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Geschwindigkeitsmessung – Herausgabe sämtlicher Falldateien der Messreihe

AG Eilenburg – Az.: 8 OWi 604/20 – Beschluss vom 21.08.2020

1. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung wird als unbegründet verworfen.

2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen aufgrund des gerichtlichen Verfahrens hat der Betroffene zu tragen.

Gründe

I.

Gegen den Betroffenen wurde am 29.05.2020 ein Bußgeldbescheid der Großen Kreisstadt … wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h erlassen. Mit Schriftsatz vom 15.04.2020 hatte bereits der von Seiten des Verteidigers des Betroffenen beauftragte Sachverständige einen umfassenden Akteneinsichtsantrag gestellt, u. a. um Einsicht in die gesamten Falldateien des Messeinsatzes zu erhalten. Nachdem die Verwaltungsbehörde dem Antrag auf Übersendung der Falldateien der gesamten Messreihe nicht nachkam, hat der Verteidiger des Betroffenen mit Schreiben vom 10.06.2020 einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 62 OWiG gestellt.

II.

1. Der gemäß § 62 OWiG zulässige Antrag ist unbegründet. Dem Betroffenen steht kein genereller Anspruch auf Beiziehung und Einsichtsgewährung in nicht bei den Akten befindliche Falldatensätze zu. Ein derartiger Anspruch ergibt sich weder aus dem Akteneinsichtsrecht des Betroffenen (§ 147 StPO, § 46 OWiG) noch aus dem Gebot fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK), welches aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt (Art. 20 Abs. 3 GG).

a) Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen bezieht sich nur auf das gegen ihn geführte Verfahren, nicht hingegen auf Aktenbestandteile anderer Verfahren. Ein Anspruch auf Erweiterung des vorhandenen Aktenbestandes lässt sich aus § 147 StPO nicht herleiten (zuletzt OLG Zweibrücken, Beschl. v. 05.05.2020 – 1 OWi 2 SsBs 94/19 -, juris m. w. N.). Bei dem Antrag auf Beiziehung entsprechender Unterlagen bzw. digitaler Messdateien handelt es sich vielmehr in der Sache um einen Beweisermittlungsantrag (vgl. nur Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschl. v. 06.04.2020 – 201 ObOWi 291/20 -, juris), dem unter Zugrundelegung der unten dargelegten Gründe nicht nachzugehen ist.

b) Einen generellen Anspruch auf die Überlassung der gesamten (unverschlüsselten) Messreihe hat der Betroffene hingegen auch nicht aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens heraus (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 GG). Die Auffassung, die dies unabhängig davon, ob konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vom Betroffenen vorgetragen werden, bejaht (vgl. dahingehend OLG Dresden, Beschl. v. 11.12.2019 – OLG 23 Ss 709/19 -, BeckRS 2019, 37019; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 -, NStZ 2019, 620; LG Köln, Beschl. v. 11.10.2019 – 323 Qs 106/19 -, juris; LG Kaiserslautern, Beschl. v. 22.05.2019 – 5 Qs 51/19 -, juris), überzeugt nicht, da sie sich in ihrer Absolutheit bereits als unvereinbar mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Wesen, Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Rechtsbegriffs des standardisierten Messverfahrens erweist (grundlegend Bayerisches Oberstes Landesgericht, a. a. O.; vgl. auch OLG Zweibrücken, a. a. O.; OLG Koblenz, Beschl. v. 17.07.2018 – 1 Owi 6 SsBs 19/18 -, juris) und im Übrigen bei dem hier zum Einsatz gekommenen Messgerät ausreichend andere Plausibilisierungsmöglichkeiten anhand der eigenen Falldatei vorliegen, sodass dem Grundsatz des fairen Verfahrens nach Auffassung des Gerichts auch ohne Beiziehung sämtlicher Falldateien der Messserie ausreichend Geltung beigemessen werden kann.

