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MPU wegen vor mindestens 19 Jahren begangener Straftaten?

VG Hamburg – Az.: 15 E 3847/19 – Beschluss vom 11.10.2019

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 7. August 2019 gegen den Bescheid vom 17. Juli 2019 (Az. XXX) wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller seinen Führerschein zurückzugeben.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin nach einem Streitwert von 5.000 Euro.

Dem Antragsteller wird für die erste Instanz Prozesskostenhilfe ohne Zahlungsverpflichtung bewilligt. Herr Rechtsanwalt XXX wird zur Vertretung beigeordnet.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis.

Der 1971 geborene Antragsteller war seit 1991 Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klasse 3.

Mit Urteil des Landgerichts Hamburg vom xx.xx.1990 wurde er wegen Vergewaltigung in drei Fällen, davon in einem Fall versucht, und sexueller Nötigung in fünf Fällen, davon in drei Fällen versucht, zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Nach einer vorzeitigen Entlassung auf Bewährung wurde der Antragsteller erneut straffällig, mit Urteil vom xx.xx.1992 verurteilte ihn das Landgericht Hamburg wegen Vergewaltigung in vier Fällen, davon zweimal versucht, in Tateinheit mit sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen sowie sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in einem weiteren Fall zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Seit dem 9. Juni 1992 ist der Antragsteller gemäß § 63 StGB in der XXX Klinik untergebracht.

Seit August 1996 wurden dem Antragsteller – zunächst ohne Beanstandungen – zunehmende Vollzugslockerungen gewährt. Im Februar 2000 begann er eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker, zu diesem Zweck durfte er die Klinik unbegleitet verlassen. Der Antragsteller beschaffte sich ohne Zustimmung der behandelnden Ärzte einen Pkw und nutzte diesen am xx.xx.2000 für seinen Weg zum Ausbildungsplatz. Bei dieser Gelegenheit und unter Ausnutzung des durch die Verwendung des Pkw erlangten zeitlichen Freiraums überfiel der Antragsteller eine ihm unbekannte Frau auf deren Arbeitsweg, versuchte, sie sexuell zu nötigen und verletzte sie dabei erheblich. Wegen dieser Tat wurde der Antragsteller vom Landgericht Hamburg zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, zudem wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Das letzte sexuell deviante Verhalten des Antragstellers (exhibitionistisches Masturbieren) ist 2005 dokumentiert.

Seit Juni 2010 wird der Antragsteller durchgehend mit einem antiandrogen wirkenden Medikament (Depotspritze Salvacyl vierteljährlich) behandelt, durch das die Wirkungen der männlichen Sexualhormone gedämpft werden, wodurch auch der Sexualtrieb beseitigt wird. Der Antragsteller ist diesbezüglich nach ärztlicher Einschätzung vollständig einsichtig und therapietreu.

Seit 2015 erhielt der Antragsteller wiederum Vollzugslockerungen einschließlich unbegleiteter Ausgänge. Erwerb und Nutzung eines Pkw blieben ihm von Seiten der Klinik trotz mehrfacher Anträge untersagt, auch die Nutzung eines Fahrrades blieb reglementiert. Im November 2017 nahm der Antragsteller eine Tätigkeit in einem Kfz-Betrieb auf, seit September 2018 ist er in Vollzeit als Kfz-Mechatronikhelfer bei der YYY GmbH in Hamburg tätig. Im November 2018 erwarb der Antragsteller heimlich einen Pkw, meldete diesen bei der Zulassungsstelle an, versicherte ihn und nutzte ihn für sich. Als die Klinik davon im Februar 2019 Kenntnis erlangte, entzog sie dem Antragsteller jegliche Vollzugslockerungen einschließlich der Erlaubnis, außerhalb des Klinikgeländes zu arbeiten, und stoppte auch die geplante Dauerunterbringung des Antragstellers in einer eigenen Wohnung.

Inzwischen werden dem Antragsteller wieder Vollzugslockerungen gewährt, im Mai 2019 hat er seine Tätigkeit bei der YYY GmbH wieder aufgenommen. Hierfür benötigt er nach Auskunft seines Arbeitgebers dringend eine Fahrerlaubnis. Seit September 2019 ist der Antragsteller zur Erprobung beurlaubt, wohnt also in seiner eigenen Wohnung in Hamburg und muss nur noch einmal pro Woche zur Visite und zum Psychotherapiegespräch in der Klinik erscheinen.

Die Unterbringung des Antragstellers im psychiatrischen Krankenhaus wird jährlich überprüft (§ 67e StGB), in ihrem letzten Beschluss vom 4. April 2019 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hamburg festgestellt, dass die Unterbringung fortzudauern hat. Nach einer Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten seien von ihm infolge seines Zustandes weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten. Es fehle im jetzigen Stadium noch eine hinreichend begründete Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit, weil die Entlassungsvorbereitung noch nicht erfolgreich abgeschlossen sei. Der seit 1992 im Maßregelvollzug befindliche Antragsteller sei in der Führung eines eigenen Haushalts nicht erprobt. Vor einer abschließenden Gefährdungseinschätzung sei es daher erforderlich, den Antragsteller für einen neun- bis zwölfmonatigen Zeitraum im Alltag außerhalb des Maßregelvollzugs zu erproben. Dem Antragsteller müssten hierfür umgehend wieder Vollzugslockerungen zur Ausübung seiner Arbeit gewährt werden. Nach einem gewissen Erprobungszeitraum solle zeitnah die Dauerbeurlaubung in den eigenen Wohnraum erfolgen.

