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Informationszugang zu den nicht zur Bußgeldakte gelangten Informationen

Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz – Az.: VGH B 57/21 – Beschluss vom 27.10.2022

Das Urteil des Amtsgerichts Wittlich vom 18. Januar 2021 – 36b OWi 8011 Js 21030/18 jug – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz. Es wird aufgehoben. Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 26. Juli 2021 – 2 OWi 32 SsRs 70/21 – gegenstandslos.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Wittlich zurückverwiesen.

Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die im Verfassungsbeschwerdeverfahren notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit der Bevollmächtigten des Beschwerdeführers wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zwei in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren ergangene gerichtliche Entscheidungen. Sie betrifft die Reichweite von Einsichts- und Verteidigungsrechten in Bußgeldverfahren, die auf amtliche Geschwindigkeitsmessungen im sog. standardisierten Messverfahren gestützt sind.

I.

1. Mit Bußgeldbescheid vom 22. Februar 2018 verhängte das Polizeipräsidium Rheinpfalz, Zentrale Bußgeldstelle, gegen den Beschwerdeführer wegen einer am 13. Oktober 2017 begangenen Ordnungswidrigkeit (Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 34 km/h) eine Geldbuße in Höhe von 120,00 Euro. Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte mittels eines in einem Anhänger (sog. Enforcement Trailer) eingebauten Messgerätes, Typ PoliScan FM1, der Firma Vitronic.

Bereits mit Schreiben vom 7. Dezember 2017 hatte sich die Bevollmächtigte zur Verteidigerin des Beschwerdeführers bestellt und erhielt auf ihren Antrag hin Einsicht in die Ermittlungsakte. Unter dem 3. Januar 2018 beantragte sie bei dem Polizeipräsidium Rheinpfalz, ihr weitere Unterlagen bzw. Datensätze zur Verfügung zu stellen, unter anderem die Statistikdatei mit Case-List sowie die Reparatur-, Wartungs- und Eichnachweise des Messgeräts. Das Polizeipräsidium Rheinpfalz überließ der Bevollmächtigten des Beschwerdeführers daraufhin verschiedene Messunterlagen. Eine Übersendung der Statistikdatei mit Case-List unterblieb; die Reparatur- und Wartungsnachweise wurden unter Verweis auf ihre fehlende Existenz nicht übermittelt.

2. Der Beschwerdeführer stellte daraufhin einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten – OWiG –), dem das Amtsgericht Wittlich mit Beschluss vom 6. August 2018 stattgab. In der Folgezeit wurden jedoch die Statistikdatei bzw. die Case-List weiterhin nicht herausgegeben. Bezüglich der Reparatur- und Wartungsnachweise teilten die Zentralen Verkehrsdienste der Polizeidirektion Wittlich unter dem 3. September 2018 mit, dass zwischen Ersteichung (29. August 2017) und Tattag (13. Oktober 2017) keine Wartungen oder Reparaturen an dem Messgerät stattgefunden hätten. Mit Schriftsatz vom 17. September 2018 beantragte die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers zudem die Übersendung von Auf- und Einbauvorschriften für das Messgerät bei Verwendung in einem Enforcement Trailer.

3. Gegen den Bußgeldbescheid legte der Beschwerdeführer Einspruch ein. In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Wittlich am 4. Februar 2019 stellte die Terminsvertreterin einen Antrag auf Zugänglichmachung unter anderem der Statistikdatei, der Case-List, der Reparatur-, Wartungs- und Eichunterlagen sowie der Auf- und Einbauvorschriften. Zudem beantragte sie, das Verfahren bis zur Aushändigung und Überprüfung dieser Unterlagen auszusetzen. Beide Anträge wurden durch Beschluss des Gerichts abgelehnt. Den daraufhin gestellten Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Fehlerhaftigkeit der Messung lehnte das Amtsgericht unter Verweis auf § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG ebenfalls durch Beschluss ab.

4. Aufgrund der Hauptverhandlung vom 4. Februar 2019 verurteilte das Amtsgericht Wittlich den Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 34 km/h zu einer Geldbuße von 120,00 Euro. Das Oberlandesgericht Koblenz verwarf den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Wittlich mit Beschluss vom 6. Juni 2019 als unbegründet.

5. Der daraufhin erhobenen Landesverfassungsbeschwerde gab der Verfassungsgerichtshof mit Urteil vom 15. Januar 2020 – VGH B 19/19 – teilweise statt. Die Verwerfung der Rechtsbeschwerde verletze den Beschwerdeführer in seinen Rechten auf effektiven Rechtsschutz und den gesetzlichen Richter. Wegen der uneinheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung zum Recht auf Einsichtnahme in die Gebrauchsanweisung bzw. Aufbauanleitung eines Messgerätes habe die Rechtsbeschwerde zugelassen und auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen werden müssen, um eine Divergenzvorlage an den Bundesgerichtshof zu ermöglichen.

6. Daraufhin ließ das Oberlandesgericht Koblenz mit Beschluss vom 20. Mai 2020 – 2 OWi 6 SsRs 118/19 – die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Wittlich vom 4. Februar 2019 – 36b OWi 8011 Js 21030/18 jug – zu und hob dieses auf, da die Nichtüberlassung der Aufbauanleitung mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar sei. Die Betriebsanleitung für den Enforcement-Trailer gelangte in der Folge zu der Akte, in die die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers sodann Einsicht nahm.