aa) Eine Geschwindigkeitsmessung unter Einsatz einer Messanlage des Systems LEIVTEC XV3 ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung als standardisiertes Messverfahren anerkannt (vgl. nur OLG Köln, Beschl. v. 20.04.2018 – III-1 RBs 115/18 -; OLG Celle, Beschl. v. 28.10.2013 – 322 SsRs 280/13 -, beide juris; OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.05.2018 – 4 Rb 16 Ss 380/18). Um ein derartiges Verfahren handelt es sich, wenn die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind (vgl. BGH, Beschl. v. 19.08.1993 – 4 StR 627/92 -, juris). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, entscheidet sich durch die Zulassung des Gerätesystems und der Messmethode oder einer entsprechenden Konformitätserklärung, nachdem das Messverfahren geprüft und das Gerätesystem in Testreihen auch unter atypischen Szenarien auf seine Zuverlässigkeit und Störungsresistenz untersucht worden ist. Das vor Zulassung oder der Konformitätserklärung durchgeführte Prüfverfahren führt zu einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit, dass das geprüfte Gerätemuster innerhalb der Verkehrsfehlergrenzen zuverlässige Ergebnisse erbringt; gleiches gilt für jedes in Serie produzierte baugleiche Gerät, das von der Eichbehörde geprüft worden ist. Bei Einsatz derartiger Geräte besteht damit eine entsprechend hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass keine systemimmanenten Fehlerquellen vorliegen, und dass eine Messung bei Einhaltung der vorgesehenen Betriebsbedingungen ein innerhalb der Verkehrsfehlergrenzen zutreffendes Ergebnis geliefert hat. In Massenverfahren wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten ist diese Wahrscheinlichkeit für die richterliche Überzeugungsbildung regelmäßig ausreichend; einer Gewissheit der Geschwindigkeitsüberschreitung oder der Dokumentation ihres exakten naturwissenschaftlichen Nachweises bedarf es nicht. Der Tatrichter hat nur dann Veranlassung, die Zuverlässigkeit von Messungen zu überprüfen, die mit einem standardisierten Messverfahren gewonnen worden sind, wenn sich konkrete Tatsachen ergeben, die geeignet sind, Zweifel an der Richtigkeit des Messergebnisses zu wecken (vgl. nur BGH, a. a. O.; Bayerisches Oberstes Landesgericht, a. a. O.; OLG Koblenz, a. a. O.).

Geschwindigkeitsmessung - Herausgabe sämtlicher Falldateien der Messreihe
(Symbolfoto: Von Max4e Photo/Shutterstock.com)

Vor diesem Hintergrund kann unter Wahrung des Grundsatzes des fairen Verfahrens die Beiziehung und Auswertung der Daten einer Messreihe nur dann veranlasst sein, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich aus derartigen Daten oder ihrer sachverständigen Untersuchung Umstände ergeben, welche die Richtigkeit der verfahrensgegenständlichen Messung in Frage stellen, was hier jedoch weder vorgetragen noch ersichtlich ist. Nicht aber kann der Anspruch auf Herausgabe der Messdaten der gesamten Messreihe mit dem pauschalen Hinweis bejaht werden, dass kein Erfahrungssatz existiere, wonach auch ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefere (so aber OLG Dresden, a. a. O.; OLG Karlsruhe, a. a. O.). Dieser Hinweis ist zwar uneingeschränkt richtig, jedoch würde eine hieraus abgeleitete generelle und umfassende Akteneinsicht in sämtliche Falldateien einer Messserie die höchstrichterliche Rechtsprechung zum standardisierten Messverfahren konterkarieren. Denn dem Umstand, dass kein Erfahrungssatz dahingehend besteht, dass die gebräuchlichen Geschwindigkeitsmessgeräte unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefern, wird durch die Berücksichtigung von Messtoleranzen im Rahmen der Anerkennung eines standardisierten Messverfahrens hinreichend Rechnung getragen (BGH, a. a.O). Eine Überprüfung der Zuverlässigkeit der Messung ist deshalb folgerichtig und zwingend nur erforderlich, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind (Bayerisches Oberstes Landesgericht, a. a. O.), was hier aber nicht der Fall ist. Dies gilt umso mehr, als dass hier im Hinblick auf das Einsichtsbegehren nicht ersichtlich ist, welche Rückschlüsse auf eine fehlerhafte Bedienung des Geräts und/oder sonstige, sich von außen ergebende Messfehler ein Sachverständiger durch die Auswertung der Falldatensätze dritter Personen gewinnen könnte (so bereits OLG Zweibrücken, a. a. O.).