Der Entscheidung lag u.a. das psychiatrische Gutachten des Dr. Z vom 26. Oktober 2017 zugrunde, in dem dieser zu der Einschätzung kommt, dass sich die diagnostizierte kombinierte Persönlichkeitsstörung (Narzissmus, emotionale Instabilität und Dissozialität) hinsichtlich ihrer Relevanz für das Begehen künftiger Straftaten derart entschärft habe, dass von einer günstigen Kriminalprognose auszugehen sei, dieses aber nur unter der Voraussetzung ständiger Applikation der antiandrogenen Medikation. Der Antragsteller habe während der vergangenen zwei Jahre unter Beweis gestellt, dass er sich in der Öffentlichkeit frei von seiner einstigen Gefährlichkeit bewegen könne und bewegt habe. Soweit die Klinik dem Antragsteller die Nutzung seines Fahrrades nur sehr restriktiv erlaubte (maximal acht Stunden pro Woche) und dies mit dem Rückfallrisiko begründete, das mit erhöhter Mobilität einhergehe, kommt der Gutachter zu dem Ergebnis, dass sich die Mobilität des Antragstellers bereits aufgrund seiner mehr als 30 Freistunden pro Woche ergebe, in denen er sich zu Fuß und mit den Mitteln des öffentlichen Personennahverkehrs unbeschränkt bewegen könne.

Im Rahmen der gerichtlichen Anhörung am 19. März 2019 ergänzte der Gutachter seine Einschätzung dahingehend, dass sich die Gefahr erneuter einschlägiger Taten unter den aktuellen Unterbringungsbedingungen auf das Maß der bloßen Möglichkeit beschränke. Maßgeblich hierfür sei die seit Jahren erfolgreich durchgeführte antiandrogene Medikation. Der Regelverstoß in Gestalt der heimlichen Nutzung eines Kraftfahrzeugs wirke sich prognostisch nicht aus, weil die Situation mit der im Jahre 2000 nicht vergleichbar sei. Einerseits habe der Antragsteller aufgrund der Medikation keine Libido mehr, andererseits habe er auch ohne den Pkw einen maximalen Freiraum gehabt, der sich durch die Nutzung des Pkw um lediglich zweimal zwanzig Minuten an fünf Tagen pro Woche vergrößert habe. Der Antragsteller habe aktuell – und damit anders als im Jahr 2000 – mit der Anschaffung eines Pkw lediglich das Ziel verfolgt, seine Wege auf bequemere Weise zurückzulegen.

Im Rahmen dieser Anhörung erklärte der Antragsteller, er habe das Auto erworben, weil es ihn genervt habe, mit dem Bus zur Arbeit zu fahren. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln benötige er für diesen Weg eine Stunde und 15 Minuten. Die Klinik habe ihm vorher nicht wirklich erklärt, warum er kein Auto habe fahren dürfen. Auch sei das Fahrradfahren für ihn aufgrund seiner Medikamente nur eingeschränkt möglich gewesen. Das Auto bedeute für ihn eine Erleichterung des Lebens.

Bereits mit Schreiben vom 1. März 2019 hatte das Landeskriminalamt der Antragsgegnerin mitgeteilt, dass es sich bei dem Antragsteller um einen verurteilten Sexualstraftäter handele, dazu auf die Verurteilung im Jahre 1992 hingewiesen und das entsprechende Urteil des Landgerichts Hamburg angefügt. Seit November 2018 habe der Antragsteller trotz Verbotes des Klinikums ein Kraftfahrzeug auf seinen Namen angemeldet und dieses genutzt. Aufgrund des Bekanntwerdens seien seine Ausgänge zunächst auf unbestimmte Zeit ausgesetzt worden. Es werde angeregt, im Rahmen einer MPU die Geeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen zu überprüfen. Die Antragsgegnerin holte daraufhin ein Führungszeugnis nach § 31 BZRG ein, das die Verurteilungen wegen der Taten in den Jahren 1989, 1991 und 2000 enthielt. Weitere Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung unternahm die Antragsgegnerin nicht.

