OLG Koblenz – Az.: 2 OWi 6 SsRs 118/19 – Beschluss vom 20.05.2020
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Wittlich vom 4. Februar 2019 wird zugelassen (§§ 79 Abs. 1 S. 2, 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG).
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Wittlich zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).
Gründe
I.
Der Betroffene wurde durch das Amtsgericht Wittlich mit Urteil vom 4. Februar 2019 wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 34 km/h mit einer Geldbuße von 120 € belegt. Im Hauptverhandlungstermin vor dem Amtsgericht hatte die Verteidigerin des Betroffenen unter anderem beantragt, ihr die Statistikdatei, die Case-List, die Instandsetzungs-, Wartungs- und Eichunterlagen sowie die Aufbau- und Einbauvorschriften zum Messgerät Vitronic Poliscan FM1 im Enforcement Trailer zugänglich zu machen. Zudem beantragte sie, das Verfahren bis zur Einholung dieser Unterlagen auszusetzen. Beide Anträge wurden durch das Gericht abgelehnt. Den daraufhin gestellten Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Fehlerhaftigkeit der Messung lehnte das Amtsgericht unter Verweis auf § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG ebenfalls durch Beschluss ab.
Gegen dieses Urteil wendete sich der Betroffene mit seinem form- und fristgerecht angebrachten Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Mit Beschluss vom 6. Juni 2019 verwarf das Oberlandesgericht den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Wittlich unter Bezugnahme auf den entsprechenden Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz vom 6. Mai 2019 als unbegründet. Der ständigen Rechtsprechung der Bußgeldsenate des Oberlandesgerichts Koblenz folgend, sah die Entscheidung des Senats in der Ablehnung des Amtsgerichts keine Rechtsverletzung zuungunsten des Beschwerdeführers, indem es den Antrag der Verteidigung auf Verfahrensaussetzung zur Einholung und Vorlage der Aufbauvorschrift für das Geschwindigkeitsmessgerät im sogenannten Enforcement Trailer zurückwies. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Koblenz war der Tatrichter ohne konkrete Anhaltspunkte für Messfehler nicht gehalten, Anträgen der Verteidigung auf Beiziehung der digitalen Messreihe und sonstiger Unterlagen nachzugehen, wenn der Messung wie hier ein standardisiertes Messverfahren zugrunde lag; allgemein gehaltene Hinweise auf theoretisch mögliche Fehlerquellen seien unbeachtlich (vgl. OLG Koblenz, 2 OWi 6 SsRs 224/18 v. 08.03.2019; 2 OWi 6 SsRs 176/18 v. 21.11.2018; 2 Owi 6 SsBs 19/18 v. 17.07.2018, juris Rn. 33-36; s.a. OLG Bamberg NZV 2018, 425 mwN; OLG Saarbrücken, Ss Rs 13/17 (26/17 OWi) v. 21.04.2017, juris Rn. 9).
Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz erhoben. Dabei hat er die Verfassungsbeschwerde auf eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips in der Ausprägung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 77 Abs. 2 iVm Art. 1 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz (LV)), des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 6 Abs. 1 S. 1 LV) sowie der Rechtsschutzgarantie (Art. 124 LV) gestützt.
Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz hat in seiner Entscheidung vom 15. Januar 2020 (Verfassungsgerichtshof v. 15.01.2020 VGH B 19/19) festgestellt, dass der Beschluss vom 6. Juni 2019 den Beschwerdeführer in seinen Rechten auf effektiven Rechtsschutz sowie den Grundsatz des gesetzlichen Richters verletzt hat. Zur Begründung hat der Verfassungsgerichtshof ausgeführt (UA S. 13ff.), die Rechtsbeschwerde des Betroffenen sei zumindest mit Blick auf die entgegenstehende Rechtsprechung anderer Obergerichte zur Frage des Rechts auf Einsichtnahme in nicht bei den Akten befindlicher Bedienungsanleitungen eines Messgeräts – die Aufbauanleitung eines Messgerätes steht insofern der Bedienungsanleitung gleich – zuzulassen gewesen. In seiner Entscheidung sah er die Voraussetzungen von § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG als gegeben an, da eine höchstrichterliche Rechtsprechung bisher zu dieser Frage nicht ergangen sei und sich der Senat durch seine angefochtene Entscheidung in Widerspruch zu den bisher mit dieser Rechtsfrage befassten Obergerichten (Kammergericht Beschluss v. 07.01.2013 – 3 Ws (B) 596/12; OLG Naumburg Beschluss v. 05.11.2012 – 2 Ss (Bz) 100/12; OLG Karlsruhe Beschluss v. 12.01.2018) gesetzt habe.