II.

Gegenstand des vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind die nach Aufhebung und Zurückverweisung gegenüber dem Beschwerdeführer ergangenen Entscheidungen des Amtsgerichts Wittlich vom 18. Januar 2021 – 36b OWi 8011 Js 21030/18 jug – sowie des Oberlandesgerichts Koblenz vom 26. Juli 2021 – 2 OWi 32 SsRs 70/21 –.

1. Nach der Zurückverweisung durch das Oberlandesgericht bestimmte das Amtsgericht Wittlich (erneuten) Termin zur Hauptverhandlung auf den 18. Januar 2021. In dem Termin beantragte der Terminsvertreter, der Verteidigung die noch fehlenden Messdaten und Unterlagen (Statistikdatei, Case-List, Wartungsunterlagen, aktuelle Traileranleitung, Stellungnahme der Polizei zu der eingestellten Uhrzeit am Messgerät) zu überlassen und bis dahin das Verfahren auszusetzen. Zudem widersprach er der Verwertung des Messergebnisses, da die Rohmessdaten von dem Messgerät nicht gespeichert worden seien. Das Amtsgericht lehnte den Antrag ab und verurteilte den Beschwerdeführer – unter Berücksichtigung der langen Verfahrensdauer – zu einer Geldbuße in Höhe von nunmehr noch 80,00 Euro. Zur Begründung führte es aus, bei der Geschwindigkeitsmessung mit dem Gerät PoliScan FM1 handele es sich um ein amtlich anerkanntes, standardisiertes Messverfahren. Der konkrete Messvorgang müsse einer sachverständigen Begutachtung nur bei konkreten Anhaltspunkten für eine Fehlmessung unterzogen werden. Davon sei vorliegend nicht auszugehen. Eine Beiziehung der beantragten und noch nicht herausgegebenen Daten und Unterlagen sei mit Blick auf die aktuelle Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Koblenz nicht erforderlich. Was die Statistikdatei, Case-List und die im Zeitpunkt der Hauptverhandlung maßgebliche Traileranleitung anbelange, sei für die Aussagekraft und Relevanz dieser Daten in Bezug auf die Geschwindigkeitsmessung des Beschwerdeführers nichts ersichtlich. Soweit Reparatur- und Wartungsunterlagen begehrt würden, seien ausweislich des Messprotokolls seit der letzten Eichung an dem Messgerät keine Reparaturen oder Wartungen vorgenommen worden.

2. Mit seinem daraufhin gestellten Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er bemängelte unter anderem die Verletzung des Einsichtsrechts in die begehrten Messdaten sowie die Verwendung eines die Rohmessdaten löschenden Geschwindigkeitsmessgerätes. Zudem bestehe ein Verfahrenshindernis wegen der willkürlichen elektronischen Aktenführung durch die Verwaltungsbehörde.

3. Mit am 30. Juli 2021 zugegangenem Beschluss vom 26. Juli 2021 verwarf das Oberlandesgericht Koblenz den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Wittlich als unbegründet. Ein Verfahrenshindernis ergebe sich weder aus der elektronischen Führung der Bußgeldakte noch aus der nicht erfolgten Speicherung der Rohmessdaten. Die Verfahrensrüge des Beschwerdeführers, ihm sei keine Einsicht in die Messunterlagen gewährt worden, entspreche weder den formellen Vorgaben, noch greife sie inhaltlich durch. So sei in Bezug auf Statistikdatei und Case-List der Begriff der „tatgegenständlichen Messreihe“ zu unbestimmt. Entsprechendes gelte für den Begriff der „vorhandenen Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen“, zumal eine Herausgabe aller vorhandener Unterlagen das schützenswerte Informationsinteresse des Betroffenen übersteige. Aber auch bei unterstellter Einhaltung der formellen Voraussetzungen könne die Rechtsbeschwerde nicht gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zugelassen werden, da die Bestimmung nur Gehörsverletzungen und keine anderen Grundrechtsverletzungen wie etwa das Recht auf ein faires Verfahren erfasse. Bei der vom Beschwerdeführer begehrten Traileranleitung mit Stand Dezember 2019 sei der Zusammenhang mit der Tat nicht ersichtlich.

4. Eine Anhörungsrüge wurde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz nicht erhoben.

III.

Mit seiner (erneuten) Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips in der Ausprägung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV –) (1. und 2.), des Willkürverbots (Art. 17 Abs. 1 und 2 LV) (3.) sowie der Rechtsschutzgarantie (Art. 124 LV) (4.).

