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Rechtswidrige MPU- Gutachtensanforderung wegen Nennung falscher Rechtsgrundlage?

VG Augsburg – Az.: Au 7 S 14.748 – Beschluss vom 04.06.2014

I. Der Antragstellerin wird unter Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt … Prozesskostenhilfe bewilligt.

II. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Landratsamtes … vom 29. April 2014 wird hinsichtlich der Nummer 1 des Bescheids wiederhergestellt und hinsichtlich der Nummern 2 und 4 des Bescheids angeordnet.

III. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

IV. Der Streitwert wird auf 5.000,– EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die am … 1967 geborene Antragstellerin wendet sich gegen den Sofortvollzug der Entziehung ihrer Fahrerlaubnis der Klasse 3 (alt) wegen Nichtvorlage eines ärztlichen Fahreignungsgutachtens.

Die Antragstellerin hat am 13. November 1985 eine Fahrerlaubnis der Klasse 3 (alt) erworben.

Am 15. Januar 2014 wurde dem Antragsgegner durch schriftliche Kurzmitteilung der Polizeiinspektion … bekannt, dass die Antragstellerin am 10. Januar 2014, gegen 21:40, Uhr in einem unbeleuchteten Pkw in …, auf der Fahrbahn des dortigen Kreisverkehrs gestanden habe. Als der Streifenwagen unmittelbar vor ihrer Motorhaube angehalten habe, habe die Antragstellerin geradeaus auf die Fahrbahn gestarrt und keinerlei Regung gezeigt. Selbst beim Herantreten durch die Polizeibeamtin habe sie weiterhin geradeaus geblickt. Erst als an der Fensterscheibe der Fahrertür geklopft worden sei, und die Polizeibeamtin begonnen habe, die Fahrertür langsam einen Spalt zu öffnen, habe sie den Kopf zur Seite gedreht. Während des üblichen Gesprächs einer Verkehrskontrolle mit Fragen und Aufforderungen (z.B. Aushändigung von Führerschein und Fahrzeugschein) habe sich die Antragstellerin sehr langsam und träge gezeigt. Fragen hätten oftmals wiederholt werden müssen. Sie habe verwirrte und widersprüchliche Angaben zu ihrer Wohnanschrift und zu ihrer Arbeitsstelle gemacht. Ein freiwilliger Alcotest um 21:50 Uhr habe 0,00 mg/l ergeben. Auf mehrmaliges Auffordern habe sie schließlich das Fahrzeug verlassen. Ihr Gang sei unsicher gewesen. Nach kurzer Zeit habe sie angegeben, sich wieder setzen zu wollen, weil ihr schwindlig werde. Der daraufhin verständigte Notarzt habe u.a. den Blutzuckerwert gemessen, der zwar erhöht gewesen sei, aber nicht solche Auswirkungen hätte haben sollen. Zwischenzeitlich sei der Ehemann der Antragstellerin telefonisch erreicht worden. Im informatorischen Gespräch habe dieser angegeben, dass die Antragstellerin seit über einem Jahr ein Alkoholproblem habe und deswegen Tabletten nehme. Er habe das Medikament „Trimitramin“ (phonetisch) genannt. Die Antragstellerin sei zur weiteren medizinischen Versorgung ins Zentralklinikum … gebracht worden. Sie sei zum damaligen Zeitpunkt eindeutig nicht mehr körperlich und geistig fähig gewesen, ein Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr zu führen.

Der Antragsgegner teilte der Antragstellerin mit Schreiben vom 20. Januar 2014 mit, dass er wegen des Vorfalls vom 10. Januar 2014 beabsichtige, ein ärztliches Gutachten bzw. ein medizinisch-psychologisches Gutachten zu ihrer Fahreignung anzufordern. Sie könne sich hierzu bis zum 3. Februar 2014 äußern. Auf dieses Schreiben reagierte die Antragstellerin nicht.

Mit Schreiben vom 4. Februar 2014, zugestellt laut Postzustellungsurkunde am 5. Februar 2014, teilte der Antragsgegner der Antragstellerin mit, dass aufgrund des Vorfalls vom 10. Januar 2014 und aufgrund der Angaben ihres Ehemannes, dass sie wegen eines Alkoholproblems das Medikament „Trimitramin“, ein Antidepressivum, einnehme, ihre Fahreignung überprüft werden müsse.

