AG Dortmund – Az.: 729 OWi – 265 Js 1807/22 – 117/22 – Urteil vom 22.11.2022
Der Betroffene wird auf Kosten der Staatskasse, die auch seine notwendigen Auslagen trägt, freigesprochen.
Gründe
Dem Betroffenen wurde vorgeworfen, am 12.06.2022 um 00:02 Uhr in Dortmund auf der BAB 45 in Fahrtrichtung Oberhausen km 0,777 als Führer eines Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen … des Fabrikats VW eine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen zu haben. Er habe die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften von 60 km/h um 36 km/h überschritten. Er sei nämlich mit einer festgestellten Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug) von 96 km/h gefahren.
Das Gericht hat feststellen können, dass der Betroffene tatsächlich zur genannten Tatzeit am genannten Tatort Führer des genannten Kraftfahrzeuges gewesen ist. Das Gericht hat feststellen können, dass die Tatörtlichkeit das nördliche Ende der A45 ist, die dort auf die BAB 2 mündet. Dort ist die Geschwindigkeit getrichtert von zunächst 100 km/h auf 80 km/h, auf 60 km/h. Der Betroffene kam von einer Hochzeitsfeier und befuhr zunächst die A42, die er dann auf die A45 verließ. Bei Auffahrt auf die A45 war für den Betroffenen noch keine Geschwindigkeitsbeschränkung vorhanden. Als Beifahrerin war die Ehefrau des Betroffenen in dem Fahrzeug. Das Fahrzeug wurde im Anschluss nach Eintritt in die Geschwindigkeitsbeschränkungszone der A45 durch ein Fahrzeug der Polizei Dortmund, welches durch die Polizeibeamtinnen A und B besetzt war, verfolgt, gemessen und schließlich nach Abbiegen in Fahrtrichtung Hannover auf dem Mitfahrerparkplatz an der Autobahnanschlussstelle Dortmund-Mengede angehalten. Das Gericht konnte eine ordnungsgemäße Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren ohne weiteres technisches Gerät und ohne justierten oder gar geeichten Tachometer nicht feststellen.
Der Betroffene hat den Verstoß in Abrede gestellt.
Er sei nicht zu schnell gefahren. Er schilderte die Fahrstrecke und das Anhalten durch die beiden Polizeibeamtinnen wie dargestellt.
Die Ehefrau des Betroffenen stellte auch ein zu schnelles Fahren ihres Mannes in Abrede, ohne dass sie sich an bestimmte Beschilderungen oder bestimmte Geschwindigkeiten erinnern konnte. Ihre Aussage gab zu erkennen, dass die Ehefrau des Betroffenen von dem Vorfall wenig mitbekommen hatte. Sie meinte, dass sie und ihr Mann wohl 5 Minuten auf der A45 gefahren seien, bis die Polizei sie überholt habe. Dann habe es vielleicht noch 5 Minuten bis zum Anhalten gedauert. Diese Zeiten schienen dem Gericht angesichts der gerichtsbekannten Örtlichkeit der Autobahn an dieser Stelle deutlich zu lang.
Auch der Verteidiger gab zu erkennen, dass die Länge der angegebenen Zeiträume mit den Örtlichkeiten kaum in Übereinstimmung zu bringen sei.
Das Gericht hat sich dann bemüht, die Geschwindigkeitsmessung nachzuvollziehen, ist jedoch gescheitert.
Die Zeugin A erklärte, sie sei als Fahrerin zu der Tatzeit im Einsatz gewesen, erinnere sich aber nicht an Einzelheiten der Messung. Sie erklärte zu den Umständen der Messung, dass sie die Zeugin B als Auszubildende zu der Zeit im Fahrzeug gehabt habe und sich beide entschieden hätten, nunmehr einmal eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren zu versuchen, was im Bereich der Ruhrgebiets-Autobahnen erfahrungsgemäß schwierig sei.
Auch nach Vorhalt des Akteninhaltes konnte die Zeugin keine eigenen Erinnerungen mehr zur Messung bekanntgeben. Sie erklärte vielmehr, dass sie auch nicht die von dem Gericht urkundsbeweislich verlesenen Beiblätter der Messung gefertigt habe und dementsprechend auch nicht hierfür einstehen könne. Dies habe die Auszubildende Kommissaranwärterin B getan.
Das Gericht hat nach urkundsbeweislicher Verlesung der genannten Schriftstücke zunächst das Beiblatt „Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren“ verlesen können, das eine Verfolgung mittels eines Mercedes mit dem amtlichen Kennzeichen NRW 61661 ergab. Der Tachometer sei nicht justiert gewesen. Die Messstrecke habe mindestens 1.000 Kilometer betragen, der Abstand sei bei 100 Metern etwa gleich geblieben. Die abgelesene Geschwindigkeit habe 120 km/h betragen. Hiervon sei ein Abzug von 20 % als Toleranzwert vorgenommen worden.