1. Das Amtsgericht habe durch die weiterhin nicht ermöglichte Einsichtnahme in bestimmte Messunterlagen sowie die Ablehnung des Aussetzungsantrags das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren verletzt. Im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren beschränke sich bei sog. standardisierten Messverfahren die gerichtliche oder behördliche Überprüfung des Messwerts auf äußere Umstände, etwa auf die Frage, ob die Bauart des Gerätes durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt zugelassen, das Gerät geeicht und von einem geschulten Messbeamten bedient worden sei. Dieser Umstand mache es aus Sicht des Betroffenen notwendig, konkrete Anhaltspunkte für Messfehler aufzuzeigen, um eine technische Überprüfung der Messung durch das Gericht zu erreichen. Daher gebiete es das Recht auf ein faires Verfahren, dem Betroffenen auf Antrag die entsprechenden Messdaten oder Messunterlagen zur Verfügung zu stellen, unabhängig davon, ob sich diese bei der Akte befänden. Vor diesem Hintergrund hätten die beantragten Messunterlagen (Statistikdatei, Case-List, Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen, Stellungnahme der Polizei zur Uhrzeiteinstellung am Messgerät sowie die aktuelle Gebrauchsanweisung für den Enforcement-Trailer, Stand Dezember 2019) herausgegeben bzw. zugänglich gemacht werden müssen. Ob diese Unterlagen eine Verteidigungsrelevanz aufwiesen, richte sich dabei allein nach der Einschätzung des Betroffenen und seiner Verteidigung.

2. Ein weiterer Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren seitens des Amtsgerichts Wittlich bestehe darin, dass dieses trotz der vorliegend nicht gespeicherten bzw. gelöschten Rohmessdaten den daraus errechneten Geschwindigkeitsmesswert verwertet und damit den „Grundsatz der Waffengleichheit“ unterlaufen habe.

3. Die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts verletzten darüber hinaus das Willkürverbot, da sie trotz der rechtsgrundlosen elektronischen Aktenführung durch die Bußgeldbehörde nicht vom Vorliegen eines Verfahrenshindernisses in Form eines unwirksamen Bußgeldbescheides ausgegangen seien.

4. Der Beschluss des Oberlandesgerichts verletze schließlich die Rechtsschutzgarantie, das Willkürverbot sowie die Unschuldsvermutung. Das Oberlandesgericht habe in die Ahndung des gegenständlichen Geschwindigkeitsverstoßes einen weiteren Geschwindigkeitsverstoß einfließen lassen, obwohl die Verwaltungsbehörde das Verfahren wegen des Verdachts eines weiteren Geschwindigkeitsverstoßes gemäß § 47 Abs. 1 OWiG noch vor Erlass des Bußgeldbescheides eingestellt habe. Eingestellte Bußgeldverfahren dürften bei späteren Verfahren aber nicht berücksichtigt werden.

IV.

1. Der Verfassungsgerichtshof hat der Landesregierung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Für diese hat das Ministerium des Innern und für Sport Stellung genommen und ausgeführt, es halte die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

a) Das Amtsgericht Wittlich habe das Recht auf ein faires Verfahren weder durch die Nichtüberlassung von Messunterlagen noch durch die Verwertung des Geschwindigkeitsmessergebnisses ohne Speicherung der diesem Ergebnis zugrundeliegenden Rohmessdaten verletzt. Die begehrte Case-List bzw. Statistikdatei habe keine Aussagekraft für das konkrete Messergebnis des Beschwerdeführers. Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen seien seit der letzten Eichung nicht entstanden und könnten daher nicht zur Verfügung gestellt werden. In die zum Tatzeitpunkt aktuelle Fassung der Bedienungsanleitung, auf die es insoweit allein ankomme, habe der Beschwerdeführer Einsicht genommen. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folge schließlich nicht, dass Rohmessdaten zwingend gespeichert werden müssten, zumal die Strenge des anzuwendenden Maßstabes im Ordnungswidrigkeitenverfahren vermindert sein könne.

b) Weder das Urteil des Amtsgerichts noch der Beschluss des Oberlandesgerichts verletzten das Willkürverbot im Hinblick auf die Führung einer elektronischen Akte durch die Zentrale Bußgeldstelle. Zutreffend gingen die Gerichte davon aus, dass das Fehlen einer Rechtsgrundlage für die elektronische Aktenführung nicht die Unwirksamkeit des in Papierform hergestellten Bußgeldbescheids zur Folge habe.

c) Schließlich verletze die Entscheidung des Oberlandesgerichts, das Verfahren nicht nach § 47 Abs. 2 OWiG einzustellen, weder die Rechtsschutzgarantie, noch das Willkürverbot oder die Unschuldsvermutung. Zum einen sei das in dem angegriffenen Beschluss erwähnte zweite Bußgeldverfahren (lediglich) aus Opportunitätsgründen eingestellt worden. Zum anderen reichten bereits die konkreten Umstände der dem Beschwerdeführer noch vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung aus, um von einer Einstellung des Bußgeldverfahrens abzusehen.

2. Dem Verfassungsgerichtshof hat die Bußgeldakte der Staatsanwaltschaft Trier vorgelegen.

B.

Die Verfassungsbeschwerde, über die der Verfassungsgerichtshof gemäß § 49 Abs. 1 Landesgesetz über den Verfassungsgerichtshof – VerfGHG – ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg.

I.

Das angefochtene Urteil des Amtsgerichts Wittlich vom 18. Januar 2021 verstößt allerdings nicht schon deshalb gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV –), weil dem Beschwerdeführer durch das Amtsgericht keine Einsichtnahme in die Statistikdatei/Case-List ermöglicht wurde.

