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Täteridentifizierung mittels eines anthropologischen Identitätsgutachtens

KG Berlin – Az.: 3 Ws (B) 202/17 – 162 Ss 113/17 – Beschluss vom 10.08.2017

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 17. Mai 2017 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Tiergarten hat die Betroffene wegen einer fahrlässig begangenen Verkehrsordnungswidrigkeit (eines sogenannten qualifizierten Rotlichtverstoßes) gemäß §§ 37 Abs. 2 (zu ergänzen: Nr. 1 Satz 7), 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO, (zu ergänzen: §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BKatV i.V.m. der Anlage (zu § 1 Abs. 1 BKatV) Abschnitt I lfd. Nr. 132.3 BKat) i.V.m. § 24 (zu ergänzen: Abs. 1) StVG zu einer Geldbuße von 200,00 Euro verurteilt, gegen sie gemäß § 25 (zu ergänzen: Abs. 1 Satz 1) StVG ein einmonatiges Fahrverbot verhängt und eine Bestimmung über dessen Wirksamwerden gemäß § 25 Abs. 2a (zu ergänzen: Satz 1) StVG getroffen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen, mit der sie die Verletzung formellen und sachlichen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Tiergarten zurückzuverweisen.

II.

1) Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG zulässige Rechtsbeschwerde der Betroffenen hat mit der Sachrüge (vorläufigen) Erfolg, so dass es eines Eingehens auf die geltend gemachte Verfahrensrüge nicht bedarf.

Der Schuldspruch hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die ihm zugrunde liegende Beweiswürdigung des Amtsgerichts zur Identifizierung der Betroffenen als Fahrerin des in Rede stehenden Kraftfahrzeugs ermöglicht aufgrund ihrer Lückenhaftigkeit dem Senat als Rechtsbeschwerdegericht die gebotene Überprüfung nicht.

Wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat, ist die Beweiswürdigung zwar grundsätzlich Sache des Tatgerichts; die Prüfung des Rechtsbeschwerdegerichts beschränkt sich darauf, ob diesem Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht unter anderem dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft ist und somit nicht erkennen lässt, ob sie auf einer tragfähigen, verstandesgemäß einsichtigen Tatsachengrundlage beruht und die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen – wenn auch schwerwiegenden – Verdacht zu begründen vermag (vgl. Senat VRS 131, 197 und Beschlüsse vom 20. September 2016 – 3 Ws (B) 488/16 – und 30. März 2016 – 3 Ws (B) 176/16 –; VRS 129, 220 sowie Beschlüsse vom 30. Juni 2014 – 3 Ws (B) 562/13 – und 27. August 2010 – 3 Ws (B) 434/10 –, juris sowie DAR 2005, 634).

Vorliegend lässt sich dem Urteil (UA S. 2) entnehmen, dass die Betroffene in der Hauptverhandlung keine Angaben zur Sache getätigt und das Gericht seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft der Betroffenen allein auf das in der Hauptverhandlung erstattete anthropologische Sachverständigengutachten gestützt hat.

Misst das Tatgericht – wie vorliegend – einem Sachverständigengutachten Beweisbedeutsamkeit bei, so muss es, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht hingewiesen hat, die Ausführungen des Sachverständigen in einer (wenn auch gerade in Bußgeldsachen nur gedrängt) zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen wenigstens insoweit wiedergeben, als dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner gedanklichen Schlüssigkeit erforderlich ist (vgl. Senat VRS 131, 197, Beschluss vom 20. September 2016 – 3 Ws (B) 488/16 –; VRS 129, 220; VRS 126, 154 und Beschlüsse vom 13. September 2012 – 3 Ws (B) 512/12 – sowie 11. Januar 2010 – 3 Ws (B) 730/09 –). Der Umfang der Darlegungspflicht hängt dabei von der jeweiligen Beweislage und der Bedeutung, die der Beweisfrage für die Entscheidung zukommt, ab (vgl. BGH NStZ 2000, 106). Eine im Wesentlichen auf die Mitteilung des Ergebnisses des Gutachtens beschränkte Darstellung kann nur in Ausnahmefällen ausreichen, wenn sich das Gutachten auf eine allgemein anerkannte und standardisierte Untersuchungsmethode gründet und von keiner Seite Einwände gegen die Zuverlässigkeit der Begutachtung erhoben werden. In anderen Fällen sind neben den wesentlichen tatsächlichen Grundlagen und den daraus vom Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerungen (Befundtatsachen) vor allem auch die das Gutachten tragenden fachlichen Begründungen auszuführen (vgl. BGHSt 39, 291).