In den Bemerkungen des Beiblattes findet sich die Angabe:
„Der betroffene PKW fuhr gleichbleibend mit 120 km/h und fiel bereits vor KM 1,95 erste VZ 274-100, zweite VZ 274-100 bei KM 1,55 mit der genannten Geschwindigkeit auf.
Ab KM 1,3 und 1,0 dann VZ 274-80 und ab 200 m vor Verzögerung zu der Tangente A2 Hannover VZ 274-60, die er ebenfalls mit 120 km/h befuhr. Am Ende der Verzögerung verringerte der betroffene PKW erst die Geschwindigkeit.“
Weiterhin wurde ein Beiblatt „Nachfahren zur Nachtzeit“ verlesen, aus dem sich ergab, dass Schlussleuchten und Kennzeichenbeleuchtung des Fahrzeugs des Betroffenen funktionsfähig und eingeschaltet waren. Die Sichtverhältnisse seien dunkel gewesen. Es habe jedoch klare Sicht zum gemessenen Fahrzeug gegeben. Es habe keinerlei Fremdbeleuchtung gegeben. Die Umrisse des gemessenen Fahrzeuges seien klar zu erkennen gewesen. Als Bezugspunkte für eine ausreichende Schätzung des Abstandes seien Leitpfosten gewählt worden. Eine Verwechselung mit anderen Fahrzeugen sei ausgeschlossen gewesen.
Die Zeugin B gab an, sie könne sich noch an die Messung erinnern. Sie habe mittlerweile zahlreiche Messungen durch Nachfahren durchgeführt. Die Zeugin erklärte, das Fahrzeug des Betroffenen sei durch erkennbar zu schnelles Fahren bereits vor dem Geschwindigkeitsbegrenzungsbereich aufgefallen, wobei der Betroffene gleichmäßig mit der schließlich festgestellten Geschwindigkeit gefahren sei.
Die Zeugin konnte dabei nicht erklären, wie es dazu gekommen sei, dass ein mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h auf einer BAB in einem Bereich ohne Geschwindigkeitsbegrenzung fahrendes Fahrzeug der Polizei als zu schnell fahrend auffalle. Sie erklärte vielmehr, dass üblicherweise bei einer Messung durch Nachfahren ein Fahrzeug auch nur dann gemessen werde, wenn dieses so schnell fahre, dass auch eine Messung durch Nachfahren bei einer Toleranz von 20 % erfahrungsgemäß zu einem relevanten Geschwindigkeitsverstoß führe. Sie bestätigte insoweit, dass eigentlich auch bei einer Geschwindigkeit von 120 km/h als abgelesene Geschwindigkeit auf dem Tachometer in einem Geschwindigkeitsbeschränkungsbereich von 100 km/h eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren nicht stattfinde.
Insoweit war umso weniger verständlich, warum die Beamtinnen im Geschwindigkeitsbegrenzungsbereich bei angeordneter zulässiger Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h eine Messung durch Nachfahren zur Nachtzeit begannen.
Der Verteidiger konnte einen polizeilich gefertigten Beschilderungsplan vorlegen, der ebenfalls urkundsbeweislich verlesen wurde und der von der fraglichen Stelle gefertigt worden war. Hieraus ergab sich, dass in Höhe KM 1,0960 eine erstmalige beidseitige Beschilderung mit 100 km/h vorgenommen war und die erste Geschwindigkeitsreduzierung auf 80 km/h in Höhe KM 1,350, dass also 600 Meter noch eine Geschwindigkeit von 100 km/h als zulässige Höchstgeschwindigkeit galt. Im Bereich von 0,79 KM dann findet sich auf den Beschilderungsplan die Beschilderung auf 60 km/h zulässige Höchstgeschwindigkeit. Das Auftreffen durch Überführung über die A2 auf die A2 findet bei KM 0 statt. Bereits zuvor findet das Abbiegen auf die A2 in Richtung Dortmund-Mengede statt. Bereits hier hatte sich nach Angaben der Polizei und des Betroffenen bzw. seiner Ehefrau die Polizei vor das Fahrzeug des Betroffenen gesetzt.
Die Zeugin wurde sodann befragt, in welchem Bereich denn genau die beiden Beamtinnen die Geschwindigkeitsmessung vorgenommen hätten.