Mit Schreiben vom 26. März 2019 ordnete die Antragsgegnerin die Begutachtung des Antragstellers an, sie stützte sich hierbei auf § 46 i. V. m. § 11 Abs. 3 Nr. 7 und Abs. 8 FeV. Im Rahmen der Begutachtung solle geklärt werden, ob zu erwarten sei, dass der Antragsteller aufgrund der Straftaten gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde. Die Bedenken hinsichtlich der Kraftfahreignung des Antragstellers leitete die Antragsgegnerin aus den drei Urteilen des Landgerichts Hamburg her. Durch das vom Antragsteller gezeigte Verhalten habe dieser deutlich gemacht, dass er seine eigenen Bedürfnisse und Interessen sogar über die körperliche Unversehrtheit anderer Personen stelle und nunmehr zu prüfen sei, ob er gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde. Unter der Überschrift „Hinweis“ heißt es: „Die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens stellt das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel dar. Ein milderes Mittel, welches ebenso geeignet wäre, die bestehenden Zweifel an ihrer Kraftfahrteignung aufzuklären, ist nicht ersichtlich. Daher ordne ich aus den genannten Gründen an, ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorzulegen.“ Auf den unerlaubten Erwerb eines Pkw bezieht sich die Antragsgegnerin nicht. Als Frist für die Vorlage des Gutachtens wurde der 7. Mai 2019 bestimmt.

Mit Schreiben vom 1. April 2019 wandte sich der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers gegen die Anordnung und bat um deren Überprüfung. Die Antragsgegnerin beziehe sich ausschließlich auf rechtskräftige Verurteilungen, die alle mehr als 15 Jahre zurücklägen. Sie nehme nicht Bezug darauf, dass der Antragsteller seit vielen Jahren im Maßregelvollzug behandelt werde. Anhaltspunkte für ein nach § 11 Abs. 3 Nr. 7 FeV erforderliches hohes Aggressionspotenzial nenne die Antragsgegnerin nicht. Außer Allgemeinformeln werde keine konkrete Begründung im Sinne der Verordnungsvorschrift genannt. Nach Akteneinsicht wies der Prozessbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 10. April 2019 auf den aktuellen Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hamburg hin. Aus den dort getroffenen Feststellungen lasse sich die in der Anordnung zur Gutachtenbeibringung vorgenommene Gefährdungsprognose nicht begründen.

Mit E-Mail vom 14. Mai 2019 teilte die Antragsgegnerin dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers mit, dass die Anordnung bestehen bleibe, und verwies zur Begründung auf die Begutachtungsleitlinien Kraftfahrereignung. Unter Ziffer 3.16 heiße es dort, nicht geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen sei, wer Straftaten begangen habe, die auf ein hohes Aggressionspotenzial schließen ließen, sei es aufgrund einer Neigung zu planvoller bedenkenloser Durchsetzung eigener Anliegen ohne Rücksicht auf berechtigte Interessen anderer, oder wegen einer Bereitschaft zu ausgeprägtem impulsiven Verhalten, und dabei Verhaltensmuster deutlich würden, die sich so negativ auf das Führen von Kraftfahrzeugen auswirken könnten, dass die Verkehrssicherheit gefährdet sei. Die Antragsgegnerin erklärte außerdem, die in der Anordnung aufgeführten Straftaten könnten verwertet werden, da sie noch im Bundeszentralregister gespeichert seien.

Mit Schriftsatz vom 13. Juni 2019 erklärte der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers, dass dieser um Fristverlängerung für die Einverständniserklärung in die medizinisch-psychologische Untersuchung bitte, weil er inzwischen wieder in Vollzeit beschäftigt sei und zunächst die Möglichkeiten der Durchführung einer MPU auch hinsichtlich der Übernahme der Kosten klären müsse. Unter dem 18. Juni 2019 erklärte der Antragsteller sein Einverständnis mit der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens und benannte die A. GmbH als Untersuchungsstelle. Die Antragsgegnerin übersandte die Führerscheinakte des Antragstellers mit Schreiben vom 24. Juni 2019 an die A. GmbH und bestimmte als Vorlagefrist für das Gutachten den 24. September 2019. In dem zu erstellenden Gutachten solle die Frage beantwortet werden: „Ist aufgrund der Straftaten zu erwarten, dass der Untersuchte auch gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen wird?“ Bereits drei Tage später, nämlich mit Schreiben vom 27. Juni 2019 sandte die A. GmbH die Führerscheinakte des Antragstellers ohne weitere Erläuterungen zurück. Mit Schreiben vom 2. Juli 2019 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur Vorlage des Gutachtens auf und kündigte die Entziehung der Fahrerlaubnis für den Fall an, dass bis zum 10. Juli 2019 keine Rückmeldung des Antragstellers eingehe. Der Antragsteller reichte kein Gutachten ein. Dass eine Begutachtung stattgefunden hat, ist aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich.

Mit Bescheid vom 17. Juli 2019, dem Antragsteller zugestellt am 19. Juli 2019, entzog die Antragsgegnerin diesem die Fahrerlaubnis und forderte ihn auf, seinen Führerschein unverzüglich beim Landesbetrieb Verkehr abzugeben. Sie ordnete zudem die sofortige Vollziehung dieses Bescheides an. Zur Begründung verwies die Antragsgegnerin darauf, dass sich Bedenken hinsichtlich der Eignung des Antragstellers aufgrund dreier Urteile des Landgerichts Hamburg ergeben hätten. Er sei am xx.xx.1990, xx.xx.1992 und xx.xx.2003 wegen Körperverletzung, Vergewaltigung und sexueller Nötigung rechtskräftig verurteilt worden. Der Antragsteller habe sich mit der Begutachtung einverstanden erklärt. Auf die Aufforderung, das medizinisch-psychologische Gutachten vorzulegen oder auf seine Fahrerlaubnis zu verzichten, habe er jedoch nicht reagiert. Er habe das Gutachten dem Landesbetrieb Verkehr aus eigenem Entschluss nicht vorgelegt. Die Fahrerlaubnisverordnung schreibe vor, dass die Fahrerlaubnisbehörde auf die Nichteignung eines Betroffenen schließen könne, wenn er sich weigere, sich untersuchen zu lassen oder das geforderte Gutachten nicht fristgerecht vorlege (§ 11 Abs. 8 FeV). Damit liege aus den oben genannten Gründen die Nichteignung beim Antragsteller vor und die Fahrerlaubnis sei zu entziehen.

