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Geschwindigkeitsüberschreitung – Tateinheit bei mehreren Verkehrsverstößen

OLG Celle – Az.: 322 SsBs 295/11 – Beschluss vom 25.10.2011

1. Das Urteil des Amtsgerichts Lehrte vom 23. Juni 2011 wird aufgehoben.

2. Das Verfahren wird eingestellt.

3. Die Kosten des Verfahrens sowie die dem Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (außerorts) zu einer Geldbuße von 160 € verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot von einem Monat verhängt.

Zu den Vorbelastungen des Betroffenen hat das Amtsgericht festgestellt:

„Mir Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 01.02.2011, rechtskräftig seit 28.02.2011 wurde gegen den Betroffenen wegen Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften von 100 km/h um 34 km/h ein Bußgeld in Höhe von 120,- € festgesetzt. Diese Geschwindigkeitsüberschreitung fand am 06.07.2010 gegen 15.00 Uhr auf dem M. in H., Fahrtrichtung C., Höhe Kilometer 2,1 in der Gemarkung H. statt. Wegen dieser Tat ist der Betroffene bereits von der Fahrerlaubnisbehörde zur Teilnahme an einer Nachschulung aufgefordert worden.“

Das Amtsgericht hat zur Tat die folgenden Feststellungen getroffen:

„Am 06.07.2010 fuhr der Betroffene mit dem PKW VW amtliches Kennzeichen … von H. nach G. Zuvor wollte er mit seinem Cousin von G. nach H. zu dem dortigen Konsulat fahren. Auf halber Strecke bemerkten sie das Fehlen wichtiger Unterlagen und kehrten zunächst nach G. zurück. Als sie nunmehr beim Konsulat in H. ankamen, war das Konsulat schon geschlossen. Verärgert über diese Fehlplanung traten sie dann den Heimweg über den M. und die Autobahn A 2 an. Auf dem M. überschritt der Betroffene gegen 15.00 Uhr zunächst die dort durch Verkehrszeichen 274 angeordnete Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften um vorwerfbare 34 km/h. Wegen dieser Tat erhielt der Betroffene einen Bußgeldbescheid, der nach Einspruchseinlegung durch das Amtsgericht Hannover durch die unter I. dargestellte Entscheidung bestätigt worden ist.

Im weiteren Verlauf der Fahrt verließ der Betroffene sodann den M. und befuhr mit dem vorstehend bezeichneten PKW sodann die Bundesautobahn 2 in Fahrtrichtung B. Auf diesem Streckenabschnitt ist die Geschwindigkeit nunmehr mittels die Autobahn überspannenden Verkehrsbeeinflussungsanlagen mit 3-facher Anzeige auf 100 km/h beschränkt. Der Betroffene überschritt sodann gegen 15.02 Uhr in dem Bereich ca. 800 km vor dem Autobahnkreuz H.-Ost erneut die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um vorwerfbare 50 km/h.“

Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung materiellen und formellen Rechtes rügt. Er erstrebt die Einstellung des Verfahrens wegen des Vorliegens eines Verfahrenshindernisses.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und das Verfahren gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 206 a Abs. 1 StPO einzustellen.

II.

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

Das vorliegende Verfahren war – unter klarstellender Aufhebung des angefochtenen Urteils – durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. §§ 354 Abs. 1, 206 a StPO einzustellen, weil die auch in der Rechtsbeschwerdeinstanz von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen ergeben hat, dass der Verfolgung der dem Betroffenen in diesem Verfahren zur Last gelegten Tat ein Verfahrenshindernis entgegensteht.

1.

Das Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 01.02.2011 entfaltet nach dem Grundsatz aus Art. 103 Abs. 3 GG eine Sperrwirkung, welche die Verfolgung des dem Betroffenen in diesem Verfahren zur Last gelegten Tatvorwurfes ausschließt. Die den Gegenstand des vorliegenden Bußgeldverfahrens bildende Tat ist im verfahrensrechtlichen Sinn identisch mit der Tat, die dem Betroffenen mit dem Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 01.02.2011 wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zur Last gelegt worden ist und wegen der gegen den Betroffenen – rechtskräftig – eine Geldbuße von 120 € festgesetzt worden ist.