1. a) Wie der Verfassungsgerichtshof in der jüngeren Vergangenheit wiederholt entschieden hat, zählt das Recht auf ein faires Verfahren zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 24. Februar 2014 – VGH B 26/13 –, AS 42, 157 [165]; Beschluss vom 12. Februar 2020 – VGH B 5/20 –; Beschluss vom 28. Januar 2021 – VGH B 71/20 –, AS 48, 115 [121]; Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [411]; Beschluss vom 22. Juli 2022 – VGH B 30/21 –, juris Rn. 29; vgl. zur inhaltsgleichen grundgesetzlichen Garantie BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1974 – 2 BvR 747/73 –, BVerfGE 38, 105 [111]; Beschluss vom 26. Mai 1981 – 2 BvR 215/81 –, BVerfGE 57, 250 [274 f.]; Beschluss vom 3. Juni 1992 – 2 BvR 1041/88 u.a. –, BVerfGE 86, 288 [317]; Beschluss vom 14. Juni 2007 – 2 BvR 1447/05 u.a. –, BVerfGE 118, 212 [231]). Es hat seine Wurzeln im Rechtsstaatsprinzip (Art. 77 Abs. 2 LV) in Verbindung mit den Freiheitsrechten und der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 LV in Verbindung mit dem Vorspruch). Am Recht auf ein faires Verfahren ist insbesondere die Ausgestaltung des Strafverfahrens zu messen, wenn und soweit keine spezielle verfassungsrechtliche Gewährleistung existiert (vgl. auch VerfGH RP, Beschluss vom 24. Juli 2009 – VGH B 21/09 –, BeckRS 2014, 49488; BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2009 – 2 BvR 2044/07 –⁠, BVerfGE 122, 248 [271]; Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. –⁠, BVerfGE 130, 1 [25]). Die Gewährleistung des „fair trial“ beschränkt sich aber nicht auf die Strafverfolgung, sondern gilt auch für sonstige Rechtsbereiche (vgl. Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz [Hrsg.], GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 75 [Juli 2001]; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck [Hrsg.], GG, 7. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 130; konkret zur Anwendbarkeit im Ordnungswidrigkeitenverfahren auch VerfGH RP, Beschluss vom 28. Januar 2021 – VGH B 71/20 –, AS 48, 115 [121 f.]; Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [412]; Beschluss vom 22. Juli 2022 – VGH B 30/21 –, juris Rn. 29; Cornils, in: Brocker/Droege/Jutzi [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2. Aufl. 2022, Art. 77 Rn. 39). Inhaltlich verpflichtet sie alle staatlichen Organe, korrekt und fair zu verfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1974 – 2 BvR 747/73 –, BVerfGE 38, 105 [111]). Ferner sichert der Anspruch auf ein faires Verfahren dem Beschuldigten, der im Rechtsstaat nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein darf, den erforderlichen Bestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1977 – 2 BvR 462/77 –, BVerfGE 46, 202 [210]; Beschluss vom 26. Mai 1981 – 2 BvR 215/81 –, BVerfGE 57, 250 [275]). Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Fachgerichte ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde (st. Rspr., VerfGH RP, Beschluss vom 28. Januar 2021 – VGH B 71/20 –, AS 48, 115 [122]; Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [412]; Beschluss vom 22. Juli 2022 – VGH B 30/21 –⁠, juris Rn. 29; Cornils, in: Brocker/Droege/Jutzi [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2. Aufl. 2022, Art. 77 Rn. 39; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983 – 2 BvR 864/81 –, BVerfGE 63, 45 [61]; Beschluss vom 17. Mai 1983 – 2 BvR 731/80 –, BVerfGE 64, 135 [145 f.]; Beschluss vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150/80 u.a. –, BVerfGE 70, 297 [308 f.]; Beschluss vom 3. Juni 1992 – 2 BvR 1041/88 –, BVerfGE 86, 288 [317 f.]; Beschluss vom 15. Januar 2009 – 2 BvR 2044/07 –, BVerfGE 122, 248 [272]; Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. –, BVerfGE 130, 1 [25 f.]).