Als Rechtsgrundlage für die Eignungsüberprüfung wurde § 11 Abs. 2 FeV i.V.m. Nrn. 7.4, 7.5 und 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV und die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung genannt. Die Antragstellerin werde gebeten, bis zum 4. April 2014 ein ärztliches Gutachten eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung, der die Anforderungen nach Anlage 14 zur FeV erfülle, beizubringen. Zur Begründung der Gutachtensanforderung wurde u.a. ausgeführt, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens sei aus Sicht der Fahrerlaubnisbehörde gewahrt. Die Antragstellerin habe am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen, obwohl sie auf Grund von einer Medikamenteneinnahme nicht in der Lage gewesen sei, ein Fahrzeug sicher zu führen.

Die zu klärende Fragestellung legte der Antragsgegner in diesem Schreiben wie folgt fest:

„1. Liegt bei der Antragstellerin eine psychische Erkrankung in Form einer Depression vor, die die Fahreignung derzeit beeinflusst?

2. Welche Art von Depression liegt möglicherweise vor (endogen oder reaktiv)?

3. Falls eine Depression bestand, ist diese Depression soweit abgeklungen?

4. Ist eine Medikamenteneinnahme notwendig?

5. Besteht eine Suizidalität?

6. Besteht bei der Antragstellerin in Folge des Krankheitsbildes der möglichen Depression und den einzunehmenden Medikamenten ein ausreichendes Leistungs- und Reaktionsvermögen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klasse 3?

7. Ist für den Fall, dass das Leistungsvermögen nicht (mehr) ausreichend ist, die Überprüfung einer ausreichenden Kompensation im Rahmen einer Fahrverhaltensbeobachtung (MPU) angezeigt?“

Die Antragstellerin wurde in diesem Schreiben u.a. darauf hingewiesen, dass bei nicht fristgerechter Gutachtensvorlage die Zweifel an ihrer Fahreignung als nicht ausgeräumt gelten und die Fahrerlaubnisbehörde in diesem Fall auf ihre Nichteignung schließen müsste, mit der Folge, dass ihre Fahrerlaubnis zu entziehen sei.

Am 18. Februar 2014 erhielt der Antragsgegner die Erklärung der Antragstellerin, dass sie die … GmbH mit der Begutachtung ihrer Fahreignung beauftrage.

Mit Schreiben vom 3. April 2014 zeigte der Bevollmächtigte der Antragstellerin deren Vertretung an und führte zur Gutachtensanordnung u.a. aus, die Antragstellerin sei ohne jeglichen Alkoholeinfluss gewesen. Sie sei auch ohne jeglichen Medikamenteneinfluss gewesen. Die Antragstellerin sei von ihrer Arbeit in … nach Hause gekommen. Sie hätte den ganzen Tag nichts gegessen und wenig getrunken. Es lägen aktuelle Probleme mit ihrem Ehemann vor. Sie habe sich einfach geschwächt gefühlt.

Mit Schreiben vom 4. April 2014 sandte die … GmbH die übermittelten Unterlagen an den Antragsgegner zurück.

Mit Bescheid vom 29. April 2014 entzog der Antragsgegner der Antragstellerin die Fahrerlaubnis in vollem Umfang (Nr. 1 des Bescheidtenors). Die Antragstellerin wurde aufgefordert, ihren Führerschein der Klasse 3 (Listennummer …) unverzüglich beim Antragsgegner abzuliefern oder bei Unauffindbarkeit des Führerscheins eine Versicherung an Eides Statt über dessen Verbleib vorzulegen (Nr. 2 des Bescheidtenors). Die sofortige Vollziehung der Nr. 1 des Bescheides wurde angeordnet (Nr. 3 des Bescheidtenors). Für den Fall, dass die Antragstellerin der Aufforderung unter Nr. 2 des Bescheides nicht innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung dieses Bescheids nachkommt, wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 250,00 EUR angedroht (Nr. 4 des Bescheidtenors).