Bei einem anthropologischen Identitätsgutachten handelt es sich bereits nicht um eine standardisierte Untersuchungsmethode, bei der sich die Darstellung im Wesentlichen auf die Mitteilung des Ergebnisses des Gutachtens beschränken kann, denn von einem gesicherten Stand der Wissenschaft in diesem Bereich kann nicht die Rede sein (vgl. BGH NStZ 2005, 458; Senat VRS 131, 197 und Beschlüsse vom 20. September 2016 – 3 Ws (B) 488/16 – sowie vom 13. September 2012 – 3 Ws (B) 512/12 –). Erforderlich ist daher in den Urteilsgründen eine verständliche und in sich geschlossene Darstellung der dem Gutachten zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen, der wesentlichen Befundtatsachen und der das Gutachten tragenden fachlichen Begründung, so dass die bloße Aufzählung der mit einem Foto übereinstimmenden morphologischen Merkmalsausprägungen eines Betroffenen nicht ausreicht (vgl. OLG Bamberg NZV 2008, 211; OLG Celle NZV 2002, 472). Enthält das anthropologische Sachverständigengutachten – wie im vorliegenden Fall – keine Wahrscheinlichkeitsberechnung, so muss das Urteil, da den einzelnen morphologischen Merkmalen jeweils eine unterschiedliche Beweisbedeutung zuteil wird, Ausführungen dazu enthalten, welchen der festgestellten Übereinstimmungen – gegebenenfalls in Kombination mit anderen festgestellten Merkmalen – eine besondere Beweisbedeutung zukommt, das heißt, welche Aussagekraft der Sachverständige den Übereinstimmungen zumisst und wie er die jeweilige Übereinstimmung bei der Beurteilung der Identität gewichtet hat (vgl. Thüringer OLG VRS 122, 143).

Diesen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung des Amtsgerichts nicht. Die Urteilsgründe (UA S. 3) teilen mit, die Sachverständige habe „insgesamt 42 Merkmale der Fahrerin in den Bereichen Allgemeines, Gesicht, Kopfhaar, Augen, Mittelgesicht, Nase, Mund und Untergesicht“ beschrieben und dabei festgestellt, „dass alle auf dem Messfoto auswertbaren Merkmale mit der Betroffenen abgleichbar sind“. Ferner wird ausgeführt: „Keines der erkennbaren Merkmale sei bei der Betroffenen von abweichender Ausprägung. Die Merkmalskomplexe der Nase, des Mundes, des Unter- und Mittelgesichts der auf dem Originalfoto abgebildeten Fahrerin sind in ihrer Kombination individualitätsbildend und stimmen mit der Betroffenen überein.“ Unter Berücksichtigung einer nicht optimalen Bildqualität und der teilweisen Verdeckungen, so das Amtsgericht, komme die Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Betroffene „sehr wahrscheinlich“ die Fahrerin gewesen sei.

Die Gründe enthalten indes keine Ausführungen dazu, bezüglich welcher konkreten morphologischen Merkmalsausprägungen aus den Bereichen Nase, Mund, Unter- und Mittelgesicht die Sachverständige eine Übereinstimmung festgestellt hat, welchen dieser Merkmalsausprägungen sie – gegebenenfalls in Kombination mit anderen festgestellten Merkmalen – vorliegend für ihre gutachterliche Einschätzung eine besondere Beweisbedeutung beimisst und wie sie die jeweilige Übereinstimmung bei der Beurteilung der Identität gewichtet. Hiervon abgesehen konnte das Rechtsbeschwerdegericht den von der Sachverständigen im Rahmen ihrer Gutachtenerstattung vorgenommenen Fotovergleich auch deshalb nicht nachvollziehen, weil weder eine ordnungsgemäße Bezugnahme auf das ausgewertete Tatfoto und das herangezogene Vergleichsbild noch deren ausreichende Beschreibung in den Urteilsgründen erfolgt ist.

2) Danach war das angefochtene Urteil aufgrund der genannten Darstellungsmängel mit den zugrundeliegenden Feststellungen nach § 353 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG aufzuheben. Die Sache wird, auch zur Entscheidung über die Kosten der Rechtsbeschwerde, nach § 79 Abs. 6 OWiG an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen. Zu einer Zurückverweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts sah sich das Rechtsbeschwerdegericht nicht veranlasst.

3) Der Senat weist für die erneut durchzuführende Hauptverhandlung auf Folgendes hin:

a) Stellt der Tatrichter einen Rotlichtverstoß fest, so ist das zum Einsatz gekommene Messverfahren in den Urteilsgründen zu benennen. Von der Zuverlässigkeit der Messung muss er sich im Falle eines standardisierten Messverfahrens nur dann überzeugen, wenn es konkrete Anhaltspunkte für Messfehler oder für eine nicht ordnungsgemäß durchgeführte Messung gibt. Angaben zu dem gegebenenfalls in Abzug zu bringenden Toleranzwert wären dann entbehrlich, wenn die auf den Fotos eingeblendete Rotlichtzeit direkt gemessen wurde, als die Betroffene über die Haltelinie und nicht erst, als sie über einen Sensor fuhr, der sich erst hinter der Haltelinie befindet (vgl. Senat NStZ-RR 2016, 27).

b) Kommt die Anordnung eines Regelfahrverbotes in Betracht, besteht für die Gerichte keine Verpflichtung die Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge besonders zu begründen, wenn keine Anhaltspunkte vorliegen, die für ein Abweichen vom Regelfall sprechen. Der Tatrichter muss nicht ausdrücklich feststellen, dass der durch das Fahrverbot angestrebte Erfolg auch nicht mit einer erhöhten Geldbuße erreicht werden kann. Er muss sich dessen aber ausweislich der Gründe der Entscheidung bewusst gewesen sein (vgl. BGH NJW 1992, 446; Senat VRS 130, 251).

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