b) Das Recht auf ein faires Verfahren enthält jedoch keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote; vielmehr bedarf es der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten (BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. –, BVerfGE 130, 1 [25 f.]; Kammerbeschluss vom 6. August 2003 – 2 BvR 1071/03 –, juris Rn. 25; Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 33). Im Rahmen dieser Konkretisierung sind auch die Erfordernisse einer funktionierenden Rechtspflege in den Blick zu nehmen (VerfGH RP, Urteil vom 15. Januar 2020 – VGH B 19/19 –, AS 47, 350 [371]; Beschluss vom 22. Juli 2022 – VGH B 30/21 –, juris Rn. 30; zur Strafrechtspflege BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. –, BVerfGE 130, 1 [26]). Verfahrensgestaltungen, die den Erfordernissen einer wirksamen Rechtspflege dienen, verletzen daher nicht schon dann den Anspruch auf ein faires Verfahren, wenn verfahrensrechtliche Positionen des Betroffenen dabei eine Zurücksetzung zugunsten einer wirksamen Rechtspflege erfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2009 – 2 BvR 2044/07 –, BVerfGE 122, 248 [273]; Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a. –, BVerfGE 133, 168 [201]; Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 35). Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist insbesondere die im Bereich der Messung von Geschwindigkeitsüberschreitungen geläufige und der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung dienende Rechtsfigur des sog. standardisierten Messverfahrens (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 39 ff., Rn. 48; s. auch VerfGH RP, Urteil vom 15. Januar 2020 – VGH B 19/19 –⁠, AS 47, 350 [372]). Ohne den Einsatz von Geschwindigkeitsmessanlagen, deren Ergebnisse trotz ihrer weitgehend automatisierten Arbeitsweise im Bußgeldverfahren verwertbar sind, kann das vorrangige Ziel einer Verkehrsüberwachung, den Gefahren des Straßenverkehrs entgegenzuwirken, nicht effektiv gewährleistet werden (vgl. zum präventiven und repressiven Charakter von Geschwindigkeitsmessungen VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [413]; BGH, Urteil vom 25. Februar 2021 – 3 StR 365/20 –, juris Rn. 18 f.). Zugleich wird auf diese Weise dem Beschleunigungsgrundsatz Rechnung getragen, der zwar in erster Linie den Interessen des Betroffenen dient, aber auch eng mit dem rechtsstaatlichen Erfordernis einer funktionstüchtigen Rechtspflege verknüpft ist (VerfGH RP, Beschluss vom 22. Juli 2022 – VGH B 30/21 –, juris Rn. 30; zur Strafrechtspflege: BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2009 – 2 BvR 2044/07 –, BVerfGE 122, 248 [273]); Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. –⁠, BVerfGE 130, 1 [25 f.]).

c) Gelangt im Ordnungswidrigkeitenverfahren ein standardisiertes Messverfahren zur Anwendung, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 LV) im Grundsatz der Anspruch des Betroffenen, Kenntnis auch von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden und weiterhin vorhanden sind, aber nicht zur Bußgeldakte genommen wurden. Hierdurch wird dem Gedanken der „Waffengleichheit“ Rechnung getragen (VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [413]; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 37, 50, 59). Die Legitimität der Anerkennung standardisierter Messverfahren steht daher in engem Zusammenhang mit der Anerkennung von Einsichts- und Überprüfungsrechten der Verteidigung (vgl. auch Cierniak, zfs 2012, 664 [670]; ders./Niehaus, DAR 2014, 2 [7]). Ein solcher Anspruch gilt allerdings nicht unbegrenzt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten. Andernfalls bestünde die Gefahr der uferlosen Ausforschung, von erheblichen Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs (zum Ganzen VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [413 f.]; Beschluss vom 22. Juli 2022 – VGH B 30/21 –, juris Rn. 31; BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 56).

Ein Anspruch auf Zugang zu den außerhalb der Bußgeldakte befindlichen Informationen setzt daher in formeller Hinsicht zunächst voraus, dass die begehrten Informationen hinreichend konkret benannt werden (VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [413]; BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 57; vgl. auch VerfG Brandenburg, Beschluss vom 18. Februar 2022 – 48/20 –, juris Rn. 25). Dabei hat der Adressat des Einsichtsantrags unter Umständen eine verständige Auslegung vorzunehmen, um das konkrete Einsichtsbegehren des Betroffenen zu ermitteln. Diese Pflicht besteht indes nur im Rahmen des Zumutbaren. Gerade mit Blick auf die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege obliegt es dem Betroffenen und seiner Verteidigung, das Verfahren nicht durch unklare Anträge unangemessen zu verzögern. In materieller Hinsicht erfordert der Anspruch auf Informationszugang zu den nicht zur Bußgeldakte gelangten Informationen einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf sowie eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung (VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [414] im Anschluss an BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –⁠, juris Rn. 57). Ausgangspunkt ist der Vortrag des Betroffenen, der einer Evidenzkontrolle standzuhalten hat.

Schließlich besteht der Anspruch auf Einsicht in nicht zur Bußgeldakte gelangte Informationen nicht, wenn gewichtige verfassungsrechtlich verbürgte Interessen wie beispielsweise die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege oder schützenswerte Interessen Dritter entgegenstehen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 59).

2. Unter Beachtung dieser Maßgaben scheidet eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren in Bezug auf die vom Beschwerdeführer angeforderte Case-List bzw. Statistikdatei aus. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kommt es für die Beurteilung der Verteidigungsrelevanz einer Information zwar maßgeblich, aber nicht allein auf die Einschätzung des Betroffenen an. Ausgeschlossen sind vielmehr solche Dokumente und Unterlagen, die noch nicht einmal eine theoretische Aufklärungschance zu begründen vermögen (a). Dies zugrunde gelegt ist bei der vom Beschwerdeführer begehrten Statistikdatei bzw. Case-List die Eignung zur Aufdeckung von Funktionsbeeinträchtigungen des Messgerätes schlechthin ausgeschlossen (b).

a) Unzutreffend ist bereits die in der Beschwerdeschrift aufgestellte Prämisse, wonach das Amtsgericht in unzulässiger Weise seine Sichtweise an die Stelle der Sichtweise des Beschwerdeführers oder seiner Verteidigung gesetzt habe. Denn der Beschwerdeführer geht zu Unrecht davon aus, dass für die Frage der „Verteidigungsrelevanz“ jede inhaltliche (gerichtliche) Überprüfung zu unterbleiben habe, wenn nur der Betroffene oder seine Verteidigung die herausverlangte Information als geeignet zur Aufdeckung eines Messfehlers ansehen.