Mit den weiteren gegen den Beschluss vom 6. Juni 2019 erhobenen Rügen hat sich der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz mit Blick auf das Gebot der materiellen Subsidiarität nicht eingehender befasst. Gleichwohl hat er die Gelegenheit genutzt, um richtungsweisende Hinweise zu der weitergehenden Frage des zur Verfügung Stellens der Statistikdatei und der Case-List zu gegeben (UA S. 26). Diese Ausführungen lassen erkennen, dass an der Rechtsfigur des standardisierten Messverfahrens zur Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung weiterhin festzuhalten ist und sich das Recht der Ordnungswidrigkeiten sowie das allgemeine Strafrecht in wesentlichen Punkten voneinander unterscheiden (BVerfGE 45, 272) und Vereinfachungen im Ordnungswidrigkeitenverfahren daher nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen, auch wenn die Vereinfachungen des Bußgeldverfahrens Vorschriften betreffen, die dem Schutz des Betroffenen dienen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz hat in der Stellungnahme vom 16. März 2019 votiert wie entschieden.
II.
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz, das den Beschluss des Senats vom 6. Juni 2019 gem. § 49 Abs. 3 VerfGHG aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverweisen hat, war der Senat zu erneuter Entscheidung über den Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde berufen.
Der zulässige, insbesondere fristgerecht eingereichte Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, gegen das Urteil des Amtsgerichts Wittlich vom 4. Februar 2020 hat in der Sache nunmehr im Lichte der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz Erfolg.
Wie die Urteilsausführungen des Verfassungsgerichtshofs erkennen lassen, ist die nicht gewährte Einsicht in die nicht bei den Akten befindliche Aufbauanleitung des Messgeräts durch das Amtsgericht Wittlich mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar und mit der bisherigen Rechtsprechung der anderen Obergerichte nicht vereinbar (KG 3 Ws (B) 596/12 vom 07.01.2013, OLG Naumburg 2 Ss (Bz) 100/12 vom 05.11.2012, OLG Karlsruhe 2 Rb 8Ss 839/17 vom 12.01.2018). Der Senat schließt sich nach erneuter Bewertung der Sach- und Rechtslage, insbesondere unter Berücksichtigung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz, der Rechtsauffassung der vorbenannten Entscheidungen ausdrücklich an.
Folgerichtig war das Urteil des Amtsgerichts Wittlich mit den dazugehörigen Feststellungen aufzuheben und zur erneuten Entscheidung unter Beachtung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens an das Amtsgericht Wittlich zurückzuverweisen. Spätestens auf einen entsprechenden Antrag hin wäre das Gericht daher gehalten, die Aufbauanleitung für den Einbau des Messgeräts Vitronic Poliscan FM1 in einen Enforcement Trailer bei der zentralen Bußgeldstelle anzufordern und der Verteidigung zur Verfügung zu stellen.
Mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt (2 Ss Owi 173/13 vom 12.04.2013) liegt, wie die Generalstaatsanwaltschaft im Votum vom 16. März 2020 ausgeführt hat, keine dieser einheitlichen Rechtsprechung der vorgenannten Oberlandesgerichte widersprechende Entscheidung vor, da in dem genannten Beschluss die Frage nach dem Einsichtsrecht nach nicht bei der Akte befindlicher Dokumente dahingestellt gelassen wurde. Insofern war eine Übertragung auf den Senat zur Vorlage der Sache an den Bundesgerichtshof nicht angezeigt.