Die sofortige Vollziehung sei anzuordnen gewesen, weil der Antragsteller die Zweifel an seiner Kraftfahreignung nicht ausgeräumt habe. Diese habe nur nach vorheriger Auswertung des angeordneten Gutachtens beurteilt und gegebenenfalls angenommen werden können. Der Antragsteller habe jedoch bis heute das Gutachten nicht vorgelegt.

Am 26. Juli 2019 wurde der Führerschein des Antragstellers bei der Antragsgegnerin abgegeben. Der Antragsteller hatte seinen Führerschein bereits zuvor, spätestens im Mai 2019, freiwillig in der Klinik abgegeben.

Mit Schriftsatz vom 7. August 2019 erhob der Antragsteller durch seinen Prozessbevollmächtigten Widerspruch gegen den Bescheid und beantragte die Aussetzung der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis. Zur Begründung verwies er darauf, dass die Anordnung zur Gutachtenbeibringung nicht rechtmäßig erfolgt sei, weil weder die Tatbestandsmerkmale des § 11 Abs. 3 Nr. 7 FeV erfüllt seien noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sei. Weder ließen die Taten, derentwegen der Antragsteller verurteilt wurde, tragfähige Rückschlüsse darauf zu, dass von ihm zukünftig eine Gefährdung des Straßenverkehrs zu erwarten sei, noch bestünden Anhaltspunkte dafür, dass beim Antragsteller heute noch ein hohes Aggressionspotenzial im Sinne der Vorschrift bestehe. Der Antragsteller habe sich in den vergangenen Jahren im Rahmen des Maßregelvollzugs langfristigen therapeutischen Behandlungen unterzogen, aggressives Verhalten sei nicht aufgetreten, es lasse sich auch keine Manifestation eines entsprechenden Musters feststellen.

Zudem genüge die Anordnung nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil die Antragsgegnerin wesentliche Ermessenserwägungen gar nicht angestellt habe und insoweit einer Ermessensunterschreitung erlegen sei. Die in Bezug genommenen Taten lägen allesamt bereits mindestens 15 Jahre, teils gar bis zu fast dreißig Jahre zurück. Dies beachte die Antragsgegnerin ebenso wenig wie die Tatsache, dass sich der Antragsteller seit vielen Jahren im Maßregelvollzug behandeln lasse und sich über lange Zeit in Lockerungsmaßnahmen befinde. Der Antragsteller habe seit längerem eine Arbeit aufgenommen, für die er auf seine Fahrerlaubnis angewiesen sei. Die Antragsgegnerin missachte zudem die Erkenntnisse aus der gutachterlichen Stellungnahme des Sachverständigen Dr. Z, der zufolge aufgrund der beim Antragsteller stattfindenden antiandrogenen Medikation keine Gefährdungslage bestehe.

Mit Schreiben vom 8. August 2019 teilte die Antragsgegnerin dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers mit, dass sie dem Widerspruch nicht abhelfen werde. Da der Antragsteller kein Gutachten vorgelegt habe, das die Eignungsbedenken gegen ihn ausräume, habe keine andere Möglichkeit bestanden, als die Fahrerlaubnis zu entziehen. Gemäß § 11 Abs. 8 FeV dürfe die Fahrerlaubnisbehörde auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht beigebracht werde, die Fahrerlaubnis habe daher mit Schreiben vom 17. Juli 2019 entzogen werden müssen. Die Taten des Antragstellers gingen sehr wohl mit einem hohen Aggressionspotenzial einher. Die Antragsgegnerin hat bislang weder den Widerspruch des Antragstellers noch dessen Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung beschieden.

Mit Schriftsatz vom 7. August 2019 hat der Antragsteller durch seinen Prozessbevollmächtigten das Gericht um vorläufigen Rechtsschutz ersucht. Zur Begründung führt er an, dass keine Bedenken hinsichtlich seiner Fahreignung bestünden, vielmehr sei die Anordnung zur Gutachtenbeibringung nicht rechtmäßig gewesen. Weder seien die Tatbestandsmerkmale des § 11 Abs. 3 Nr. 7 FeV erfüllt gewesen, noch genüge die Aufforderung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Im Übrigen wiederholt der Antragsteller die Ausführungen aus dem Widerspruch vom selben Tage.

Er beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 7. August 2019 gegen den Bescheid vom 17. Juli 2019, Aktenzeichen XXX wiederherzustellen und seine Fahrerlaubnis wieder auszuhändigen.

