OLG Frankfurt – Az.: 1 Ss-OWi 72/20 – Beschluss vom 11.03.2020
1. Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts Wiesbaden vom 01.11.2019 wird verworfen.
2. Die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des Betroffenen fallen der Staatskasse zur Last (§ 46 Abs. 1 OWiG, § 467 Abs. 1 StPO).
Gründe
I.
Das Regierungspräsidium Kassel hat mit Bußgeldbescheid vom 01.08.2019 gegen den Betroffenen wegen Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage, wobei die Rotphase bereits länger als eine Sekunde andauerte, eine Geldbuße in Höhe von 200 Euro und – verbunden mit einer Anordnung gem. § 25 Abs. 2a StVG – ein Fahrverbot von einem Monat verhängt.
Auf seinen Einspruch hin hat das Amtsgericht Wiesbaden den Betroffenen mit Urteil vom 01.11.2019 wegen fahrlässiger Nichtbeachtung eines roten Lichtzeichens, wobei das rote Lichtzeichen schon länger als eine Sekunde andauerte, zu einer Geldbuße von 200 Euro verurteilt.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Betroffene, der bisher straßenverkehrsrechtlich nicht vorbelastet ist, am XX.XX.2019 um 05:17 Uhr die Straße2 in Stadt1:
„An der Kreuzung Straße2/Straße1 stoppte er zunächst an der roten Ampel und wartete. Als der Betroffene im Rückspiegel einen herannahenden Bus wahrnahm, der ihm ‚Lichthupe gab‘, erschreckte er sich, schaute nach vorne, sah ein grünes Licht und fuhr los. Jedoch orientierte er sich hierbei fälschlicherweise an einem falschen Lichtzeichen, nämlich an der ersten Fußgängerampel rechter Hand (erste Fußgängerampel Straße1), und beachtete daher nicht das für ihn als Pkw-Fahrer tatsächlich geltende Rotlicht der Lichtzeichenanlage der Kreuzung Straße2/Straße1. Er überfuhr daher die Haltelinie, als die Ampel bereits 49,58 Sekunden lang rot gezeigt hatte. (…) Nach 52 Sekunden wäre das Lichtzeichen auf grün gesprungen. Zum Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie galt für die aus der Straße2 und der Straße1 kommenden Autofahrer (Querverkehr) rot. Die Fußgängerampel an der Lichtzeichenanlage, an der der Betroffene wartete, war schon bei 44 Sekunden wieder auf ‚rot‘ gesprungen. Ein Abbiegen in die Straße1 war von dem Standort des Betroffenen nicht möglich.
(…) Die Durchschnittsgeschwindigkeit des von dem Betroffenen gefahrenen Fahrzeugs betrug während des Messvorgangs ca. 20 km/h.“
Gegen dieses Urteil richtet sich die nach § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 OWiG statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und ebenso mit der Sachrüge begründete Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Wiesbaden, welcher die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main beigetreten ist. Die Rechtsbeschwerde wendet sich gegen die Nichtanordnung eines Fahrverbots und damit gegen den Rechtsfolgenausspruch.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
Das Urteil hält der sachlich-rechtlichen Überprüfung stand. Insbesondere hat das Amtsgericht mit tragfähiger Begründung auf der Rechtsfolgenseite von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen.
1. Für die festgestellte Ordnungswidrigkeit ist eine Regelgeldbuße von 200 Euro sowie ein Regelfahrverbot von einem Monat nach Nr. 132.3 BKat vorgesehen. Die Erfüllung dieses Tatbestandes indiziert das Vorliegen eines groben Verstoßes im Sinne von § 25 Abs. 1 S. 1 StVG, der zugleich ein derart hohes Maß an Verantwortungslosigkeit im Straßenverkehr offenbart, dass es regelmäßig der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbots bedarf (vgl. BGHSt 38, 125 = NZV 1992, 117). Die zur Verhängung des Fahrverbots führende grobe Pflichtverletzung ist in objektiver und subjektiver Hinsicht indiziert (OLG Frankfurt, Beschl. v. 26.08.2010 – 2 Ss-OWi 592/10, BeckRS 2010, 26343 m.w.N.).
