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Hauptverhandlung – Verwertung von Urkunden trotz Nichtverlesung

OLG Koblenz – Az.: 2 OWi 32 SsRs 254/21 – Beschluss vom 05.11.2021

In dem Bußgeldverfahren wegen Nichtbeachtung des Überholverbots und Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften hier: Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat der 2. Strafsenat – 2. Senat für Bußgeldsachen – des Oberlandesgerichts Koblenz am 5. November 2021 beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die zugelassen wird, wird das Urteil des Amtsgerichts Koblenz vom 10. Mai 2021 mit den getroffenen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Koblenz zurückverwiesen.

Gründe:

Der Betroffene wurde durch Urteil des Amtsgerichts Koblenz vom 10. Mai 2021 wegen Nichtbeachtung des Überholverbotes außerhalb geschlossener Ortschaften durch verbotswidriges Rechtsüberholen und tateinheitlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 24 km/h zu einer Geldbuße von 135,00 EUR verurteilt.

Er war von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden. An der Hauptverhandlung hatten weder der Betroffene noch sein Verteidiger teilgenommen.

Das Urteil wurde dem Verteidiger des Betroffenen, dessen Vollmacht sich bei den Akten befand, am 14. Juni 2021 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 17. Juni 2021, eingegangen beim Amtsgericht Koblenz am selben Tage, legte der Verteidiger namens des Betroffenen Rechtsbeschwerde gegen das Urteil ein und beantragte deren Zulassung. Die anwaltliche Rechtsbeschwerdebegründung ging am 21. Juli 2021 beim Amtsgericht Koblenz ein. Gerügt wird die Verletzung formellen und, materiellen Rechts.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Votum vom 24. August 2021 beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

Der zulässige Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg, ebenso wie die Rechtsbeschwerde selbst.

Bei einer – wie hier – verhängten Geldbuße von mehr als 100 Euro und nicht mehr als 250 EUR kommt eine Zulassung der Rechtsbeschwerde nur in Betracht, wenn es geboten ist, die Nachprüfung des Urteils zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG) oder das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG).

Hier ist es geboten, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben.

Bei der Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs handelt es sich um eine Verfahrensrüge, die der Formvorschrift der §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügen muss (OLG Koblenz, 1 Ss. 337/06 v. 17.11.2006; 3 OWi 6 SsRs 189/20 v. 09.07.2020, beck-online; BayObLG, 3 ObOWi 42/96 v. 15.04.1996, juris; OLG Hamm, 2 Ss OWi 1021/98 v. 11.09.1998, juris).

Dies ist hier der Fall.

Die Verletzung des rechtlichen Gehörs wurde auch insoweit gerügt, als die Inbegriffsrüge erhoben wurde. Gründet das Gericht seine Überzeugung nämlich auch auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zu denen sich also der Angeklagte dem erkennenden Gericht gegenüber nicht abschließend äußern könnte, so verstößt das Verfahren nicht nur gegen § 261 StPO, sondern zugleich auch gegen den in § 261 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs (BGH, 2 StR 433/15 v. 21.01.2016, NStZ 2017, 375, beck-online; KG, 3 Ws 282/17 – 122 Ss 174/17 v. 14.09.2017). Wenn mit dem der Inbegriffsrüge zu Grunde liegenden Verstoß aber stets eine Verletzung des rechtlichen Gehörs einhergeht, beinhaltet die Erhebung der Inbegriffsrüge zwingend auch die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs. Dies gilt hier umso mehr als der Rechtsbeschwerdeführer später ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des rechtlichen Gehörs rügt, dass das Gericht sich im Rahmen der schriftlichen Urteilsgründe auch auf eine Bedienungsanleitung bezieht, die weder Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, noch sich überhaupt bei den Akten befand.