Die Antragsgegnerin beantragt, den auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 9. August 2019 gerichteten Antrag abzulehnen.

Zur Begründung verweist sie auf die Ausführungen im Entziehungsbescheid und trägt ergänzend vor, die Ungeeignetheit des Antragstellers ergebe sich aus der Tatsache, dass dieser einer rechtmäßigen Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nicht nachgekommen sei. Trotz der Formulierung „darf“ in § 11 Abs. 8 FeV sei der Fahrerlaubnisbehörde hinsichtlich der Frage, ob aus der Nichtvorlage des Gutachtens auf die Ungeeignetheit des Betroffenen geschlossen werden könne, kein Ermessen eingeräumt. Die Anordnung zur Gutachtenbeibringung sei rechtmäßig. Sie genüge den formellen Anforderungen, insbesondere sei der Antragsteller darauf hingewiesen worden, dass die Antragsgegnerin bei Nichtvorlage des geforderten Gutachtens auf seine Nichteignung schließen und ihm die Fahrerlaubnis entziehen könne. Der Antragsteller habe dem Anordnungsschreiben auch hinreichend entnehmen können, welche tatsächlichen Umstände die Antragsgegnerin zum Anlass genommen habe, an seiner Fahreignung zu zweifeln, und in welchem Zusammenhang die von ihm an den Tag gelegten Verhaltensweisen mit seiner Kraftfahreignung stünden.

Die Anordnung sei damit begründet, dass Bedenken an der Kraftfahreignung des Antragstellers aufgrund diverser rechtskräftig abgeurteilter Delikte bestünden, insbesondere die Verurteilungen wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung. Anlass zur Überprüfung des Antragstellers sei eine Meldung der Polizei Hamburg vom 1. März 2019 gewesen, der zufolge es sich bei dem Antragsteller um einen „verurteilten Sexualstraftäter“ handele. Aufgrund dessen habe die Antragsgegnerin einen aktuellen Auszug aus dem Bundeszentralregister angefordert, um diesen Hinweisen weiter nachgehen zu können. Der Auszug vom 14. März 2019 habe insgesamt drei Eintragungen enthalten.

Der Antragsteller sei in der Vergangenheit wiederholt wegen verschiedener Delikte verurteilt worden. Die von ihm begangenen Taten seien zu einem großen Teil davon geprägt, dass der Antragsteller sexuelle Handlungen an Frauen vorgenommen habe, gegen deren Willen und unter Anwendung von Gewalt. Im Folgenden schildert die Antragsgegnerin Details der Tatbegehung dreier Taten aus dem Jahre 1991, bei denen der Antragsteller die jeweilige Geschädigte von hinten angriff und körperlich misshandelte. Obwohl der Antragsteller seit dem Jahr 1992 in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sei, sei er 2003 wegen einer im Jahr 2000 begangenen versuchten sexuellen Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden.

Der Einwand des Antragstellers, die von ihm begangenen Taten hätten keinen Bezug zu verkehrsrechtlichen Vorschriften, gehe fehl, weil im Falle des § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 FeV die den Untersuchungsanlass bildenden Straftaten nicht in Zusammenhang mit Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften und nicht im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehen müssten. Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial böten Straftaten, die sich durch Aggressionen gegen Personen oder Sachen ausdrückten, wie etwa eine schwere oder gefährliche Körperverletzung. Die rechtskräftig sanktionierten Delikte zeigten ein hohes Aggressionspotenzial des Antragstellers im Sinne von § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 FeV sowie seine Neigung zu Rohheit und Unbeherrschtheit. Ferner offenbarten sie einen Hang des Antragstellers zur impulsiven Durchsetzung eigener Interessen unter schwerwiegender Verletzung der Interessen anderer. Es bestehe daher die Gefahr, dass der Antragsteller im Straßenverkehr die Rechte anderer Verkehrsteilnehmer – zumindest in auftretenden Konfliktsituationen – nicht respektieren werde und auch dort eigene Bedürfnisse in aggressiver Weise durchsetzen wolle. Ob dies tatsächlich der Fall sei und sein bisheriges Verhalten sich auf die Fahreignung auswirke, könne die Fahrerlaubnisbehörde nur durch die Anordnung eines Gutachtens überprüfen. Darüber hinaus sei dem Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 4. April 2019 zu entnehmen, dass weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten durch den Antragsteller zu erwarten seien. Die vom Antragsteller ausgehende Gefahr bestehe mithin – trotz des erheblichen Zeitablaufs seit der letzten Verurteilung – weiterhin fort.

Der Antragsteller sei der rechtmäßigen Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nicht nachgekommen. Man habe ihm somit aufgrund der daraus resultierenden Nichteignung die Fahrerlaubnis entziehen dürfen. Mit Schreiben vom 2. Juli 2019 habe die Antragsgegnerin den Antragsteller an die Gutachtenbeibringung erinnert und letztmalig eine Frist zur Vorlage des Gutachtens bis zum 10. Juli 2019 gesetzt. Auf dieses Schreiben habe der Antragsteller nicht reagiert. In der Folge sei dem Antragsteller die Fahrerlaubnis zu entziehen gewesen.