Der Bescheid wurde dem Bevollmächtigten der Antragstellerin laut Postzustellungsurkunde am 30. April 2014 zugestellt.

Da die Antragstellerin ihren Führerschein nicht fristgerecht beim Antragsgegner ablieferte, wurde ihr mit Schreiben vom 26. Mai 2014 mitgeteilt, dass das angedrohte Zwangsgeld zur Zahlung fällig sei. Gleichzeitig wurde mit Bescheid vom 26. Mai 2014 ein weiteres Zwangsgeld in Höhe von 500 EUR angedroht, falls sie ihrer Verpflichtung gemäß Ziffer 2 des Bescheids vom 29. April 2014 nicht bis spätestens 2. Juni 2014 nachkomme.

Am 16. Mai 2014 ließ die Antragstellerin beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg Klage gegen den Entziehungsbescheid vom 29. April 2014 erheben, die unter dem Aktenzeichen Au 7 K 14.747 geführt wird. Zudem wurde der Antrag gestellt, der Antragstellerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten zu bewilligen.

Gleichzeitig wurde beantragt, im Weg einstweiliger Anordnung die sofortige Vollziehung der Nummer 1 des Bescheids vom 29. April 2014 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache aufzuheben.

Zur Begründung von Klage und Eilantrag wurde u.a. ausgeführt, die Antragstellerin habe das Medikament Trimitramin noch nie zu sich genommen. Dass der Ehemann auf dieses Medikament hingewiesen habe, liege daran, dass dieses Medikament einmal zu Hause gelegen habe, als es der Antragstellerin von einem Psychologen verschrieben worden war. Die Antragstellerin habe es aber nie zu sich genommen. Dies habe ihr Ehemann aber nicht gewusst. Damit entfalle jegliche nachweisbare Fahruntauglichkeit der Antragstellerin. Diese wäre durch entsprechende Untersuchung des Bluts festzustellen gewesen. Daher bestünden keine Bedenken gegen die Fahreignung der Antragstellerin. Hintergrund ihres schlechten Gesundheitszustandes sei gewesen, dass sie an diesem Tag nichts gegessen habe und ihr vorübergehend schlecht geworden sei. Sie habe deshalb das Fahrzeug abgestellt und gewartet, bis sich ihr Zustand verbessere. Hintergrund der Situation sei, dass die Antragstellerin aktuelle eheliche Probleme habe, die sie derzeit sehr belasten. Es sei auch ein Umzug vorgesehen. Diese momentanen Belastungen könnten jedoch nicht den Schluss rechtfertigen, dass die Klägerin fahruntauglich sei und ihr die Fahrerlaubnis entzogen werde.

Der Antragsgegner beantragte mit Schreiben vom 27. Mai 2014, den Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung zurückzuweisen.

Das Verhalten der Antragstellerin am 10. Januar 2014 (u.a. verwirrte Angaben, träge, verlangsamte Reaktionen, das Parken ohne Licht im Kreisverkehr über einen längeren Zeitraum, die durch die Polizei veranlasste medizinische Versorgung im Zentralklinikum …) und die Angaben ihres Ehemannes, sie nehme das Medikament Trimitramin, würden auf Fahreignungsmängel hin deuten.

Bezüglich weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Parteien wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen.

II.

Der „Antrag auf einstweilige Anordnung“ ist nach § 122 Abs. 1, § 88 Verwaltungsgerichtsordnung/VwGO im Interesse effektiven Rechtsschutzes dahingehend auszulegen, dass es sich um einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO handelt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 1. des streitgegenständlichen Bescheids wiederherzustellen und hinsichtlich der bereits kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Ziffer 2. des Bescheids (Ablieferungspflicht: § 47 Abs. 1 Satz 2 der Fahrerlaubnis-Verordnung/FeV; vgl. BayVGH, B.v.14.12.2005, DAR 2006, 169 – 172; juris Rn. 59; ) und der Ziffer 3. des Bescheids (Zwangsgeldandrohung: Art. 21 a des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes/VwZVG) anzuordnen.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Bei der Entscheidung über den vorliegenden Antrag, hat das Gericht eine eigenständige Interessenabwägung vorzunehmen. Abzuwägen ist das Interesse des Antragstellers, zumindest vorläufig von seiner Fahrerlaubnis weiter Gebrauch machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird. Hierbei sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des eingelegten Hauptsacherechtsbehelfs ausschlaggebend. Der Bürger kann kein schutzwürdiges privates Interesse daran haben, von der Vollziehung eines offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsakts verschont zu bleiben. Andrerseits kann am sofortigen Vollzug eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kein öffentliches Interesse bestehen. Insoweit ist eine summarische Prüfung der Rechtslage geboten, aber auch ausreichend.

