Untersuchung eines Geschwindigkeitsverstoßes: Rechtliche und tatsächliche Komplexitäten
In diesem Fall dreht sich alles um eine Geschwindigkeitsüberschreitung, bei der das Amtsgericht Tiergarten ein Urteil traf, welches später vom KG Berlin aufgehoben wurde. Der Betroffene wurde ursprünglich wegen einer Überschreitung von 38 km/h über dem erlaubten Limit mit einer Geldbuße von 260 Euro und einem einmonatigen Fahrverbot bestraft. Das Amtsgericht Tiergarten jedoch sah nur eine Überschreitung von 25 km/h als erwiesen an und verhängte eine Geldbuße von 100 Euro, verzichtete jedoch auf ein Fahrverbot.
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✔ Das Wichtigste in Kürze
- Das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten wurde aufgrund von Widersprüchen und Unklarheiten aufgehoben.
- Es gab keine klare Darstellung der Messmethoden und der Messstrecke zur Geschwindigkeitsüberschreitung.
- Das Gericht hat nicht ausreichend dargelegt, warum eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 25 km/h als vorwerfbar, jedoch eine darüber hinausgehende Überschreitung als nicht vorwerfbar angesehen wurde.
- Es wurde argumentiert, dass dichtes Auffahren eines Polizeifahrzeugs den Betroffenen möglicherweise zu einer Geschwindigkeitsüberschreitung veranlasst haben könnte, jedoch wurde dies nicht ausreichend diskutiert oder begründet.
- Die Beweiswürdigung und die Feststellungen des Gerichts stehen im Widerspruch zu den erhobenen Beweisen.
- Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.
Übersicht
- 1 Untersuchung eines Geschwindigkeitsverstoßes: Rechtliche und tatsächliche Komplexitäten
- 1.1 ✔ Das Wichtigste in Kürze
- 1.2 Beweisführung und Messmethoden
- 1.3 Widersprüchliche Befunde
- 1.4 Rechtliche Bewertung und subjektive Aspekte
- 1.5 Konsequenzen und Überprüfung
- 1.6 Unklarheiten im Verkehrsrecht? Finden Sie Klarheit!
- 1.7 ✔ Standardisiertes Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitung – kurz erklärt
- 2 Das vorliegende Urteil
Beweisführung und Messmethoden

Die Beweisführung und die Auswahl der Geschwindigkeitsmessung sind zentrale Elemente in diesem Fall. Das Amtsgericht machte keine präzisen Angaben zur Messstrecke und zum angewandten Messverfahren, und es wurde nicht klar, ob ein standardisiertes Messverfahren zum Einsatz kam. Die fehlenden Details und die Unklarheit über das verwendete Messverfahren lassen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Beweisgewinnung und der Bewertung der Beweise aufkommen.
Widersprüchliche Befunde
Es besteht eine Diskrepanz zwischen den Feststellungen des Amtsgerichts und den vorgelegten Beweisen. Während das Gericht eine Überschreitung von 25 km/h feststellte, weisen die Beweise darauf hin, dass der Betroffene weiter beschleunigt hat. Diese Widersprüche und die unzureichende Darlegung der tatsächlichen Geschwindigkeit des Betroffenen beeinträchtigen die Überprüfbarkeit des Urteils durch das Rechtsbeschwerdegericht.
Rechtliche Bewertung und subjektive Aspekte
Die rechtliche Bewertung des Amtsgerichts und die Berücksichtigung subjektiver Aspekte sind ebenfalls kritisch zu betrachten. Das Gericht scheint zu implizieren, dass der Betroffene sich durch das dichte Auffahren eines Polizeifahrzeugs bedrängt gefühlt haben könnte, was jedoch nicht ausreichend erläutert und diskutiert wurde. Die unklare Darstellung der subjektiven Elemente und der Mangel an konkreten Umständen erschweren das Verständnis der rechtlichen Einordnung des Falls.
Konsequenzen und Überprüfung
Aufgrund der aufgeführten Mängel wurde das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen. Die unklaren und widersprüchlichen Feststellungen, die unzureichende Bewertung der Beweise und die mangelnde Diskussion subjektiver Elemente erfordern eine Überprüfung des Falls, um eine gerechte und nachvollziehbare Entscheidung herbeizuführen.