Der Betroffene hat nicht vorgetragen und es ist auch nicht konkret ersichtlich, dass die dem Betroffenen nicht zugänglich gemachten Informationen tatsächlich Hinweise auf ein unzuverlässiges Messergebnis enthalten können. Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt hat zum Erkenntniswert solcher, die Messungen anderer Verkehrsteilnehmer betreffenden Unterlagen u. a. wie folgt Stellung genommen (PTB, Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung, Stand: 30.03.2020, abrufbar https://oar.ptb.de/files/download/5e82fa594c93904d740037dc):

„Manche Messgeräte zur amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung speichern gewisse Daten in einer sogenannten Statistikdatei. Deren Inhalt ist zwar für den Verwender ggf. interessant, aber kann zur Überprüfung einer spezifischen Einzelmessung nichts beitragen. Gleiches gilt für die Betrachtung der gesamten Messreihe und für die Anzahl der Annullationen, selbst wenn diese gehäuft auftreten. […] Die gesamte Messreihe bringt selbst dann keine verwertbare Aussage, wenn eine Einzelmessung deutlich außerhalb des Bereiches von Geschwindigkeiten fällt, die üblicherweise am jeweiligen Messort gefahren werden. Nur weil viele nur wenig zu schnell fahren, heißt das nicht, dass nicht ab und zu jemand deutlich schneller unterwegs gewesen sein kann. Selbst solch extreme Geschwindigkeitsüberschreitungen, ob an der Referenzanlage der PTB oder bei einem geeichten Gerät zur amtlichen Verkehrsüberwachung, können keinen Zweifel an der Korrektheit der Messung wecken.“

Der Betroffene hat keine Gesichtspunkte aufgeführt, welche die Verlässlichkeit dieser Angaben der Bundesanstalt in Frage stellen würden (so auch OLG Zweibrücken, a. a. O.). Hinzu tritt, dass der Betroffene weder gegenüber der Verwaltungsbehörde noch gegenüber dem Amtsgericht erläutert hat, was er bzw. ein von ihm beauftragter Sachverständiger mit den verlangten Daten anfangen will und in welcher Hinsicht er sich aus ihnen relevante Erkenntnisse erhofft.

Nach alledem hat das Gericht keinen Anlass, an der Richtigkeit der Ausführungen der Bundesanstalt zu zweifeln und von Amts wegen eine weitere Aufklärung, etwa durch Hinzuziehung der Messdateien des gesamten Messvorgangs zu betreiben, zumal mit der Zurverfügungstellung der gesamten Messserie ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer einhergeht, weil von diesen jeweils Foto und Kennzeichen übermittelt werden, und bei unklarem Nutzen des Eingriffs auch unter Beachtung des Grundsatzes des fairen Verfahrens nicht einfach angenommen werden kann, dass die Persönlichkeitsrechte der anderen Verkehrsteilnehmer hier weniger schwer wiegen würden.

bb) Bei dem hier verwendeten Messgerät LEIVTEC XV3 bestehen zudem verhältnismäßig leicht zu handhabende und auch zugängliche Plausibilisierungsmöglichkeiten (vgl. bereits AG Eilenburg, Urt. v. 07.11.2019 – 8 OWi 956 Js 12907/19 -, juris) anhand der eigenen Falldatei, die dem Betroffenen zugänglich gemacht wurde. Denn es sind zwei Arten der Plausibilisierung ohne Rückgriff auf sämtliche in die Messwertbildung eingehende Daten möglich, nämlich durch Weg-Zeit-Berechnung und Photogrammetrie (ausführliche Beschreibung der Prüfung des Messergebnisses im Hinblick auf Plausibilität mittels dieser Methoden bei AG St. Ingbert, Urt. v. 29.10.2019 – 25 OWi 66 Js 1919/19 (2968/19) -, juris unter Bezugnahme auf LEIVTEC XV3, Geschwindigkeitsüberwachungsgerät, Beschreibung des Messverfahren, Stand 03.03.2015, S. 13 ff. und 19 ff.; vgl. auch Rehm/Dietz, Grundsätzliches zur Auswertung von Geschwindigkeitsmessungen mit einem Geschwindigkeitsüberwachungsgerät XV3 der Firma LEIVTEC Verkehrstechnik GmbH, Stand 18.01.2018, S. 9 ff., abrufbar https://www.leivtec.de/de/pdf/Rehm_Grundsaetzliches_zur_Auswertung_LEIVTEC_XV3_20180118.pdf). Es ist offenkundig, dass beide Plausibilisierungsmöglichkeiten durch Sachverständige ohne weiteren Aufwand und ohne Rückgriff auf nicht zur Verfügung stehende Algorithmen durchgeführt werden können und keiner Erstellung eines Modells, welches wohl auch nur besonders befähigte bzw. ausgebildete Sachverständige erstellen könnten, bedürfen (so bereits AG St. Ingbert, Urt. v. 29.10.2019 – 25 OWi 66 Js 1919/19 (2968/19) -, juris).

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 62 Abs. 2 Satz 2 OWiG i. V. m. § 465 Abs. 1 StPO.

3. Die Entscheidung ist gemäß § 62 Abs. 2 Satz 3 OWiG unanfechtbar.

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