Der Bescheid vom 29. April 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten, weil der Antragsgegner nicht gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung der Antragstellerin schließen durfte.

Die Fahrerlaubnisbehörde hat die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4 oder 5 der FeV vorliegen (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Nach § 46 Abs. 3 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die in § § 11 bis 14 FeV geregelten Aufklärungsmaßnahmen zu treffen, wenn Hinweise auf die genannten Krankheiten vorliegen. Zu diesen Aufklärungsmaßnahmen gehört nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV auch die Anordnung, ein ärztliches Gutachten beizubringen.

Der Schluss auf die Nichteignung des Betroffenen im Falle grundloser Nichtbeibringung des Gutachtens ist gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV aber nur dann zulässig, wenn die Anordnung zur Gutachtensbeibringung rechtmäßig war, wenn also die rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung erfüllt sind und die Anordnung auch im Übrigen den Anforderungen des § 11 FeV entspricht. Voraussetzung ist insbesondere, dass die Anordnung zur Beibringung des Gutachtens anlassbezogen und verhältnismäßig erfolgt ist. Die Gutachtensanordnung muss weiter hinreichend bestimmt und aus sich heraus verständlich sein. Der Betroffene muss der Gutachtensaufforderung entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist und ob das Verlautbarte die behördlichen Zweifel an seiner Fahreignung zu rechtfertigen vermag. Auch der Gutachter ist an die Gutachtensaufforderung und die dort genannte Rechtsgrundlage gebunden; es ist nicht seine Aufgabe, die zutreffende Rechtsgrundlage und damit seine eigene Beurteilungsgrundlage selbst festzulegen (vgl. auch OVG NRW, B.v. 7.2.2013 – 16 E 1257/12 – SVR 2013, 314). An die Rechtmäßigkeit der Gutachtensaufforderung sind strenge Maßstäbe anzulegen, weil der Antragsteller die Gutachtensaufforderung mangels Verwaltungsaktqualität nicht direkt anfechten kann. Er trägt das Risiko, dass ihm gegebenenfalls die Fahrerlaubnis bei einer Weigerung deswegen entzogen wird. Daher kann auf die strikte Einhaltung der vom Verordnungsgeber für die Rechtmäßigkeit einer solchen Anordnung aufgestellten materiellen und formalen Voraussetzungen nicht verzichtet werden (vgl. BayVGH, B.v. 27.11.2012 – 11 ZB 12.1596 – ZfSch 2013, 177).

An einer rechtmäßigen Gutachtensanordnung fehlt es hier.

1. Die vom Antragsgegner im Schreiben vom 4. Februar 2014 (unter anderem) genannten Rechtsgrundlagen – § 11 Abs. 2 FeV i.V.m. Nrn. 7.4 und 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV – können die Gutachtensanordnung nicht tragen, denn die im vorliegenden Fall bekannt gewordenen Tatsachen weisen jedenfalls nicht auf eine Erkrankung nach Nr. 7.4 und 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV hin.

Bei dem in der Gutachtensanordnung dargestellten Vorfall vom 10. Januar 2014 sind folgende Tatsachen bekannt geworden: längeres Parken ohne Licht im Kreisverkehr, träges verlangsamtes Verhalten/Reaktionen, verwirrte Angaben zur Wohnadresse und Arbeitsstelle, unsicherer Gang und Schwindelgefühl, erhöhter Blutzuckerwert, polizeilich veranlasste medizinische Versorgung im Krankenhaus. Zudem liegen Angaben des Ehemanns der Antragstellerin (sie nehme das (trizyklische) Antidepressivum „Trimitramin“ – gemeint wohl: Trimipramin- ein) und Angaben der Antragstellerin selbst vor (ihr sei dieses Medikament verschrieben worden, sie habe es aber nie eingenommen).