Mit Schriftsatz vom 26. September 2019 hat der Antragsteller die Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten beantragt.

Die Sachakte der Antragsgegnerin und die Strafvollstreckungsakte haben dem Gericht vorgelegen.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

1. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Fahrerlaubnisentziehung ist gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO statthaft, weil die Antragsgegnerin gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung angeordnet hat.

Der Antrag ist begründet, weil das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung überwiegt. Dies ist dann der Fall, wenn aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Überprüfung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache davon auszugehen ist, dass der Antragsteller mit seinem Widerspruch voraussichtlich Erfolg haben wird.

Die Fahrerlaubnisentziehung dürfte sich als rechtswidrig erweisen. Rechtsgrundlage für die Entziehung ist § 3 Abs. 1 S. 1 StVG i.V.m § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c) StVG und § 46 Abs. 1 FeV. Danach ist die Fahrerlaubnisbehörde verpflichtet, eine Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn deren Inhaber sich als zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet erweist. Gemäß § 11 Abs. 8 S. 1 FeV darf die Fahrerlaubnisbehörde auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn sich dieser weigert, ein angeordnetes Gutachten beizubringen. Hierbei handelt es sich nach wohl überwiegender Meinung um eine gebundene Entscheidung, bei der der Fahrerlaubnisbehörde auf Rechtsfolgenseite kein Ermessen zukommt (VGH Bayern, Beschluss vom 14.11.2011, 11 CS 11.2349, juris Rn. 47 m.w.N.). Tatbestandlich setzt dies jedoch voraus, dass die Anordnung zur Gutachtenbeibringung in materiell-rechtlicher und formeller Hinsicht rechtmäßig war. Ist dies nicht der Fall, besteht ein zureichender Grund, das geforderte Gutachten nicht vorzulegen.

Die Anordnung zur Gutachtenbeibringung dürfte sich als rechtswidrig erweisen, weil zwar Tatsachen vorlagen, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Antragstellers begründeten, § 11 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 7 FeV (unter a.), die Antragsgegnerin jedoch das ihr bei der Anordnung einer Gutachtenbeibringung obliegende Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt hat (unter b.). Der Antragsteller dürfte damit die Begutachtung zu Recht verweigert haben.

Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung der Gutachtenbeibringung ist auf den Zeitpunkt der Gutachtenanforderung abzustellen (BVerwG, Urteil vom 17.11.2016, 3 C 20/15, BVerwGE 156, 293-305, juris Rn. 14). Eine im Erlasszeitpunkt unberechtigte Aufforderung zur Gutachtenbeibringung kann nach Ablauf der Frist zur Beibringung des Gutachtens nicht geheilt werden, weil sich der Betroffene innerhalb dieser Frist darüber Klarheit verschaffen können muss, ob er sich der Begutachtung unterzieht oder ob er diese für ungerechtfertigt hält (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3.9. 2015, 10 S 778/14, juris Rn. 39). Die Antragsgegnerin kann deshalb ihre unzureichenden Ermessenserwägungen hinsichtlich der Gutachtenanordnung im Verfahren der Fahrerlaubnisentziehung nicht mehr nachbessern, obwohl ein Widerspruchsbescheid noch aussteht.

a. Aufgrund der vom Antragsteller begangenen Straftaten war die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung grundsätzlich möglich. Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Gutachtenordnung ist gemäß § 11 Abs. 2 S. 1 FeV das Vorliegen von Tatsachen, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Betroffenen begründen. Im Falle der Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung müssen dies gemäß § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 FeV Straftaten sein, welche im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stehen, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen (§ 11 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 7 FeV). Den Schluss auf ein hohes Aggressionspotenzial erlauben Straftaten, bei denen Verhaltensmuster deutlich werden, die sich so negativ auf das Führen von Kraftfahrzeugen auswirken können, dass die Verkehrssicherheit gefährdet wird. Dies umfasst sowohl Taten, aus denen sich eine Neigung zu planvoller, bedenkenloser Durchsetzung eigener Anliegen ohne Rücksicht auf berechtigte Interessen anderer ergibt, als auch Taten, die die Bereitschaft zu ausgeprägt impulsivem Verhalten offenbaren (Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Nr. 3.16 – Straftaten, Stand: 24. Mai 2018). Exemplarisch hierfür werden in den Begutachtungsleitlinien Raub, schwere oder gefährliche Körperverletzung und Vergewaltigung genannt. Der Antragsteller wurde wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung und gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

b. Allerdings dürfte die Antragsgegnerin das ihr bei der Anordnung der Gutachtenbeibringung obliegende Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt haben. Die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens über die Fahreignung steht gemäß § 3 S. 1 FeV im Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde. Zwar hat die Antragsgegnerin erkannt, dass ihr bei der Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens grundsätzlich ein Entschließungsermessen zukommt. Dies ergibt sich daraus, dass sie in der Beibringungsanordnung unter der Überschrift „Hinweise“ die Anordnung (abstrakt) als das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel bezeichnete. Ein milderes, ebenso geeignetes Mittel zur Aufklärung der Zweifel an der Kraftfahrteignung sei nicht ersichtlich. Dass die Antragsgegnerin dieses Ermessen tatsächlich ordnungsgemäß ausgeübt hätte, ist jedoch zu bezweifeln.