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der sich der Verfassungsgerichtshof angeschlossen hat (VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [413 f.]), kann die Verteidigung grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und schließlich die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung gerade in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind. Es kommt deshalb für die Anerkennung eines Einsichtsrechts des Betroffenen in Messunterlagen nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachtet (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 57) oder ob die Relevanz der begehrten Information „auf der Hand liegt“ (VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [417]). Hieraus folgt indes nicht, dass dem Betroffenen ein nicht bei der Bußgeldakte befindliches Dokument, dem ganz offensichtlich keine Bedeutung für die Verteidigung zukommt, zur Verfügung gestellt werden müsste. Anderenfalls bedürfte es des vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Erfordernisses einer „erkennbaren“ Relevanz für die Verteidigung nicht (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020, a.a.O.). Würde die Bejahung der Verteidigungsrelevanz ohne jedes inhaltliche Korrektiv der alleinigen Einschätzung des Betroffenen überlassen, wären Ausführungen zu einer – zumindest theoretischen – Aufklärungschance nicht erforderlich. Der Verfassungsgerichtshof hat das Erfordernis einer solchen (theoretischen) Aufklärungschance mit der Formulierung aufgegriffen, die Eignung der begehrten Information zur Aufdeckung einer Funktionsbeeinträchtigung dürfe „nicht schlechthin ausgeschlossen“ sein (VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [416]; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 51). Maßgeblich ist danach der Vortrag des Betroffenen, der einer Evidenzkontrolle standzuhalten hat (vgl. VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [414]). In Verfassungsbeschwerdeverfahren, die nicht am Erfordernis der materiellen Subsidiarität scheiterten, hat der Betroffene oder seine Verteidigung im Verfahren vor der Bußgeldstelle und dem Gericht bereits (regelmäßig mehrere) Anträge auf Herausgabe der begehrten Information gestellt. Hieraus ergibt sich, dass er selbst von einer Relevanz der Unterlagen ausgeht. Damit hat es entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers indes nicht sein Bewenden, da es nicht darauf ankommt, ob der Betroffene die Information für erforderlich hält, sondern diese verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam „halten darf“ (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 57). Die vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang zitierte Entscheidung des Kartellsenats des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2007 – KRB 59/07 –, juris Rn. 15) betrifft den Sonderfall eines (bejahten) Akteneinsichtsrechts in dem Gericht bereits (in einem Parallelverfahren) vorliegende Akten und ist daher auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.

bb) Auch der Bundesgerichtshof hat sich jüngst dagegen ausgesprochen, die Definitionshoheit über den Begriff der Verteidigungsrelevanz allein dem Betroffenen und seiner Verteidigung zu überantworten und damit jedwedem Informationsverlangen ohne gerichtliche Prüfung seiner Berechtigung nachzukommen. Der Anspruch des Betroffenen auf Informationszugang sei nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sachlich unter anderem davon abhängig, dass der begehrten Information durch den Betroffenen verständiger Weise Relevanz für seine Verteidigung beigemessen werden könne. Es sei Aufgabe der mit den Verfahren befassten Bußgeldgerichte, im Einzelfall eigenständig zu beurteilen, ob das Gesuch diesen Anforderungen entspreche (BGH, Beschluss vom 30. März 2022 – 4 StR 181/21 –, juris Rn. 9).

cc) Der Beschwerdeführer kann schließlich auch nichts aus der von ihm angeführten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Urteil vom 25. Juli 2019 – 1586/15 –, juris und NJW 2020, 3019 ff.) für sich herleiten. Zwar setzt sich die Entscheidung in der allein vom Beschwerdeführer zitierten Passage mit einem Einsichtsrecht in vorhandene Beweismittel auseinander (vgl. EGMR, Urteil vom 25. Juli 2019 – 1586/15 –, juris Rn. 58). Im unmittelbaren Anschluss an diese Ausführungen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte indes zugleich festgestellt, dass dem Betroffenen auferlegt werden könne, „stichhaltige Gründe“ für die Offenlegung solcher Beweismittel vorzubringen (EGMR, Urteil vom 25. Juli 2019 – 1586/15 –, juris Rn. 59). Als ein solcher stichhaltiger Grund kommt die von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung geforderte Verteidigungsrelevanz im vorgenannten Sinne in Betracht.

b) Dies zugrunde gelegt musste dem Beschwerdeführer keine Einsicht in die Statistikdatei bzw. Case-List ermöglicht werden, weil es den Dokumenten an einer erkennbaren Relevanz für die Verteidigung mangelt. Der diesbezügliche Vortrag des Beschwerdeführers zum Erkenntniswert der Dokumente hält einer Evidenzkontrolle nicht stand.

Der Beschwerdeführer hat zur Verteidigungsrelevanz der Statistikdatei bzw. Case-List vorgetragen, diese lieferten „Rückschlüsse zur Qualität der Ausrichtung des Sensors und einhergehend zur Annullierungsrate des konkreten Messeinsatzes“. Auf diese Weise könne festgestellt werden, ob „tatsächlich alle Messfotos zur Auswertung vorgelegen haben oder zwischenzeitig einzelne Messfotos gelöscht wurden“. Nur wenn alle Messdateien der kompletten Messserie zur Auswertung vorlägen, könne die Messbeständigkeit des Messgerätes und damit die Gültigkeit der Eichung nachgewiesen werden. Hieraus ergebe sich die Notwendigkeit, dass die Statistikdatei bzw. Case-List einhergehend mit der kompletten Messserie überprüft werde.