KG Berlin – Az.: 3 ORbs 158/23 – 122 Ss 71/23 – Beschluss vom 02.08.2023
Unklarheiten im Verkehrsrecht? Finden Sie Klarheit!
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✔ Standardisiertes Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitung – kurz erklärt
Ein standardisiertes Messverfahren zur Geschwindigkeitsüberschreitung ist ein durch Normen vereinheitlichtes Verfahren, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf derart festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind. Diese Messverfahren sind amtlich zugelassen und dienen der Objektivierung von Messergebnissen und dem Nachweis von Rechtsverstößen, insbesondere bei Geschwindigkeitsüberschreitungen. Es gibt verschiedene Methoden und Geräte zur Messung von Geschwindigkeitsüberschreitungen, wie z.B. das Gerät M5 Speed der Firma VDS Verkehrstechnik GmbH.
Die technischen Anforderungen an die Messverfahren sind streng, und die Messungen müssen nach bestimmten Standards durchgeführt werden, um als Beweismittel in rechtlichen Verfahren anerkannt zu werden. Bei Verkehrsordnungswidrigkeiten, insbesondere den Geschwindigkeitsüberschreitungen, taucht immer wieder der Begriff „standardisiertes Messverfahren“ auf.
Einige der standardisierten Messverfahren sind durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) oder durch ein Konformitätsverfahren seit dem 1.1.2015 geprüft und zugelassen worden. Diese Verfahren sind rechtlich anerkannt und werden von den Gerichten als zuverlässig betrachtet.
Es ist wichtig, dass die Messverfahren korrekt angewendet werden, um zuverlässige und rechtlich haltbare Ergebnisse zu erzielen. Bei Fehlern in der Anwendung der Messverfahren können die Ergebnisse angefochten werden.
Das vorliegende Urteil
Leitsatz
1. Es gibt keinen Rechtssatz, ein dichtes Auffahren durch das nachfolgende Fahrzeug rechtfertige oder entschuldige eine Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.
2. Hält das Tatgericht eine Geschwindigkeitsüberschreitung gleichwohl für „nicht vorwerfbar“, so hat es die konkreten Umstände in tatsächlicher Hinsicht in einer Weise darzustellen, die den inneren Zusammenhang zwischen dem dichten Auffahren und der Geschwindigkeitsüberschreitung erkennen lässt.
3. Zeigt das Urteil nicht auf, dass eine Geschwindigkeitsüberschreitung durch ein standardisiertes Messverfahren festgestellt worden ist, so müssen den Gründen die Einzelheiten der Messung in einer Weise zu entnehmen sein, die es dem Rechtsbeschwerdegericht ermöglicht, die Zuverlässigkeit der Beweisgewinnung nachzuvollziehen.
4. Die Beweiswürdigung kann in diesem Fall die Vereinfachungen, die für standardisierte Messverfahren gelten, nicht beanspruchen.
Auf die Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft Berlin wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 16. März 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
Die Polizei Berlin hat mit Bußgeldbescheid vom 26. Juli 2022 gegen den Betroffenen wegen einer innerörtlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 38 km/h (erlaubt: 50 km/h) eine Geldbuße von 260 Euro verhängt und auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 BKatV ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Zugleich ist bestimmt worden, dass das Fahrverbot nach § 25 Abs. 2a StVG wirksam werden soll.
