Oberlandesgericht Saarbrücken, Az.: Ss (B) 22/14 (16/14 OWi), Beschluss vom 23.04.2014
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Merzig vom 30. Januar 2013 mit den zugehörigen Feststellungen a u f g e h o b e n und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Merzig z u r ü c k v e r w i e s e n.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Merzig hat den Betroffenen mit Urteil vom 30. Januar 2013 wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h außerhalb einer geschlossenen Ortschaft um 42 km/h mit einem PKW zu einer Geldbuße in Höhe von 160,– € verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot von einem Monat verhängt.
Gegen dieses Urteil hat der Verteidiger des Betroffenen mit am 6. Februar 2013 vorab per Telefax beim Amtsgericht Merzig eingegangenem Schriftsatz vom selben Tag Rechtsbeschwerde eingelegt. Das mit Gründen versehene Urteil ist dem Verteidiger des Betroffenen am 7. Oktober 2013 zugestellt worden. Mit am 4. November 2013 beim Amtsgericht Merzig vorab per Telefax eingegangenem Schriftsatz vom 31. Oktober 2013 hat der Verteidiger die Rechtsbeschwerde begründet. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Mit der Verfahrensrüge beanstandet er, dass das Urteil nicht fristgerecht zur Akte gebracht worden sei.
II.
Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte sowie begründete Rechtsbeschwerde (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 341Abs. 1, § 344, § 345 StPO) führt bereits aufgrund der in zulässiger Form (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) ausgeführten Verfahrensrüge der Verletzung des § 71 Abs. 1 OWiG i. V. mit § 275Abs. 1 Satz 2, Satz 4, § 338 Nr. 7 StPO (vgl. hierzu BGHSt 29, 43 ff. – Rn. 2-4 nach juris; Senatsbeschlüsse vom 11. Mai 2011 – Ss 46/2011 (52/11) und vom 25. September 2012 – Ss (B) 94/2012 (74/12 OWi); Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 338 Rn. 57), eines absoluten Revisionsgrundes, der gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG im Rechtsbeschwerdeverfahren entsprechende Anwendung findet (vgl. Senatsbeschlüsse vom 23. Oktober 2001 – Ss (B) 59/01 (81/01) und vom 21. Januar 2013 – Ss (B) 90/2012 (72/12 OWi)), zum Erfolg.
1. Nach § 338 Nr. 7 StPO ist ein Urteil stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, wenn dessen Entscheidungsgründe nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 StPO ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind. Nach der zuletzt genannten Vorschrift beträgt dieser Zeitraum, wenn die Hauptverhandlung – wie hier – nicht länger als drei Tage gedauert hat und das Gericht nicht durch einen nicht voraussehbaren und unabwendbaren Umstand an der Fristeinhaltung gehindert worden ist, fünf Wochen nach der Urteilsverkündung. Maßgebend dafür, wann das Urteil zu den Akten gelangt ist, ist in erster Hinsicht der Eingangsvermerk der Geschäftsstelle nach § 275 Abs. 1 Satz 5 StPO (vgl. Löwe-Rosenberg/Franke, StPO, 26. Aufl., § 338 Rn. 121). Dieser Vermerk hat allerdings nicht die Beweiskraft des Protokolls und hindert daher nicht den anderweitigen Nachweis, dass das Urteil rechtzeitig zur Akte gebracht worden ist (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., § 275 Rn. 18; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 275 Rn. 53). Dies kann etwa durch eine nachträgliche dienstliche Äußerung des Richters (vgl. BGHSt 29, 43 ff. Rn. 12, zit. nach juris) oder des Geschäftsstellenbeamten geschehen (vgl. BGH NStZ 1988, 423 f. Rn. 7, zit. nach juris). Fehlt ein Eingangsvermerk der Geschäftsstelle und lässt sich auch nicht auf andere Weise feststellen, dass das Urteil rechtzeitig zu den Akten gelangt ist, so ist davon auszugehen, dass die Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO versäumt und der absolute Aufhebungsgrund des § 338 Nr. 7 StPO gegeben ist (vgl. Löwe-Rosenberg/Franke, a. a. O.; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, a. a. O.; Meyer-Goßner, a. a. O., § 275 Rn. 7; vgl. zum Ganzen auch: Senatsbeschlüsse vom 24. Juli 2012 – Ss 3/2012 (3/12) und vom 21. Januar 2013 – Ss (B) 90/2012 (72/12 OWi)).
2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist die fünfwöchige Frist, innerhalb derer die Entscheidungsgründe hätten zu den Akten gebracht worden sein müssen, im vorliegenden Fall nicht gewahrt.
a) Das Urteil des Amtsgerichts Merzig ist am 30. Januar 2013 verkündet worden, so dass die Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO mit Ablauf des 6. März 2013 endete (§ 43 Abs. 1 StPO). Ausweislich des – allerdings nicht unterzeichneten – Eingangsvermerks der Geschäftsstelle (Bl. 71 Rs. d. A.), insbesondere aber der Verfügung des erkennenden Richters vom 1. Oktober 2013 (Bl. 66 Rs. d. A.), die den Vermerk enthält, dass die Akten falsch abgelegt und erst am 25.9.2013 wieder aufgefunden worden seien, und mit der die Zustellung des Urteils verfügt worden ist, ist das vollständige, mit den Gründen versehene Urteil aber erst am 1. Oktober 2013 und somit nach Ablauf der fünfwöchigen Frist zur Akte gebracht worden.
b) Die Fristüberschreitung war auch nicht gemäß § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO durch einen nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand gerechtfertigt. Gerichtsorganisatorische Gründe oder die allgemeine Arbeitsüberlastung (vgl. BGH NStZ 1992, 398; NStZ 2003, 564; NStZ 2008, 55) oder Versehen des Richters (vgl. KG VRS 83, 278), der Kanzlei (vgl. BayObLG StV 1986, 145; OLG Hamm VRS 50, 121; OLG Koblenz VRS 65, 451) oder der Geschäftsstelle stellen keinen nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand in diesem Sinne dar (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Mai 2011 – Ss 46/2011 (52/11); Meyer-Goßner, a. a. O., § 275 Rn. 14 m. w. N.). Auch dass die Akte ausweislich des Vermerks des erkennenden Richters vom 1. Oktober 2013 falsch abgelegt und erst am 25.9.2013 wieder aufgefunden wurde, ist kein solcher Umstand (vgl. OLG Koblenz NZV 2011, 359 f. – Rn. 5 nach juris).
3. Die begründete Verfahrensrüge schließt eine Prüfung des Urteils auf die gleichfalls erhobene Sachrüge aus (vgl. Senatsbeschlüsse vom 23. Oktober 2001 – Ss (B) 59/01 (81/01), vom 22. August 2008 – Ss (B) 45/2008 (52/08), vom 11. Mai 2011 – Ss 46/2011 (52/11) und vom 25. September 2012 – Ss (B) 94/2012 (74/12 OWi)).
4. Das angefochtene Urteil war daher mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 354 Abs. 2 StPO). Im Falle eines erneuten Schuldspruchs wird der neue Tatrichter zu bedenken haben, ob im Hinblick darauf, dass seit der Tat aus nicht von dem Betroffenen, sondern überwiegend von den Justizbehörden zu vertretenden Gründen bereits mehr als 2 Jahre vergangen sind, ein Absehen vom (indizierten) Fahrverbot gerechtfertigt ist (vgl. im Einzelnen König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 25 StVG Rn. 24 m.w.N.).