Diese ohne Bezug zu dem in Rede stehenden Messgerät gemachten Ausführungen lassen nicht erkennen, dass durch die begehrte Information eine Überprüfung der spezifischen Einzelmessung des Beschwerdeführers ermöglicht würde. Inwiefern etwa die Auflistung „aller Messungen eines Messeinsatzes in verschiedenen Geschwindigkeitsbereichen“ Rückschlüsse auf die Qualität der konkreten Einzelmessung zulässt, wird vom Beschwerdeführer nicht ansatzweise dargelegt. Auch der übrige Vortrag des Beschwerdeführers enthält weder erschöpfende Ausführungen zum Begriff einer Statistikdatei bzw. Case-List im Allgemeinen noch zum Inhalt der Statistikdatei bzw. Case-List des in Rede stehenden Messgerätes Typ PoliScan FM1 im Speziellen. Selbst wenn man – ohne dass die Beschwerdeschrift hierzu nähere Angaben enthält – zugunsten des Beschwerdeführers zur inhaltlichen Konkretisierung des Begriffs der Statistikdatei auf die (technische) Fachliteratur zurückgriffe, ergäbe sich nichts anderes. Nach dem dortigen Verständnis speichern Statistikdateien von Messgeräten als solche Daten über den Verkehrsfluss; sie enthalten eine statistische Erfassung der Geschwindigkeitsverstöße (vgl. Physikalisch-Technische Bundesanstalt [PTB], Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung, Stand 30. März 2020, S. 1, abrufbar unter https://oar.ptb.de/files/download/5e82fa594c93904d740037dc (zuletzt abgerufen: 16. August 2022); ferner auch Ropertz, NZV 2021, 500 [502]). Insbesondere geben sie Auskunft über Gerät und Zeitraum der Überwachung sowie über die Anzahl der erfassten Fahrzeuge und der Geschwindigkeitsüberschreitungen, teilweise auch über die Verteilung der erfassten Fahrzeuggeschwindigkeiten während der Messreihe. An den Daten lässt sich neben der Bandbreite an gefahrenen Geschwindigkeiten ablesen, bei wievielen Fahrzeugen überhöhte Geschwindigkeiten gemessen wurden. Die Annullationsrate gibt Auskunft darüber, in wievielen Fällen Einzelmessungen aufgrund von Störeinflüssen automatisch abgebrochen oder als Ergebnis der internen Datenauswertung verworfen worden sind. Die Anzahl der Annullationen lässt entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers aber keinen Rückschluss auf die Messgenauigkeit bzw. Messrichtigkeit der (nicht annullierten) konkreten Einzelmessung zu. Selbst eine hohe Annullationsrate gibt keinen Hinweis auf fehlerhafte oder auffällige Messungen. Sie ist vielmehr gerade Ausdruck einer funktionierenden Qualitätsprüfung durch das Gerät selbst und dahin zu interpretieren, dass bei der konkreten Messung – anders als bei den annullierten Vorgängen – keine Störeinflüsse festzustellen waren (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 27. Oktober 2020 – 1 OWi 2 SsBs 103/20 –, juris Rn. 21).

3. Eine Verteidigungsrelevanz besteht schließlich auch nicht mit Blick auf die Bedienungsanleitung zum Stichtag 18. Dezember 2019. Der Vortrag des Beschwerdeführers hält auch insoweit einer Evidenzkontrolle nicht stand. Dem Beschwerdeführer ist im Laufe des gerichtlichen Hauptverfahrens die Bedienungsanleitung des Enforcement Trailers – Version 2.1 – zum Stichtag 1. September 2017 überlassen worden, die am Tattag sechs Wochen alt war. Welche Erkenntnisse sich für die Frage der ordnungsgemäßen Bedienung des Messgerätes aus einer im Tatzeitpunkt (13. Oktober 2017) noch nicht existenten Bedienungsanleitung ergeben sollten, legt der Beschwerdeführer indes nicht dar. Für die Verteidigungsrelevanz einer solchen Bedienungsleitung, die weder bei Aufbau noch Betrieb des Messgerätes am Tattag zum Einsatz gelangen konnte, ist auch sonst nichts ersichtlich.

II.

Demgegenüber entspricht das Urteil des Amtsgerichts Wittlich vom 18. Januar 2021 hinsichtlich der angeforderten Informationen zu Reparatur- und Wartungsunterlagen des Messgerätes nicht den vom Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 – zu Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 LV aufgestellten Anforderungen.