Das Amtsgericht Tiergarten hat ausweislich der Feststellungen nur eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 25 km/ für erwiesen angesehen. In der Beweiswürdigung heißt es insoweit:
„Auf dem Tatvideo ist zu erkennen, dass der Betroffene zunächst gleichbleibend mit einer Geschwindigkeit von etwa 75 Stundenkilometern auf der äußerst rechten Fahrspur fährt, als ein in der mittleren Fahrspur fahrendes Kleinfahrzeug in dem Moment in die rechte Fahrspur wechseln wollte, als sich der Betroffene mit seinem Fahrzeug auf Höhe dieses Fahrzeugs befand, musste das Kleinfahrzeug ruckartig in die mittlere Fahrspur zurücklenken und der Betroffene sein Fahrzeug kurz abbremsen. Dabei ist zu erkennen, dass das messende Polizeifahrzeug so dicht auf den vom Betroffenen geführten PKW auffährt, dass zwar noch das Kennzeichen zu erkennen ist, nicht jedoch der untere hintere Karosserieabschluss des Fahrzeugs des Betroffenen. Nach einem Abbremsen beschleunigte der Betroffene dann das Fahrzeug und fährt über die mittlere in die äußerst linke Fahrspur ein, wobei er das Fahrzeug stark beschleunigt. Ebenfalls ist auf dem Tatvideo zu erkennen, dass die Beschleunigung vom Messwert 1.540 bis 1.600 Meter andauert und der Betroffene sodann die von ihm gefahrene Geschwindigkeit verringert, ohne das Fahrzeug abzubremsen. Während des Spurwechsels von der äußerst rechten in die äußerst linke Fahrspur und eine kurze Fahrtstrecke auf der äußerst linken Fahrspur verringert sich der Abstand des hinterherfahrenden Fahrzeugs nicht. Erst als der Betroffene das Fahrzeug ohne Abbremsung des Fahrzeugs die Geschwindigkeit verringert und schließlich in die äußerste rechte Fahrbahn wechselt, wird der Abstand zum Polizeifahrzeug deutlich größer.“
Das Amtsgericht hat den Betroffenen zu einer Geldbuße von 100 Euro verurteilt. Ein Fahrverbot ist nicht verhängt worden. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft Berlin, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Die Feststellungen des angefochtenen Urteils enthalten keinerlei Ausführungen zur inneren Tatseite. Ob sich dies im hier gegebenen Fall einer innerorts fahrlässig begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung bereits als durchgreifender und zur Aufhebung des Urteils führender Rechtsfehler erweist, kann offenbleiben. Denn auch die Beweiswürdigung ist unzureichend.
2. So stehen die Feststellungen im Widerspruch zu den erhobenen Beweisen. Während es bei den Feststellungen heißt, der Betroffene habe die zulässige Geschwindigkeit „um 25 Stundenkilometer“ überschritten, heißt es bei der Beweiswürdigung, der Betroffene habe, ausgehend von einer Geschwindigkeit von 75 km/h, noch „weiter beschleunigt“ (UA S. 3). Bei den Feststellungen, jedenfalls aber bei der Beweiswürdigung, müsste sich somit der über 75 km/h liegende Wert finden, den das Amtsgericht für objektiv erwiesen erachtet. Dies gilt auch für den Fall, dass das Amtsgericht diesen Wert für „nicht vorwerfbar“ (UA S. 4) hält. Denn nur, wenn die vom Betroffenen tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit mitgeteilt wird, kann das Rechtsbeschwerdegericht die Würdigung des Tatrichters überprüfen, ob der Wert auch „vorwerfbar“ ist.
3. Auch bleibt gänzlich unklar, auf welcher Grundlage das Amtsgericht zum Ergebnis gekommen ist, dass der Betroffene die zulässige Geschwindigkeit um – nur – 25 km/h überschritten hat. Aus der Beweiswürdigung ergibt sich, dass der Betroffene von einem Polizeifahrzeug verfolgt worden ist; offenbar ist die Geschwindigkeit also durch Nachfahren bestimmt worden.
a) Das Amtsgericht teilt nicht mit und nimmt für seine schriftlichen Urteilsgründe damit nicht in Anspruch, dass die Geschwindigkeit durch ein zugelassenes und geeichtes Messgerät bestimmt worden ist. Dem Urteil ist weder die Bezeichnung eines bestimmten Messverfahrens zu entnehmen noch die Veranschlagung eines bei diesem Messverfahren angezeigten Toleranzabzugs. Die Beweiswürdigung kann damit auch die Vereinfachungen, die für standardisierte Messverfahren gelten (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2023 – 2 BvR 1167/20 – [juris]), nicht beanspruchen. Die Beweise müssen somit in einer Weise dargelegt und gewürdigt werden, die es dem Rechtsbeschwerdegericht erlaubt, die Überzeugungsbildung des Tatgerichts nachvollziehen (vgl. Senat DAR 2015, 99). Dies ist hier nicht geschehen.
