zwar nicht bereits für sich genommen einen ausreichenden Entschuldigungsgrund für das Nichterscheinen des Betroffenen. Jedoch ist ihm die Teilnahme am Hauptverhandlungstermin regelmäßig dann unzumutbar, wenn der mit der Begründung seiner Verhinderung rechtzeitig vom Verteidiger gestellte Verlegungsantrag rechtsfehlerhaft abgelehnt worden ist (vgl. Senat DAR 2012, 395; OLG Bamberg StraFo 2011, 232; Krumm in Blum/Gassner/Seith, OWIG, § 74 Rn. 24 m.w.N.). Unter Berücksichtigung dessen kann auch das Nichterscheinen des Betroffenen selbst im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG genügend entschuldigt sein, wenn eine sachgerechte Terminvorbereitung durch Maßnahmen des Amtsgerichts verhindert worden (vgl. BayObLG, Beschluss vom 5. Juli 1990 – 2 Ob OWi 148/90, juris) oder eine beantragte Akteneinsicht faktisch verweigert worden ist (vgl. Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 28. Oktober 2004 – 1 Ss 65/04, juris).

Diese Maßstäbe zugrunde legend durfte das Amtsgericht – worauf die Generalstaatsanwaltschaft Berlin in ihrer Stellungnahme vorn 16. August 2019 zutreffend hinweist – nicht allein auf das als unentschuldigt angesehene Ausbleiben des Betroffenen selbst abstellen. Vielmehr wäre dem Terminverlegungsantrag des Verteidigers vom 27. September 2018 zu entsprechen gewesen.

In Reaktion auf den Antrag des Verteidigers vom 31. Juli 2018 hatte das Amtsgericht mit Verfügung vom 15. August 2018 die Übermittlung der Messdaten im tuff-Format beim Polizeipräsidenten in Berlin erfordert, welche am 13. September 2018 dort eingingen. Am 17. September 2018 verfügte die zuständige Richterin, dass der Verteidiger über den Eingang dieser Daten sowie die auch insoweit gewährte Akteneinsicht unterrichtet werde. Nach dem nicht widerlegten Vortrag der Rechtsbeschwerde ging diese Nachricht erst am 27. September 2018 beim in Gotha ansässigen Verteidiger des Betroffenen ein, weshalb sich dieser veranlasst sah, mit am gleichen Tage per Fax an das Gericht übermitteltem Schriftsatz die Aufhebung des für den Folgetag angesetzten Hauptverhandlungstermins zu beantragen.

Da die Einsicht in die nun erstmals vom Gericht beigezogenen Daten im tuff-Format der Verteidigung aus tatsächlichen Gründen vor dem Hauptverhandlungstermin nicht ermöglicht worden war, wäre dieser auf den Antrag des Verteidigers aufzuheben gewesen, um Gelegenheit zu geben die Akteneinsicht umzusetzen. Dies gilt vor allem, da die Verteidigung die Beiziehung und die entsprechende Akteneinsicht rechtzeitig beantragt hatte. Kommt das Gericht einem solchen Beiziehungsantrag nach, ist es gehalten, der Verteidigung die tatsächliche Möglichkeit zur Kenntnisnahme der beigezogenen Unterlagen einzuräumen.

Die Begründung des Amtsgerichts, dem Verteidiger sei bereits in der Vergangenheit Akteneinsicht gewährt worden, verfängt angesichts dessen nicht. Denn es ist auszuschließen, dass die erst kurz vor dem Hauptverhandlungstermin beigezogenen Unterlagen seinerzeit bereits Aktenbestandteil gewesen sind. Derartiges ist auch vor dem Hintergrund nicht naheliegend, dass das Gericht dem Verteidiger mit Verfügung vom 17. September. 2018 unter Bezugnahme auf den Eingang ergänzender Unterlagen erneut Akteneinsicht gewährte. Unter den gegebenen Umständen konnte der Betroffene darauf vertrauen, dass das Amtsgericht seiner Fürsorgepflicht folgend dem umgehend gestellten Antrag auf Verlegung des Hauptverhandlungstermins entsprechen werde.

Schließlich stand der Gewährung von Akteneinsicht nicht entgegen, dass eine schriftliche Vollmacht des Verteidigers nicht zu den Akten gelangt war. Sollte das Amtsgericht Zweifel an der Bevollmächtigung des Verteidigers gehabt haben – wofür sich keine Anhaltspunkte ergeben -, so hatte es unverzüglich hierauf hinweisen müssen (vgl. Thüringer Oberlandesgericht a.a.0.).

Aus diesen Gründen ist das Urteil des Amtsgerichts aufzuheben. Die Sache ist zu neuer Entscheidung auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Tiergarten zurückzuverweisen. Der Verweisung des Verfahrens an eine andere Abteilung des Gerichts bedurfte es hier schon deshalb nicht, weil in der Abteilung 347 inzwischen geschäftsplanmäßig ein anderer Richter tätig ist.

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