Die o.g. Tatsache, dass der Antragstellerin Trimipramin verschrieben wurde, stellt damit einen Hinweis darauf dar, dass die Antragstellerin an einer depressiven Erkrankung litt oder noch leidet. Der Hinweis auf das Vorliegen einer depressiven Erkrankung deutet wiederum darauf hin, dass die am 10. Januar 2014 von der Polizei dokumentierten o.g. Ausfallerscheinungen nicht nur – wie von der Antragstellerin behauptet – auf einer unzureichenden Nahrungsaufnahme an diesem Tag beruhen, sondern (auch) mit einer psychischen/depressiven Erkrankung in Zusammenhang stehen können.

Die Erkenntnisse bezüglich des Vorfalls vom 10. Januar 2010 rechtfertigen damit zwar grundsätzlich die Abklärung der Fahreignung durch ein ärztliches Gutachten. Die o.g. Tatsachen, insbesondere die am 10. Januar 2014 aufgetretenen „Ausfallerscheinungen,“ stellen aber keinesfalls einen Hinweis darauf dar, dass bei der Antragstellerin eine Krankheit im Sinne von Nr. 7.4 der Anlage 4 zur FeV, nämlich eine „schwere Intelligenzstörung oder schwere geistige Behinderung“ vorliegt, sie also an dauerhaft bestehenden relevanten Einschränkungen der Intelligenzfunktion leiden könnte (Intelligenzquotient von weniger als 70) und damit den Anforderungen des modernen Straßenverkehrs nicht gerecht werden könnte (vgl. B. Madea/F. Mußhoff/G. Berghaus, Verkehrsmedizin, 2. Auflage, B. 2.10.8, B 2.10.8.3, S.431/432). Für eine derartige Erkrankung liegen nicht einmal ansatzweise Anhaltspunkte vor und können mit Sicherheit nicht aus der nach Aktenlage einzigen Auffälligkeit vom 10. Januar 2014 hergeleitet werden.

Die Anordnung des ärztlichen Gutachtens kann auch nicht auf § 11 Abs. 2 Satz 2 FeV i.V.m. Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV gestützt werden. Die unter diesem Punkt aufgeführte „Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erforderliche Maß“ stellt einen Unterfall zur Nr. 9.6 „Dauerbehandlung mit Arzneimitteln“ dar. Aus den widersprüchlichen Angaben der Antragstellerin (sie habe das ihr verordnete Medikament Trimipramin nie eingenommen) und ihres Ehemanns (sie nehme Trimipramin) kann weder auf ein Konsummuster noch auf eine Dauerbehandlung mit diesem Medikament geschlossen werden. Auch liegen keinerlei Anhaltspunkte für eine Dauerbehandlung der Antragstellerin mit einem anderen Arzneimittel vor, welches die Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen beeinträchtigen kann. Damit fehlen jegliche konkrete Anhaltspunkte, um die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens zur Fahreignung auf diese Rechtsgrundlage stützen zu können, zumal der Vorfall vom 10. Januar 2014 nach Aktenlage die einzige Auffälligkeit der Antragstellerin (im Straßenverkehr) war und weitere konkrete Anhaltspunkte für eine auf dauerhafter Arzneimitteleinnahme beruhende relevante Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht vorhanden sind. Insofern beruht die (auch) auf Nr. 9.6.2 gestützte Anordnung auf einem bloßen Verdacht des Antragsgegners und ist „ins Blaue hinein“, einem Ausforschungsbeweis vergleichbar, erfolgt.