b) Die Beweiswürdigung enthält schon keine Angaben zur Messstrecke. Zwar ist der rechtlichen Würdigung zu entnehmen, dass es eine „Gesamtmessstrecke von ca. 1.600 Metern“ (UA S. 4) gegeben habe. Allerdings enthält das Urteil keine konsistenten Angaben zu dem vom verfolgenden Polizeifahrzeug während des gesamten Messvorgangs eingehaltenen Abstand (vgl. zum sog. Verfolgungsabstand grundlegend Senat DAR 2015, 99). Die Beweiswürdigung enthält lediglich eine kurze Sequenz dazu, dass das Polizeifahrzeug einmal dicht aufgefahren sei und dass sich der Abstand später „nicht verringert“ habe (UA S. 3). Zur Höhe des festgestellten Bruttowerts, also dem auf dem Tachometer des Polizeifahrzeugs abgelesenen Wert, verhält sich das Urteil ebenso wenig wie zum abgezogenen Toleranzwert. Auch verschweigt das Urteil, ob der Tacho des verfolgenden Fahrzeugs geeicht war, was in aller Regel von Bedeutung für den zu veranschlagenden Toleranzabzug ist. Die Anforderungen an einen durch Nachfahren gewonnen Nachweis der Geschwindigkeit verfehlt das Urteil damit auf ganzer Linie.
4. Fehl geht auch die im Rahmen der rechtlichen Würdigung dargestellte Überlegung, eine – möglicherweise tatsächlich festgestellte, aber im Urteil nicht belegte – Geschwindigkeitsüberschreitung von 38 km/h sei dem Betroffenen „nicht vorzuwerfen“, weil „diese lediglich über eine Geschwindigkeit [gemeint offenbar: Strecke] von nicht einmal 200 Metern bei einer Gesamtmessstrecke von ca. 1600 Metern andauerte“ und der Betroffene sich bedrängt gefühlt habe (UA S. 5). Möchte das Amtsgericht hier andeuten, der Betroffene sei mit der erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung um 38 km/h wegen dichten Auffahrens des nachfolgenden Polizeifahrzeugs gerechtfertigt oder entschuldigt, so hat es nicht nur das äußere Geschehen aufzuklären und darzustellen, sondern auch die subjektive Seite mitzuteilen und zu erörtern. Denn einen Rechtssatz, eine Annäherung des nachfolgenden Fahrzeugs erlaube eine – zumal drastische – Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, gibt es nicht. Hält das Amtsgericht eine Geschwindigkeitsüberschreitung gleichwohl für „nicht vorwerfbar“, so hat es die konkreten Umstände in tatsächlicher Hinsicht darzustellen und in rechtlicher Hinsicht einzuordnen. Dies gilt umso mehr, als hier wohl die Überschreitung um 25 km/h für „vorwerfbar“ gehalten wird, nicht aber die überschießenden 13 km/h. Im Übrigen lassen weder die Feststellungen noch die Beweiswürdigung einen örtlichen, zeitlichen oder gar inneren Zusammenhang zwischen einem „dichten“ Auffahren des Polizeifahrzeugs und der erheblichen Geschwindigkeit des Betroffenen erkennen.
5. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben, und die Sache ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Informatorisch teilt der Senat mit, dass die Messung hier offenbar mit einem als standardisiert anerkannten Messverfahren (ProVida mit Auswertung durch ViDistA, vgl. Senat VRR 2022, Nr. 3 [Volltext bei juris]) vorgenommen wurde und die festgestellte Durchschnittsgeschwindigkeit über 271 Meter 88 km/h betrug. Bereits bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 40% kommt, sofern nicht besondere Umstände eine abweichende Wertung veranlassen, regelmäßig nur Vorsatz in Betracht (ständige Rspr. des Senats, vgl. zuletzt VRR 2019, Nr. 8 [Volltext bei juris] m. Anm. Krenberger, jurisPR-VerkR 2/2020 Anm. 5).