1. In dieser Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof zur Verteidigungsrelevanz von Reparatur- und Wartungsunterlagen ausgeführt, dass ihre Eignung zur Aufdeckung von Funktionsbeeinträchtigungen jedenfalls nicht schlechthin ausgeschlossen ist, da sie jedenfalls eine theoretische Aufklärungschance begründen können (VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [416 f.] mit Verweis auf BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 57). In zeitlicher Hinsicht gilt dies allerdings nur für die seit der letzten Eichung vorliegenden Reparatur- und Wartungsunterlagen. Ein Einsichtsrecht umfasst daher den Zeitraum, der mit der letzten Eichung vor dem Tattag beginnt und am Tage des Ablaufs der Eichfrist – hier am 31. Dezember 2018 – endet. Vom Einsichtsrecht erfasst werden folglich auch Unterlagen solcher Wartungen, die nach der verfahrensgegenständlichen Messung, aber vor dem Ende der Eichfrist vorgenommen worden sind. Nicht ausreichend – weil nicht den gesamten maßgeblichen Zeitraum abdeckend – ist insoweit ein möglicher Hinweis des Messbeamten auf dem Messprotokoll, wonach seit Beginn der Eichfrist keine Reparaturen und Wartungen an dem Messgerät durchgeführt worden seien (VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [416]). Aussagen zu nach dem Tattag vorgenommenen Wartungen und Reparaturen können im Messprotokoll denknotwenig nicht getroffen werden. Weiter hat der Verfassungsgerichtshof klargestellt, dass eine Herausgabe entsprechender Dokumente nur dann begehrt werden kann, wenn in dem vorgenannten Zeitraum Wartungen tatsächlich vorgenommen wurden. Liegen keine Reparatur- und Wartungsunterlagen vor, weil nach der letzten Eichung und nach der streitgegenständlichen Messung keine Wartungen oder Reparaturen an dem Messgerät durchgeführt worden sind, kann von der Bußgeldbehörde schon faktisch lediglich eine Erklärung hierüber gefordert werden (VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [416]).

2. Vor diesem Hintergrund wird die Ablehnung des Begehrens des Beschwerdeführers, soweit dieses auf die Zugänglichmachung von vorhandenen Reparatur- und Wartungsunterlagen des konkreten Messgerätes gerichtet ist, den aus Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 LV folgenden Anforderungen an ein faires Verfahren nicht vollständig gerecht. Das Amtsgericht hat in der angegriffenen Entscheidung vom 18. Januar 2021 maßgeblich darauf abgestellt, dass „ausweislich des Messprotokolls (…) seit der letzten Eichung an dem Messgerät keine Reparaturen und Wartungen“ vorgenommen worden seien. Weder das Messprotokoll noch eine in der Bußgeldakte enthaltene Auskunft der Zentralen Verkehrsdienste der Polizeidirektion Wittlich vom 3. September 2018, wonach zwischen Ersteichung und Tattag keine Wartungen oder Reparaturen stattgefunden haben, verhalten sich indes zu dem Zeitraum nach der verfahrensgegenständlichen Messung. Dass aber auch die Information, ob nach der Messung (bis zum Zeitpunkt der Auskunft der Bußgeldstelle, längstens bis zum Ablauf der am Tattag maßgeblichen Eichfrist) Reparaturen oder Wartungen an dem Messgerät durchgeführt wurden, zur Aufdeckung einer Funktionsbeeinträchtigung des Messgerätes nicht schlechthin ungeeignet ist, hat der Verfassungsgerichtshof bereits jüngst entschieden (vgl. VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [416]).

III.

Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts beruht auf der Grundrechtsverletzung und ist deshalb aufzuheben. Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts, mit dem der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde verworfen worden ist, gegenstandslos.

Verstößt die angegriffene Entscheidung des Amtsgerichts bereits gegen Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 LV, bedarf es keiner Entscheidung, ob auch die weiteren vom Beschwerdeführer benannten Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt worden sind (vgl. auch VerfGH RP, Beschluss vom 28. Januar 2021 – VGH B 71/20 –, AS 48, 115 [128]; sowie entspr. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 69).

C.

Das Verfahren ist gemäß § 21 Abs. 1 VerfGHG kostenfrei.

Die Anordnung der Auslagenerstattung zugunsten des Beschwerdeführers folgt aus § 21a Abs. 1 Satz 1 VerfGHG.

Die Festsetzung des Gegenstandswertes folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes – RVG –. Dieser ist in Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Verfassungsgericht eines Landes unter Berücksichtigung der in § 14 Abs. 1 RVG genannten Kriterien – Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, Bedeutung der Angelegenheit sowie Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers – nach billigem Ermessen zu bestimmen; er beträgt mindestens 5.000,00 Euro. Das subjektive Interesse des Beschwerdeführers an dem Verfassungsbeschwerdeverfahren ist angesichts der gegen ihn im Bußgeldverfahren verhängten Geldbuße in Höhe von 80,00 Euro mit dem Auffangwert von 5.000,00 Euro ausreichend erfasst (vgl. auch VerfGH RP, Beschluss vom 28. Januar 2021 – VGH B 71/20 –, juris Rn. 34). Die sich aus der Flächenwirkung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs ergebende erhebliche objektive Bedeutung der Angelegenheit rechtfertigt es allerdings, den Auffangstreitwert vorliegend auf 10.000,00 Euro zu verdoppeln (vgl. auch VerfGH RP, Beschluss vom 16. April 2020 – VGH B 19/19 –, BeckRS 2020, 7535; Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –⁠, juris Rn. 62 [insoweit nicht abgedruckt in AS 48, 403]).

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