Die Rüge wurde auch ordnungsgemäß erhoben. Wird beanstandet, das Tatgericht habe den Inhalt in der Hauptverhandlung nicht verlesener Urkunden verwertet, so gehört zur ordnungsgemäßen Begründung der Verfahrensrüge nicht nur die Behauptung, dass die Urkunde nicht verlesen worden, sondern auch die Darlegung, dass der Inhalt der Urkunde nicht in sonst zulässiger Weise eingeführt worden sei (vgl. BGH, 4 StR 78/14 v. 17.07.2014, NStZ 2014, 604; OLG Düsseldorf, 5Ss (OWi) 171/93 – (OWi) 78/93 1 v. 04.06.1993; StV 1995,120; KG (4) 121 Ss 53/12 (91/12) v. 18.04.2012, StV 2013, 433; Sander in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 261 Rn. 265). Die Verfahrensrüge ist nur dann in zulässiger Weise erhoben, wenn der Beschwerdeführer die den Mangel enthaltenden Tatsachen angibt. Diese Angaben haben objektiv richtig (vgl. BGH 4 StR 584/10 v. 10.05.2011, StraFo 2011, 318), mit Bestimmtheit und so genau und vollständig (ohne Bezugnahmen und Verweisungen) zu erfolgen, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein aufgrund der Begründungsschrift – ohne Rückgriff auf die Akte und auf das Hauptverhandlungsprotokoll – erschöpfend prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen, ihre Erweisbarkeit vorausgesetzt, zutreffen (BGH, 2 StR 34/13 v. 12.03.2013, juris; KK/Gericke, StPO 8. Aufl. 2019, § 344 Rn. 38-39 m.w.N.; KG 3 Ws (B) 182/17-122 Ss 81/17 v. 15.08.2017, beck-online).

Diesen Anforderungen genügt die Rechtsbeschwerdeschrift. Zunächst wird behauptet und durch das Protokoll, das sowohl vollständig als auch im Rahmen der Rüge nochmals auszugsweise, soweit es die Beweisaufnahme angeht, wiedergegeben wird, belegt, dass weder das Messprotokoll, noch die Bedienungsanleitung förmlich zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind. Es wurde weder das Selbstleseverfahren angeordnet, noch wurde im Rahmen des Selbstleseverfahrens das Messprotokoll eingeführt. Die Bedienungsanleitung wurde ebenfalls nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht. Da sich aus der Rechtsbeschwerdebegründung – namentlich aus dem vollständig abgedruckten Protokoll – ergibt, dass niemand in der Hauptverhandlung anwesend war, kann auch ausgeschlossen werden, dass die Urkunden im Wege eines nicht zu protokollierenden Vorhaltes oder einer sonstigen Erörterung eingeführt wurden.

Der Zulässigkeit der Rüge des rechtlichen Gehörs steht auch nicht entgegen, dass der Betroffene nicht darlegt, was er im Falle der ordnungsgemäßen Einführung der Beweismittel in die Hauptverhandlung vorgetragen hätte. Denn der Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs liegt nicht darin begründet, dass das Gericht die Beweismittel nicht in die Hauptverhandlung eingeführt hat, sondern darin, dass es im Urteil Beweismittel verwertet hat, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren. Der Mangel des Urteils und damit die Verletzung des rechtlichen Gehörs liegen also in der Verwertung begründet. Zu diesem Zeitpunkt hätte der Betroffene aber nichts mehr vortragen können. Dass das Urteil auf der unzulässigen Verwertung beruht trägt er vor. Dies ergibt sich auch aus den Urteilsgründen, auf die der Senat auf Grund der erhobenen allgemeinen Sachrüge zurückgreifen darf.

Das rechtliche Gehör wurde auch verletzt, da das Gericht mit der Bedienungsanleitung und Messprotokoll Beweismittel verwertet hat, die nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, wobei sich die Bedienungsanleitung nicht einmal bei den Akten befand, so dass der Betroffene mit deren Verwertung von Anfang an nicht zu rechnen hatte.

Das Urteil beruht auch auf dem Verfahrensfehler, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht ohne die Verwertung der Bedienungsanleitung und des Messprotokolls zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Das Gericht stützt sich an mehreren Stellen des Urteils auf das Messprotokoll und nimmt auch ausdrücklich auf die Bedienungsanleitung Bezug.

Nach alledem war die Rechtsbeschwerde zuzulassen, da es geboten ist, das erstinstanzliche Urteil wegen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Die Rechtsbeschwerde hat aus den genannten Gründen auch in der Sache Erfolg.

Die Sache war unter Aufhebung des angegriffenen Urteils zu erneuter Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Koblenz zurückzuverweisen. Für die erneute Entscheidung weist der Senat über die vorangegangenen Ausführungen hinaus darauf hin, dass auch die Schuldform in den Tenor aufzunehmen ist, wenn die Tat vorsätzlich und fahrlässig begangen werden kann.

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