Die – unzulässigerweise – in zwei gesonderten Bußgeldverfahren verfolgten Verkehrsverstöße stellen sich verfahrensrechtlich als eine Tat i. S. des § 264 StPO dar.

a)

Der Begriff der Tat im gerichtlichen Verfahren in Bußgeldsachen deckt sich mit dem für das Strafverfahren maßgeblichen Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG (vgl. BayObLGSt 1974, 58 f.; 2001, 134 f. -juris). Er bezeichnet ein konkretes Geschehen, das einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang bildet und Merkmale enthält, die es von denkbaren anderen ähnlichen oder gleichartigen Vorkommnissen unterscheidet und umfasst das gesamte Verhalten des Täters, soweit dieses nach der natürlichen Auffassung des Lebens eine Einheit bildet (vgl. BayObLGSt 2001, 134 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 09.06.2009 – 5 Ss OWi 297/09 -; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 264 Rdnr. 2, 2 a). Mehrere Handlungen, die in materiell-rechtlicher Hinsicht zueinander in Tateinheit gemäß § 19 OWiG stehen, bilden auch prozessual eine Tat i. S. des § 264 StPO. Allerdings können auch mehrere, materiell-rechtlich tatmehrheitlich begangene Handlungen als eine Tat i. S. des § 264 StPO anzusehen sein, wenn die einzelnen Handlungen nach dem Ereignisablauf zeitlich, räumlich und innerlich so miteinander verknüpft sind, dass sich ihre getrennte Würdigung und Ahndung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges darstellen würde (vgl. OLG Hamm a. a. O.; BayObLGSt 2001, 134 f.; BVerfGE 45, 434 f.; BGHSt 23, 141 f.; Meyer-Goßner a. a. O. § 264 Rdnr. 3; Göhler OWiG, 15. Aufl. vor § 59 Rdnr. 50, 50 a, 50 b; OLG Düsseldorf VRS 67, 129, 130; OLG Hamburg VRS 27, 144 ff.).

b)

Nach herrschender Auffassung in Literatur und Rechtsprechung handelt es sich bei mehreren im Verlaufe einer Fahrt begangenen Verkehrsverstößen eines Kraftfahrzeugführers im Regelfall um mehrere Taten im materiellen und prozessualen Sinne (vgl. OLG Hamm VRS 111, 366 f.; OLG Brandenburg NZV 2006, 109; BayObLG NZV 1995, 407; OLG Köln NZW 1994, 292; OLG Düsseldorf NZV 2001, 273; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 24 StVG Rdnr. 58, 59 a; Göhler a. a. O., vor § 19 Rdnr. 10). Eine einzige Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit und damit auch im prozessualen Sinne nach § 264 StPO kann ausnahmsweise dann vorliegen, wenn die einzelnen Verkehrsverstöße einen derart unmittelbaren zeitlich-räumlichen und inneren Zusammenhang aufweisen, dass sich der Lebensvorgang als solcher bei natürlicher Betrachtung auch für einen unbeteiligten Dritten als einheitliches zusammengehöriges Tun darstellt (vgl. OLG Hamm a. a. O.; OLG Brandenburg a. a. O.; OLG Düsseldorf a. a. O. und OLG Köln a. a. O.).

c)

Ein wichtiges Kriterium für die Verneinung oder Bejahung eines einheitlichen Tatgeschehens ist der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Handlungen (vgl. Göhler a. a. O. vor § 59 Rdnr. 50 b; Senat, Beschluss vom 07.02.2011 – 322 SsBs 354/10 -) als auch die Frage, ob beide Verkehrsverstöße in subjektiver Hinsicht auf der gleichen Willensrichtung des Betroffenen beruhen (vgl. Senat a. a. O.). Entscheidend für die Beurteilung, ob eine einheitliche Tat vorliegt, sind jedoch jeweils die Umstände des Einzelfalles.

In Ansehung der vorgenannten Kriterien bilden die beiden den Betroffenen zur Last gelegten Verkehrsverstöße eine einzige Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit.

Den Feststellungen ist zu entnehmen, dass der Betroffene am 06.07.2010 die dem – rechtskräftigen – Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 01.02.2011 zugrundeliegende Tat um 15:00 Uhr und die dem angefochtenen Urteil zugrundeliegende Tat um 15:02 Uhr beging. Da die Tatzeiten nur nach Minuten und nicht – zusätzlich – nach Sekunden festgestellt worden sind, beträgt der Zeitraum zwischen beiden Verkehrsverstößen maximal 120 Sekunden und minimal 62 Sekunden, wobei zugunsten des Betroffenen von letzterem auszugehen ist. Es besteht somit zwischen den Verkehrsverstößen ein äußerst enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang. Darüber sind beide Verkehrsverstöße auch in subjektiver Hinsicht miteinander verbunden, denn beide begangenen Verstöße beruhen ersichtlich auf dem Willen des Betroffenen, die vor ihm liegende Fahrtstrecke möglichst schnell zu durchfahren. Der zwischenzeitlichen Veränderung der Verkehrssituation kommt in diesem Fall angesichts des äußerst engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs und des verbindenden subjektiven Elementes keine durchgreifende Bedeutung zu.

2.

Das angefochtene Urteil war aufgrund des im vorliegenden Verfahren bestehenden Verfahrenshindernisses zur Klarstellung aufzuheben und das Verfahren gemäß § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. §§ 354 Abs. 1, 206 a Abs. 1 StPO einzustellen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG. Der Senat hat keine Veranlassung gesehen, nach § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO davon abzusehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Landeskasse aufzuerlegen.

 

 

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