Für eine ordnungsgemäße Ermessensausübung hat die Antragsgegnerin zunächst die relevanten tatsächlichen Umstände zumindest überblicksartig zu ermitteln und zu gewichten und sodann im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erwägen, ob die Anordnung einer Gutachtenbeibringung zur Klärung der Fahreignung geeignet, erforderlich und angemessen ist. Diesen Anforderungen dürfte die Antragsgegnerin vorliegend weder hinsichtlich der Tatsachenermittlung (unter (1)) noch in Bezug auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung (unter (2)) genügt haben.

(1) Die Antragsgegnerin dürfte den Sachverhalt, welcher für die Beurteilung der Frage, ob die Anordnung einer Gutachtenbeibringung angezeigt ist, relevant ist, nicht ordnungsgemäß ermittelt (dazu unter (a)) und die ihr bekannten Tatsachen nicht fehlerfrei gewichtet haben (dazu unter (b)).

(a) Im Rahmen der Tatsachenermittlung muss die Antragsgegnerin den für die Frage der Fahreignung des Antragstellers potentiell relevanten Sachverhalt in zeitlicher Hinsicht vollständig und hinsichtlich einzelner Umstände zumindest überblicksartig aufklären. Das heißt, sie muss die wesentlichen Ereignisse und Vorgänge ermitteln, aus denen sich Anhaltspunkte für die Beurteilung der Fahreignung ergeben. Dabei ist es nicht erforderlich, alle in Betracht kommenden Umstände vollumfänglich aufzuklären, es dürfen jedoch keine relevanten Zeiträume ungeprüft bleiben. Insgesamt muss die Sachverhaltsermittlung so vollständig sein, dass sie eine ausreichende Grundlage für die sodann durchzuführende Tatsachengewichtung bildet.

Die von der Antragsgegnerin vorgenommene Tatsachenermittlung dürfte diesen Anforderungen nicht genügen. Die Antragsgegnerin beschränkte ihre Aufklärungsmaßnahmen anlässlich des Schreibens des Landeskriminalamts vom 1. März 2019 auf die Einholung eines Bundeszentralregisterauszugs. Sie forderte weder die weiteren strafgerichtlichen Urteile noch die Strafvollstreckungsakte des Antragstellers an. Der Antragsgegnerin war bekannt, dass der Antragsteller seit vielen Jahren in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war, sie musste daher wissen, dass dieser sich dort in ärztlicher Behandlung befand. Auf der Hand lag, dass es deshalb bereits qualifizierte psychiatrische Gutachten zum Antragsteller gab. Um diese bemühte sich die Antragsgegnerin jedoch nicht. Vielmehr legte sie ihrer Anordnung zur Gutachtenbeibringung den Sachstand im Jahre 1992 zugrunde, ohne die seitdem eingetretenen Entwicklungen zu ermitteln oder zu berücksichtigen. Die Antragsgegnerin korrigierte diesen Fehler auch nicht nach Erlass der Anordnung zur Gutachtenbeibringung, obwohl der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers sie mit Schreiben vom 10. April 2019 ausdrücklich auf den aktuellen Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 4. April 2019 und die diesem zugrunde liegende Einschätzung eines Sachverständigen hingewiesen hatte.

(b) Die Antragsgegnerin dürfte die ihr bekannten Tatsachen auch nicht fehlerfrei gewichtet haben. Für die Frage, ob zur Klärung der Fahreignung die Beibringung eines Gutachtens anzuordnen ist, dürfen nicht alle Tatsachen pauschal in gleichem Maße berücksichtigt werden. Die Antragsgegnerin muss vielmehr zunächst prüfen, ob einzelne, in der Vergangenheit liegende Umstände der Anordnungsentscheidung überhaupt nicht mehr zugrunde zu legen sind, weil sie in der Gegenwart keine Wirkungen mehr zeitigen, etwa eine vollständig und ohne bleibende Beeinträchtigungen überstandene Erkrankung. Die dann noch verbleibenden Umstände muss die Antragsgegnerin unter Berücksichtigung der seitdem vergangenen Zeitspanne gewichten. Hierbei dürften weiter in der Vergangenheit liegende Vorfälle regelmäßig von geringerer Relevanz sein als erst vor kurzer Zeit eingetretene Umstände, wobei sich eine rein schematische Betrachtung verbietet.