Die Zeugin B erklärte, gemessen worden sei die ganze Zeit zwischen dem ersten 100 KM-Schild und der verkehrsbedingten Verlangsamung des Fahrzeugs des Betroffenen bei Auffahrt auf den Abfahrtsbereich. Angesichts des dargestellten Beschilderungsplanes wäre hier tatsächlich eine Messstrecke von 1.000 Metern – wie angegeben – in dem Beiblatt durchaus möglich. Das Gericht fragte dann, ob zwischen den beiden Beamtinnen eine Kommunikation über die Festlegung der Messstrecke stattgefunden habe, etwa durch Bezeichnung von Schildern am Fahrbahnrand als Beginn und Ende der Messung. Dies konnte die Zeugin B ausschließen. Eine Kommunikation über die Messung zu Messanfang und Messende habe nicht stattgefunden. Beide Beamtinnen hätten jeweils selbständig für sich gemessen. Die Zeugin B bestätigte, dass sie die beiden verlesenen Beiblätter unterschrieben habe. Sie nahm jedoch für sich in Anspruch, dass ihre Kollegin diese Beiblätter ausgefüllt habe. Insoweit waren die Zeugenaussagen der beiden Polizeibeamtinnen offenbar und unauflösbar widersprüchlich.
Angesichts fehlender plausibler Erklärungen zum Beginn und Anlass und Durchführung der Messung erschienen dem Gericht die sonstigen Feststellungen zur Messung durch Nachfahren nicht ausreichend belastbar für einen Schuldspruch.
Dies gilt umso mehr, als das Fahrzeug der Polizei im Bereich der Abfahrt das Fahrzeug des Betroffenen noch eingeholt und überholt hatte, so dass von der eigentlichen Messstrecke beginnend mit dem ersten 100 km/h-Schild bis zur Autobahnabfahrt eine weitere Strecke abzuziehen wäre. Schließlich waren sich die beiden Beamtinnen aus Sicht des Gerichtes nicht der Problematik einer möglichen Überforderung der Wahrnehmung bewusst. Dem Gericht ist nicht plausibel, wie einerseits eine zuverlässige Messstrecke von 1.000 Metern, andrerseits der gleichbleibende Abstand des Fahrzeuges und schließlich eine durchgehende Tachometerbeobachtung durch beide Zeuginnen sichergestellt werden konnte, ohne jegliche Kommunikation der Beamtinnen untereinander. Bei einer durchgehenden Tachometerbeobachtung sowohl durch die Beifahrerin als auch die Fahrerin wären eine durchgehende Beobachtung des Fahrzeugs des Betroffenen, eine durchgehende Kontrolle des gleichbleibenden Abstandes des Polizeifahrzeuges und schließlich eine gleichzeitige Feststellung der Messstrecke nach menschlichem Ermessen nicht möglich. Schließlich fand die Messung auch zur Nachtzeit statt.
Die Zeugin B erklärte hierzu, dass gleichwohl entsprechend der Feststellungen in dem verlesenen Beiblatt Fahrzeugumrisse ebenso erkennbar gewesen seien, wie auch die Rücklichter des Fahrzeugs des Betroffenen. Die Abstandstrecke sei gut erkennbar gewesen und auch die Leitpfosten, anhand derer die Abstandstrecke nachvollzogen hätte werden können. Die Zeugin B erklärte jedoch auch, dass keinerlei Umgebungsbeleuchtung feststellbar vorhanden gewesen sei. Sie erklärte aber, dass man gleichwohl die Fahrzeugumrisse habe sehen können. Ansonsten hätte die Polizei auch nicht gemessen. Dem Gericht schien diese Angabe zirkelschlüssig.
Fehlende Umgebungsbeleuchtung konnte das Gericht nämlich auch im Rahmen der Verlesung des Beiblattes feststellen. Insoweit konnte eine Sichtbarkeit der Konturen des gemessenen Fahrzeugs des Betroffenen für die Polizei für das Gericht überhaupt nicht plausibel erklärbar festgestellt werden. Zur Nachtzeit und ohne Umgebungsbeleuchtung kann ohne weitere Beleuchtungsquellen, die die Fahrzeugkonturen eines Fahrzeuges aufhellen, anerkanntermaßen nicht davon ausgegangen werden, dass Fahrzeugkonturen eines gemessenen 100 m entfernten Fahrzeugs erkennbar sind. Die bloße Erkennbarkeit von Rücklichtern reicht nicht aus, um zuverlässig eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren zur Nachtzeit durchführen zu können.
Folgerichtig musste es zu einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen kommen mit der Kostenfolge der §§ 467 StPO, 46 OWiG.