KG Berlin – Az.: 3 Ws (B) 102/17 – 162 Ss 50/17 – Beschluss vom 03.05.2017
Auf die Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft Berlin wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 3. Februar 2017 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
Der Polizeipräsident in Berlin hat mit Bußgeldbescheid vom 4. Mai 2016 gegen den aufgrund einer Geschwindigkeitsüberschreitung um 29 km/h seit 21. Oktober 2015 vorbelasteten Betroffenen wegen einer am 25. Februar 2016 innerörtlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 28 km/h eine Geldbuße von 120 Euro verhängt und auf der Grundlage von § 4 Abs. 2 BKatV ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Zugleich ist bestimmt worden, dass das Fahrverbot nach § 25 Abs. 2a StVG wirksam werden soll.
Auf seinen in zulässiger Weise auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Einspruch hat das Amtsgericht Tiergarten den Betroffenen zu einer Geldbuße von 250 Euro verurteilt. Von der Verhängung eines Fahrverbots hat es abgesehen, weil es den Betroffenen, der bei einem großen Berliner Bäckereibetrieb beschäftigt ist, außergewöhnlich hart träfe. Der Betroffene arbeite in „vorgegebenen wechselnden Dienstschichten, die seine Anreise vor 5.30 Uhr, vor 13.30 Uhr bzw. vor 21.30 Uhr“ erforderten. Jedenfalls für die Frühschicht habe der Betroffene „keine alternative Anreisemöglichkeit“, und auch für die anderen Schichten sei es ihm nicht zuzumuten, anders als mit dem Auto zur Dienststelle zu fahren: Dies würde „zwei bis zweieinhalb Stunden pro Wegstrecke, mithin ca. fünf Stunden pro Tag in Anspruch nehmen“. Eine Mitnahmemöglichkeit durch Kollegen bestehe nicht, und auch Urlaub könne er „in den nächsten Monaten nicht nehmen“. Der Betroffene habe einen befristeten Arbeitsvertrag und müsse mit seiner Kündigung rechnen, wenn er „nicht mehr in der Lage wäre, pünktlich an seiner Arbeitsstelle zu erscheinen“ (UA S. 3). Schließlich sei auch nur von leichtem Verschulden des Betroffenen auszugehen, weil „die Ordnungswidrigkeit in einem Straßenbereich begangen wurde, der sich dadurch auszeichnet, dass er im Auslaufbereich der Stadtautobahn liegt und auf der dortigen breiten zweispurigen Fahrbahn die durch Zeichen 274 angeordnete Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h leichter als üblich übersehen werden kann“ (UA S. 3). Hiergegen wendet sich die Amtsanwaltschaft Berlin mit der Rechtsbeschwerde, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat Erfolg. Die Beschwerdeführerin bemängelt zu Recht, dass das Amtsgericht kein Fahrverbot verhängt hat.
1. Zwar folgt aus § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV in der Tat nicht, dass ausnahmslos ein Fahrverbot zu verhängen wäre. Vielmehr steht dem Tatrichter ein Ermessensspielraum zu, um Verstößen im Straßenverkehr mit der im Einzelfall angemessenen Sanktion zu begegnen (vgl. BVerfG NJW 1996, 1809). Denn die Frage, ob die Würdigung der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen besondere Umstände ergibt, nach denen es der Warn- und Denkzettelfunktion eines Fahrverbots ausnahmsweise nicht bedarf, liegt grundsätzlich in seinem Verantwortungsbereich. Seine innerhalb des ihm eingeräumten Bewertungsspielraums nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen zu treffenden Wertungen können vom Rechtsbeschwerdegericht nur daraufhin überprüft werden, ob er sein Ermessen deshalb fehlerhaft ausgeübt hat, weil er die anzuwendenden Rechtsbegriffe verkannt oder die Grenzen des Ermessens durch unzulässige Erwägungen überschritten und sich nicht nach den Grundsätzen und Wertmaßstäben des Gesetzes gerichtet hat (vgl. zuletzt OLG Bamberg VRR 2017, 18 [Volltext bei juris]). Dass ein Kraftfahrer auf seine Fahrerlaubnis beruflich angewiesen ist, rechtfertigt ein Absehen von der Auferlegung eines Fahrverbotes allerdings grundsätzlich nicht (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Beschlüsse vom 22. September 2004 – 3 Ws (B) 418/04 – und 15. April 2005 – 3 Ws (B) 132/05 -). Ausnahmen davon können sich allenfalls ergeben, wenn dem Betroffenen infolge des Fahrverbots der Verlust seines Arbeitsplatzes oder seiner sonstigen wirtschaftlichen Existenz droht und dies nicht durch zumutbare Vorkehrungen vermieden werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 17. April 2002 – 3 Ws (B) 118/02 -; OLG Düsseldorf VRS 96, 228). Dabei ist nach der Einführung des § 25 Abs. 2a StVG mit der Möglichkeit, den Beginn der Wirksamkeit des Verbotes innerhalb von vier Monaten selbst zu bestimmen, ein noch strengerer Maßstab anzulegen (vgl. OLG Frankfurt DAR 2002, 82). Der Tatrichter ist gehalten, die Einlassung eines Betroffenen, mit der er eine unverhältnismäßige Härte geltend macht, einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Er muss dazu so umfassende tatsächliche Feststellungen treffen, dass dem Rechtsbeschwerdegericht eine abschließende Prüfung möglich ist.