Diese Gewichtung der relevanten Tatsachen dürfte die Antragsgegnerin unterlassen haben. Sie stellte keine Erwägungen dazu an, ob die im Bundeszentralregister eingetragenen und damit grundsätzlich verwertbaren Straftaten auch unter Berücksichtigung der seit Begehung der Taten vergangenen Zeitspannen (30, 28 und 19 Jahre) die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung weiterhin rechtfertigten. Aus der grundsätzlichen Verwertbarkeit noch nicht getilgter Verstöße folgt nicht, dass eine Ermessensbetätigung der Fahrerlaubnisbehörde auch bei mehrere Jahre zurückliegenden Verstößen prinzipiell entbehrlich ist. Vor allem bei länger zurückliegenden Taten ist bei Anordnungen insbesondere nach § 11 Abs. 3 FeV auch eine diesem Umstand Rechnung tragende Ermessensbetätigung dazu geboten, ob diese Verstöße nach wie vor die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung rechtfertigen oder ob mildere Mittel zur Klärung ausreichen (BVerwG, Urteil vom 17.11.2016, 3 C 20/15, BVerwGE 156, 293-305, juris Rn. 36). Eine solche Ermessensbetätigung hat die Antragsgegnerin nicht vorgenommen, sie hat sich vielmehr – trotz eines entsprechenden Hinweises des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers – allein darauf bezogen, dass die Straftaten verwertet werden könnten, weil sie noch im Bundeszentralregister gespeichert seien, ohne zu berücksichtigen, dass dies lediglich eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für die Verwertbarkeit der Straftaten im Rahmen einer Gutachtenanordnung bildet.

(2) Die Anordnung der Gutachtenbeibringung dürfte nicht verhältnismäßig gewesen sein.

Zwar ist die Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens grundsätzlich geeignet, um Zweifel an der Fahreignung einer Person zu klären, die Straftaten begangen hat, aus denen sich Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial ergeben. Hinweise darauf, dass die der Regelung in § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 FeV zugrunde liegenden gesetzgeberischen Erwägungen unzutreffend wären, sind nicht ersichtlich.

Die Anordnung der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens dürfte jedoch nicht erforderlich gewesen sein, weil der Antragsgegnerin zur Klärung der Frage der Fahreignung des Antragstellers mildere Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Insbesondere bei noch verwertbaren, aber bereits länger zurückliegenden Verstößen ist eine Ermessensbetätigung der Behörde geboten, ob diese Zuwiderhandlungen noch nach wie vor die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung rechtfertigen, oder ob verbleibende Eignungszweifel auch ohne die Beibringung eines solchen Gutachtens, zum Beispiel durch Vorlage geeigneter Beweismittel ausgeräumt werden können (BVerwG, Urteil vom 17.11.2016, 3 C 20/15, BVerwGE 156, 293-305, juris Rn. 36). Dies gilt vor allem deshalb, weil die Anordnung, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, in erheblicher Weise in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen eingreift. Ihm wird zugemutet, anderen Einblick in die Kernbereiche seiner Persönlichkeit zu geben. Ein solcher Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn er zur Abwehr einer bei realistischer Einschätzung tatsächlich bestehenden Gefahr notwendig ist (BVerwG, Urteil vom 9.6.2005, 3 C 25/04, juris Rn. 22).

Im Falle des Antragstellers hätten der Antragsgegnerin voraussichtlich mildere Mittel zur Verfügung gestanden, um die Fahreignung des Antragstellers zu klären. Insbesondere hätte sie dessen Strafvollstreckungsakte beiziehen oder den Antragsteller zur Vorlage ihn betreffender medizinischer und psychologischer Gutachten auffordern können. Die Antragsgegnerin stützte ihre Anordnung der Gutachtenbeibringung auf ein mögliches Aggressionspotenzial des Antragstellers i.S.d. § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 FeV. Dieses Tatbestandsmerkmal weist deutliche Ähnlichkeit mit dem Kriterium der „Gefährlichkeit für die Allgemeinheit“ i.S.d. § 63 S. 1 StGB auf, welches eine Voraussetzung für die (fortgesetzte) Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bildet. Dementsprechend lag die Überlegung nahe, dass die im Rahmen der Unterbringung und anlässlich der strafvollstreckungsrechtlichen Überprüfungen gewonnenen Erkenntnisse über den Antragsteller auch für die Beurteilung seiner Fahreignung hätten Verwendung finden könnten. Dadurch wäre eine weitere Exploration des Antragstellers zu vermeiden gewesen. Dies ist relevant, weil eine erneute medizinisch-psychologische Untersuchung im Hinblick auf die vom Antragsteller begangenen Straftaten auch als bloße Gefahrerforschungsmaßnahme stark in das Persönlichkeitsrecht des Antragstellers eingreift und zudem für ihn erhebliche Kosten verursachen würde.

2. Gemäß § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO war die Rückgabe des Führerscheins anzuordnen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 in Verbindung mit § 52 Abs. 1 GKG. Dabei ist der Streitwert der Eilsache mit der Hälfte des in der Hauptsache für die Entziehung einer beruflich genutzten Fahrerlaubnis anzunehmenden Streitwertes von 10.000 Euro festzusetzen.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten hat Erfolg, weil der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann und die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint, § 166 VwGO i.V.m. § 114 S. 1 ZPO.

Der Antragsteller ist ausweislich der von ihm ausgefüllten und bei Gericht eingereichten Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 26. September 2019 sowie der eingereichten Belege nicht in der Lage, die Kosten der beabsichtigten Prozessführung aus eigenen Mitteln aufzubringen. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet die unter II. festgestellte Aussicht auf Erfolg, Mutwilligkeit ist nicht ersichtlich.

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