2. Allerdings ist das Amtsgericht zutreffend von einem Ausnahmefall ausgegangen und hat dafür eine auf Tatsachen gestützte Begründung gegeben (vgl. BGHSt 38, 125, 130 ff. = NJW 1992, 117 [120]). Die dem Urteil zu Grunde gelegten Ausführungen zu den Rotlichtzeiten sind nachvollziehbar und erscheinen schlüssig.
a) Bei Vorliegen eines Regelfalles kann nach der Rechtsprechung nur in solchen Fällen von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen werden, in denen der Sachverhalt erhebliche Besonderheiten zugunsten des Betroffenen gegenüber dem Normalfall aufweist. Erforderlich ist ein Verstoß von denkbar geringer Bedeutung und minimalem Handlungsunwert. Liegen besondere, einen groben Pflichtverstoß ausschließende Umstände nicht vor, ist das Fahrverbot unter Berücksichtigung seiner Bedeutung als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme zwingend zu verhängen. Der Handlungsunwert kann durch ein sogenanntes Augenblicksversagen gemindert sein (vgl. zu allem OLG Frankfurt, Beschl. v. 26.08.2010 – 2 Ss-OWi 592/10, BeckRS 2010, 26343 m.w.N.).
b) Sowohl Erfolgs- als auch Handlungsunwert sind derart gemindert, dass das Amtsgericht von einem Ausnahmefall ausgehen durfte.
aa) Schon der Erfolgsunwert ist erheblich gemindert.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts bestand zum Zeitpunkt des Losfahrens des Betroffenen keinerlei Gefährdung des mit der Lichtzeichenanlage geschützten Quer- und Fußgängerverkehrs. Für die anderen Autofahrer, die aus der Straße2 und der Straße1 kamen (Querverkehr), galt bereits das rote Lichtzeichen. Die Fußgängerampel an der Lichtzeichenanlage war bereits seit rund sechs Sekunden auf das rote Lichtzeichen gesprungen, als der Betroffene sein Fahrzeug in Bewegung setzte. Ohnehin hätte die Lichtzeichenanlage zu diesem Zeitpunkt nach nur rund zwei weiteren Sekunden das grüne Lichtzeichen für den Betroffenen gegeben. Sodann hätte er losfahren dürfen. Ein Abbiegen in die Straße1 war von dem Standort des Betroffenen nicht möglich. Zudem ist die Uhrzeit zu beachten. Am derart frühen Morgen kann für die Prüfung des Erfolgsunwerts von geringem Auto- und Fußgängerverkehr ausgegangen werden.
bb) Auch der Handlungsunwert ist derart gering, dass ein Ausnahmefall naheliegt.
Das Amtsgericht ist von einem kurzfristigen Versagen ausgegangen, das den Handlungsunwert des Verstoßes als weniger gravierend erscheinen lässt (sog. Augenblicksversagen). Dies überzeugt.
Der Betroffene hat dadurch, dass er zunächst vor der Lichtzeichenanlage ordnungsgemäß anhielt, gezeigt, dass er sich rechtstreu verhalten wollte. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass er aus einer kurzzeitigen Unaufmerksamkeit heraus in den frühen Morgenstunden auf die in gleicher Blickrichtung verlaufende Fußgängerampel, deren Lichtzeichen grün anzeigte, reagierte statt auf die für ihn geltende Ampel. Ohnehin ist nicht ganz einzusehen, weshalb für Autofahrer noch das rote Lichtzeichen gilt, während Fußgänger die Straße bereits queren dürfen. Hieraus ist indes keineswegs der Schluss zu ziehen, dass ein Autofahrer stets bereits eine Lichtzeichenanlage überfahren darf, sobald die entsprechende Fußgängerampel grün zeigt. Für diesen Verstoß verurteilte das Amtsgericht den Betroffenen zurecht zur Regelgeldbuße. Ebenfalls nachvollziehbar ist, dass die „Lichthupe“ des von hinten herannahenden Busses dieses Augenblicksversagen beim Betroffenen verursacht hat. Er ging hierbei erkennbar davon aus, dass der Fahrer des Busses ihm mitteilen wollte, dass das Lichtzeichen bereits grün zeige. Selbstverständlich darf sich ein Verkehrsteilnehmer nicht auf einen solchen „Hinweis“ verlassen. Dennoch mindert dieser plausible Vorgang den Handlungsunwert beim Verstoß des Betroffenen.
cc) Überdies ist der Betroffene bislang straßenverkehrsrechtlich unbescholten. Zwar begründet dieser Umstand allein noch keinen Ausnahmefall. Im Zusammenspiel mit den oben dargestellten Umständen durfte das Amtsgericht aber auch diesen Umstand zur Begründung des Ausnahmefalls heranziehen.
III.
Nach alledem ist die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts Wiesbaden vom 01.11.2019 mangels Rechtsfehler zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 1 OWiG, § 467 Abs. 1 StPO (vgl. KK-OWiG/Hadamitzky, 5. Aufl. 2018, § 79 Rn. 165).