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Messunterlagen – Umfang der Herausgabepflicht der Bussgeldbehörde

AG Dillingen – Az.: 304 OWi 7/22 – Beschluss vom 14.01.2022

In dem Bußgeldverfahren erlässt das Amtsgericht Dillingen a.d. Donau am 14. Januar 2022 folgenden Beschluss

1. Die Verwaltungsbehörde wird angewiesen, nachfolgende Unterlagen zur Akte zu bringen und dem Verteidiger im Anschluss hieran die vervollständigte Akte erneut und kostenfrei zur Verfügung zu stellen:

  • Schulungsnachweis des Messbeamten
  • Kopie der digitalen Falldaten im gerätespezifischen Formal nebst dazugehörigem öffentlichen Schlüssel (Token) für die gesamte Messreihe des Tattages

2. Die Kosten des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung und d notwendigen Auslagen des Betroffenen insoweit fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

I.

Gegenstand des Antrages auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG ist der streitige Umfang der Akten im Bußgeldverfahren wegen eines mutmaßlichen Geschwindigkeitsverstoßes.

Der Betroffene wird verdächtigt, am 27.09.2021 als Führer eines Kraftfahrzeuges mit dem amtlichen Kennzeichen pp. auf der Staatsstraße 2022, Abschnitt 270 bei Lutzingen, in Fahrt-richtung Höchstädt die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerorts um 29 km/h (129 statt 100) überschritten zu haben. Er macht über seinen Verteidiger bislang von seinem Schweigerecht Gebrauch.

Mit Schriftsatz vom 26.10.2021 rügte die Verteidigung unter Vorlage einer Vollmacht für den Betroffenen diverse Daten bzw. Unterlagen als bei der Akte fehlend und beantragte – nachdem die Verwaltungsbehörde diese Daten nur teilweise herausgab mit weiterem Schriftsatz vom 11.11.2021 insoweit gerichtliche Entscheidung:

Die Verwaltungsbehörde kam dem Verlangen nicht nach, machte geltend, die Daten seien nicht Aktenbestandteil, ferner stünden Gründe des Datenschutzes entgegen und legte die Akten zur gerichtlichen Entscheidung vor und leitete die Akten unter dem 03.01.2022 an das Amtsgericht zur Entscheidung weiter – was die Verwaltungsbehörde freilich nicht davon abhielt, unter dem 30.11.2021 und in Kenntnis des noch nicht verbeschiedenen Antrages gleichwohl einen Bußgeldbescheid zu erlassen, gegen den der Betroffene zwischenzeitlich Einspruch eingelegt hat.

II.

Der Antrag der Verteidigung ist zulässig und begründet und entspricht der ständigen Rechtsprechung des Amtsgerichts Dillingen an der Donau (vgl. etwa AG Dillingen a.d. Donau, Beschl. v. 07.07.2021 — 304 OWi 58/21)

Messunterlagen – Umfang der Herausgabepflicht der Bussgeldbehörde
(Symbolfoto: megaflopp/Shutterstock.com)

1. Im Grundsatz wohl noch zutreffend geht die Verwaltungsbehörde davon aus, dass eigentlich nur diejenigen Unterlagen der Akteneinsicht nach § 147 StPO iVm § 46 OWiG unterliegen, die auch tatsächlich (schon) Aktenbestandteil sind. Auch handele es sich bei dem hier verwendeten Messgerät ESO ES8.0 um ein seit Jahren angewandtes, in der Rechtsprechung anerkanntes, sogenanntes „standardisiertes Messverfahren“.

2. Gerade letzterer Umstand ist es aber auch, der die Herausgabe der begehrten Daten an den Betroffenen bzw. seinen Verteidiger unerlässlich macht, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.

3. Im Rahmen standardisierter Messverfahren gehen die Gerichte in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich a priori von der Richtigkeit der in Frage stehenden Messung aus, wenn nicht der Betroffene im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für etwaige Mess- oder Bedienfehler vorträgt. Entschließt man sich aber unter Praktikabilitätsgesichtspunkten dazu, entgegen der auch im Bußgeldverfahren geltenden Unschuldsvermutung und dem vorherrschenden Amtsermittlungsgrund-satz dem Betroffenen da facto eine Exculpationspflicht aufzuerlegen, so darf ihm diese nicht überdies dadurch erschwert werden, dass ihm völlig unproblematisch verfügbare Daten vorenthalten werden, indem sie entgegen konkreter Anforderung im Einzelfall nicht zum Aktenbestandteil gemacht werden. Denn nur dadurch ist es dem Betroffenen überhaupt möglich, zu prüfen, ob die Voraussetzungen eines standardisierten Messverfahrens vorliegen und die dafür notwendigen Schritte auch eingehalten wurden.