2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die Feststellungen ermöglichen es dem Senat nicht, die tatrichterliche Bewertung nachzuvollziehen, das Fahrverbot treffe den Betroffenen außergewöhnlich hart.
Das Urteil teilt schon nicht mit, wo sich die Arbeitsstelle des Betroffenen befindet, so dass der Senat die tatrichterliche Bewertung, der in Berlin wohnende Betroffene benötige für seine in Berlin gelegene Arbeitsstätte ohne Auto Wegezeiten von „ca. fünf Stunden pro Tag“, nicht auf seine Richtigkeit überprüfen kann. Auf die Mitteilung kann hier auch nicht verzichtet werden, denn die Richtigkeit dieser Einschätzung drängt sich keinesfalls auf. Auch die tatrichterliche Feststellung, der Betroffene könne „in den nächsten Monaten“ keinen Urlaub nehmen, lässt die mit verlängerten Wegezeiten verbundene Härte nicht als außergewöhnlich erscheinen. Diese unklare Formulierung lässt schon nicht erkennen, dass es dem Betroffenen nicht möglich sein soll, vier Monate nach Rechtskraft des Urteils Urlaub zu nehmen und das Fahrverbot anzutreten. Unklar bleibt auch, ob sich die Urlaubsbeschränkung aus betrieblichen, rechtlichen, persönlichen oder sonstigen Umständen ergibt, so dass der Senat nicht nachvollziehen kann, ob sie berechtigterweise zur Grundlage der Rechtsfolgenbemessung gemacht wurde. Schließlich kann der Senat auch nicht erkennen, dass die Behauptung des Betroffenen, er könne „in den nächsten Monaten“ keinen Urlaub nehmen, durch den Tatrichter kritisch hinterfragt oder gar überprüft worden sein könnte.
3. Auch die Würdigung des Amtsgerichts, die Geschwindigkeitsüberschreitung beruhe auf „leichterem Verschulden“ (UA S. 3), trägt die Entscheidung nicht, vom Regelfahrverbot abzusehen. Zwar schildert das Urteil die Verkehrssituation nachvollziehbar so, dass auf einer breiten, mehrspurigen Straße („Auslaufbereich der Stadtautobahn“) ein restriktives Streckenverbot (30 km/h) gilt, weshalb die Geschwindigkeitsüberschreitung „leichter als üblich übersehen werden kann“. Dies allein trägt aber nicht die Bewertung merklich verringerten Handlungsunwerts. Denn das Urteil lässt nicht erkennen, dass sich der Betroffene überhaupt dahin eigelassen habe, er habe die Zeichen 274 übersehen. Auch insoweit gilt, dass auf diese Mitteilung nicht verzichtet werden konnte, denn es drängt sich keineswegs auf, dass dem Betroffenen diese Verkehrsregelung unbekannt war. Abgesehen davon, dass das zur Verminderung der Feinstaubbelastung eingerichtete Streckenverbot in der Schildhornstraße schon als örtliches Politikum einen hohen Bekanntheitsgrad hat, wohnte der Betroffene in Lichtenrade und damit in der Nähe dieser Örtlichkeit.
Da das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots somit keinen Bestand haben kann und eine Wechselwirkung zwischen der Frage der Anordnung dieser Maßregel und der Bemessung der Höhe der Geldbuße besteht, war das Urteil insgesamt aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Tiergarten zurückzuverweisen.