Diese Fehler, nämlich die Angabe von zwei falschen Rechtsgrundlagen, macht die gesamte Gutachtensanordnung rechtswidrig. Denn die Fragen 6 und 7 haben ersichtlich (auch) einen Bezug zu den (hier nichtanwendbaren) Rechtsgrundlagen Nr. 7.4 und 9.6.2. In der Frage Nr. 7 ist zudem nach dem Wort „Fahrverhaltensbeobachtung“ der Klammerzusatz „(MPU)“ beigefügt. Die Abkürzung „MPU“ steht – wie allgemein bekannt ist – für medizinisch-psychologische Untersuchung. Was dieser Zusatz in diesem Zusammenhang bedeuten soll, also welcher Zusammenhang zwischen einer Fahrverhaltensbeobachtung (Fahrprobe, ggf. abgenommen von einer amtlich anerkannten Stelle) und einer medizinisch-psychologischen Untersuchung bestehen soll, ist nicht ersichtlich. Diese Unklarheit führt auch zur Rechtswidrigkeit der Frage Nr. 7.

Besteht eine Gutachtensanordnung wie hier aus mehreren Teilen, so infiziert die Unrechtmäßigkeit eines Teils regelmäßig auch den anderen Teil. Die scharfe Sanktion des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV setzt grundsätzlich eine vollständig rechtmäßige Gutachtensanordnung voraus. Der Antragstellerin kann nicht zugemutet werden, zu differenzieren und den Gutachter zu einer entsprechenden abschichtenden Untersuchung zu veranlassen. Dies ist nicht ihre Aufgabe, sondern die Fahrerlaubnisbehörde selbst muss den Untersuchungsumfang klar festlegen (VGH BW, B.v. 2.12.2013 – 10 S 1491/13 – DAR 2014, 220 ff.; B.v. 30.6.2011 – 10 S 2785/10 – DAR 2011, 3257 ff). Die Gutachtensanordnung ist unteilbar, wie auch der zwingend erforderliche Hinweis nach § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV zeigt. Der Antragsgegner hat – ohne Abstriche zu machen oder zu differenzieren – die Antragstellerin ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er auf die Nichteignung schließen und die Fahrerlaubnis entziehen werde, wenn sich die Antragstellerin nicht untersuchen lassen bzw. das geforderte Gutachten nicht fristgerecht vorlegen sollte.

Die Fahrerlaubnisbehörde ist gegebenenfalls gehalten, in der Phase der Vorklärung, ob die Erkenntnisse um den Vorfall vom 10. Januar 2014 Hinweise auf das Vorliegen von nach der Anlage 4 zur FeV fahreignungsrelevanten physischen und/oder psychischen Erkrankungen geben und wenn ja, welche, sich des öffentlichen Gesundheitsdienstes zu bedienen, der in der Regel im eigenen Haus vorhanden ist.

Nach alledem durfte der Antragsgegner aufgrund der Nichtbeibringung des geforderten Gutachtens nicht auf die Nichteignung der Antragstellerin schließen. Vielmehr sind die Gutachtensaufforderung vom 4. Februar 2014 und der Entziehungsbescheid vom 29. April 2014 nach summarischer Prüfung rechtswidrig und verletzen die Antragstellerin in ihren Rechten. Die Rechtswidrigkeitsfolge erstreckt sich auch auf die Anforderung, den Führerschein abzuliefern, und die Zwangsgeldandrohung.

2. Vor diesem Hintergrund ist es unter Abwägung der gegenseitigen Interessen gerechtfertigt, die aufschiebende Wirkung der Klage – wie tenoriert – wiederherzustellen bzw. anzuordnen, weil eine Ungeeignetheit der Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen gegenwärtig gerade nicht feststeht.

3. Die Kostenentscheidung ergeht nach § 154 Abs. 1 VwGO.

4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) und den Empfehlungen des Streitwertkatalogs 2013, Nr. 1.5 Satz 1 sowie Nr. 46.3 und 46.5. Danach sind für die Streitwertfestsetzung für die Fahrerlaubnis der Klasse 3 (alt) – hier erteilt nach dem 31. März 1980 und vor dem 1. Januar 1989 – nur noch die Klassen B und C1 maßgeblich. Die Fahrerlaubnisklasse E wird nicht mehr streitwerterhöhend berücksichtigt. Danach ist der Streitwert mit 10.000,– EUR anzusetzen, wobei dieser Wert im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu halbieren ist.

 

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