4. Das Gericht verkennt nicht, dass nach langjähriger Erfahrung die Quote von Bedien- und Messfehlern bei entsprechend geschulten Messbeamten praktisch gegen Null tendieren dürfte; gerade um dies prüfen zu können, sind die Daten aber für die Verteidigung im Lichte des Fair-Trial-Grundsatzes unerlässlich. Insbesondere – und das erscheint ein wesentliches Kriterium zu sein – ermöglicht die Überlassung der Daten dem Betroffenen die fundierte und sinnvolle Prüfung, ob es überhaupt Erfolg verspricht, ein – mit zusätzlichen Kosten und Aufwand verbundenes – Einspruchsverfahren aufzunehmen, bzw. weiterzubetreiben. Ergibt nämlich die Auswertung der überlassenen Daten keine Anhaltspunkte für Messfehler, dürfte sich einem verständigen und wirtschaftlich denkenden Betroffenen regelmäßig die Rücknahme des Einspruches aufdrängen.

5. Der Betroffene kann in diesem Zusammenhang auch nicht darauf verwiesen werden, dass z.B. der Schulungsnachweis des Messbeamten in aller Regel im Rahmen einer etwaigen Hauptverhandlung erörtert bzw. vorgelegt wird. Dies verlagert die Verteidigungsrechte des Betroffenen ohne erkennbaren Grund auf einen späteren Zeitpunkt und zwingt ihn sogleich faktisch, über den im Raum stehenden Verstoß eine öffentliche Verhandlung über sich ergehen zu lassen. Es kann durchaus Gründe geben, wieso der Betroffene nach Einsichtnahme in die vollständigen Daten hierunter auch die Schulungsnachweise – eben dies vermeiden will (lange Anreise, Terminsgebühr, Mehrkosten, etc.)

6. Nach alledem hat der Betroffene das Recht, Einsicht in die aus dem Tenor ersichtlichen Unterlagen zu nehmen. Da die Akte bisher unvollständig war, ist ihm neuerlich und ohne erneute Erhebung der Gebühr Ziffer 9003 KV-GKG Akteneinsicht zu gewähren.

7. Die Daten des gesamten Messreihe sind herauszugeben (vgl. z.B. AG Schleiden, Beschluss vom 03.03.2021, 13 OWi 19/21, OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.07.2019 — 1 Rb 10 Ss 291/19, zur Überlassung des Tokens AG Trier, Beschl. v. 09.09.2015 — 35 OWi 640/15, ferner LG Bielefeld, Beschl. v. 25.08.2020 — 10 Qs 278/20, OLG Zweibrücken, Beschl. v. 04.05.2021 — 1 OWi 2 SsRs 19/21 – derzeit in entsprechender Divergenzvorlage vor dem Bundesgerichtshof befindlich, Entscheidung ausstehend, AG Bad Saulgau, Beschl. v. 13.12.2021 — 1 OWi 25 Js 27436/21, AG Heilbad Heiligenstadt, Beschl. v. 15.11.2021 – OWi 201/21 und jüngst OLG Stuttgart, Beschl. v. 12.10.2021 – 4 Rb Ss 25 Ss 1023/21.)

8. Bedenken des Datenschutzes stehen dem nicht entgegen. Ohne weitere Anhaltspunkte er-scheint schon die Ermittlung der Identität der übrigen Betroffenen schwer bis gar nicht möglich. Das ggf. auf dem Messbild erkennbare amtliche Kennzeichen führt höchstens in Richtung des Halters, nicht zwingend des Fahrers und grundlose Halteranfragen zu Kennzeichen werden in der Regel nicht beantwortet. Selbst wenn es dem Betroffenen bzw. im konkreten Fall seinem Verteidiger gelänge, die Identität anderer Betroffener zu ermitteln (woran ehrlicherweise keinerlei erkennbares Interesse besteht), würden diese Daten lediglich Bestandteil der anwaltlichen Handakte bzw. der Gerichtsakte. Beide Akten sind besonders geschützt, eine Einsichtnahme nur unter engen Voraussetzungen möglich und der breiten Öffentlichkeit generell nicht zugänglich. Würde der Verteidiger des Betroffenen (nochmal: ein sinnvoller Grund hierfür liegt nicht vor) die Daten preisgeben, stellte dies einen schweren Verstoß gegen die Berufspflichten des Rechtsanwalts dar. Schon aus diesem Grund erscheint es nahezu undenkbar, dass die Daten anders als für die Verteidigung des konkreten Falles genutzt werden würden.

Auf BVerfG 2 BvR 1616/18, Beschluss vom 12.11.2020 wird in diesem Zusammenhang ebenfalls hingewiesen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 62 Abs. 2 Satz 2 OWiG, § 473 Abs. 1 StPO.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar, § 62 Abs. 2 Satz 3 OWiG.

 

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