OLG Köln – Az.: III-1 RBs 254/21 – Beschluss vom 03.12.2021
In der Bußgeldsache wegen Verkehrsordnungswidrigkeit hat der 1. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Köln auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Gummersbach vom 9. Juni 2021 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft am 3. Dezember 2021 beschlossen:
I. Die Sache wird durch den Rechtsunterzeichner als Einzelrichter dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.
II. Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben. In diesem Umfang wird die Sache zu erneuter Behandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Gummersbach zurückverwiesen.
Gründe
A.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen mit der angefochtenen Entscheidung wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (scil.: innerhalb geschlossener Ortschaften) zu der Geldbuße von 185,– € verurteilt und ihm – mit Gestaltungsmöglichkeit gemäß § 25 Abs. 2a StVG – für einen Monat verboten, Kraftfahrzeuge jeder Art im öffentlichen Straßenverkehr zu führen.
Zum Tatgeschehen hat das Amtsgericht festgestellt, dass der Betroffene am 20. Oktober 2020 gegen 0:45 Uhr in A die innerorts gelegene Kölner Straße über eine Strecke von 1.200 m mit einer vorwerfbaren Geschwindigkeit von 84 km/h befuhr. Die Überzeugung von diesem Verstoß hat sich das Tatgericht auf der Grundlage der Angaben von drei polizeilichen Zeugen verschafft, die dem von dem Betroffenen geführten Fahrzeug mit einem zivilen Fahrzeug über die genannte Strecke in einem Abstand von 60-70 m gefolgt sind und währenddessen von dem nicht justierten Tachometer eine gleichbleibende Geschwindigkeit von 105 km/h abgelesen haben. Die vorwerfbare Geschwindigkeit von 84 km/h hat das Tatgericht sodann im Wege eines Toleranzabzugs von 20% ermittelt.
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen rügt die Verletzung materiellen Rechts.
B.
I. Die Sache war durch den Rechtsunterzeichner als Einzelrichter gemäß § 80a Abs. 3 S. 1 OWiG dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern zu übertragen, weil es geboten ist, das angefochtene Urteil zur Fortbildung des Rechts nachzuprüfen.
II. Die gemäß § 79 Abs. 1 Ziff. 2 OWiG statthafte, Zulässigkeitsbedenken nicht unterliegende Rechtsbeschwerde erzielt den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg.
1. Dass der Betroffene die innerorts höchstzulässige Geschwindigkeit überschritten hat, steht aufgrund rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung fest. Die hiergegen geführten Angriffe der Rechtsbeschwerde gehen aus den von der Generalstaatsanwaltschaft zutreffend dargelegten Gründen fehl. Dass – wie nachfolgend darzulegen sein wird – möglicherweise von einem geringeren als vom Tatgericht angenommenen Schuldumfang auszugehen ist, berührt den Schuldspruch nicht (SenE v. 13.02.2009 – 83 Ss-OWi 15/09). Soweit sich das Rechtsmittel daher gegen diesen richtet, ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
2. Die Urteilsgründe belegen demgegenüber nicht, dass die Rechtsfolgenbemessung in jeder Hinsicht auf rechtsfehlerfreien Erwägungen beruht (§ 337 StPO). Das hat Bedeutung namentlich für die Anordnung des Fahrverbots.
a) aa) Das Tatgericht hat von der abgelesenen Geschwindigkeit einen Toleranzabzug von 20% (= 21 km/h) vorgenommen und ist so zu der vorwerfbaren Geschwindigkeit von 84 km/h gelangt. Im Falle der Geschwindigkeitsermittlung durch Nachfahren in einem Polizeifahrzeug mit nicht justiertem Tachometer entspricht dieser Toleranzabzug der Rechtsprechung der meisten Oberlandesgerichte, die sich zu dieser Frage bislang geäußert haben (angegeben ist jeweils die jüngste zugängliche Entscheidung: KG B. v. 23.03.2019 – 3 Ws (B) 278/19 – 122/19 = VRS 137, 81; OLG Rostock B. v. 28.03.2007 – 2 Ss (OWi) 311/06 I 171/06 = VRS 113, 309; OLG Celle B. v. 25.08.2005 – 222 Ss 196/05 (OWi) – Juris; OLG Hamm B. v. 07.02.2013 – III-1 RBs 5/13 – Juris; OLG Schleswig B. v. 25.07.2003 – 1 Ss OWi 66/03 (42/03) = SchlHA 2004, 265; OLG Jena B. v. 26.05.2009 – 1 Ss 124/09 = VRS 117, 348; BayObLG B. v. 07.05.1999 – 2 ObOWi 198/99 – Juris; s. a. OLG Bamberg B. v. 04.02.2010 – 2 Ss OWi 77/10 = DAR 2010, 278; OLG Frankfurt B. v. 10.10.2001 – 2 Ws (B) 366/01 OWiG = NStZ 2001, 19).
bb) In seiner bisherigen Rechtsprechung ist der Senat demgegenüber davon ausgegangen, dass den möglichen Fehlerquellen im Falle einer Geschwindigkeitsermittlung durch Nachfahren in einem Polizeifahrzeug mit nicht justierten Tachometer regelmäßig dadurch begegnet werden kann, dass vom Skalenendwert des Tachometers ein Abzug von 7% und ein weiterer Abzug von 12% von der abgelesenen Geschwindigkeit vorgenommen wird (grundlegend: Senat B. v. 18.12.1990 – Ss 554/90 (Z) = NZV 1991, 202 = VRS 80, 467 = DAR 1991, 193 – seither st. Rspr.). Hintergrund des ersten Abzugs war der Umstand, dass nach der seinerzeitigen Fassung von § 57 Abs. 1 StVZO die Anzeige des Tachometers in den letzten beiden Dritteln des Anzeigebereichs einen Vorauf von 7% des Skalenendwerts aufweisen durfte und davon auszugehen war, dass die verwendeten Tachometer im allgemeinen keinen höheren Vorlauf aufwiesen. Mit diesem Abzug war daher möglichen Eigenfehlern der Tachometeranzeige Rechnung getragen. Der Senat hat allerdings – ohne dass es jeweils entscheidungstragend hierauf angekommen wäre – bereits in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass gemäß § 57 Abs. 2 S. 2 StVZO n. F. die zulässige Voreilung abweichend hiervon zu bestimmen ist (z. B. Senat v. 19.09.2008 – 82 Ss-OWi 67/08 = DAR 2008, 654).
Der Abzug von 12% der abgelesenen Geschwindigkeit diente dem Ausgleich weiterer Fehlerquellen, wie Ablesefehlern sowie solchen Fehlern, die aus Abstandsveränderungen und/oder der Beschaffenheit des Fahrzeugs resultierten. Dieser beinhaltet einen Abzug von jeweils 3 % für mögliche Ablesefehler und Fehler durch Abstandsveränderungen (vgl. SenE v. 13.11.2009 – 85 Ss-OWi 8/09; Senat VRS 80, 467 = DAR 1991, 193 = NZV 1991, 202). Er konnte daher im Einzelfall auf bis zu 6% reduziert werden, wenn Ablesefehler oder Fehler durch Abstandsveränderungen ausgeschlossen werden konnten, indem etwa der nächst niedrigere, durch einen Teilstrich gekennzeichneten Tachowert in Ansatz gebracht wurde und/oder sichergestellt war, dass sich der Abstand des Polizeifahrzeugs zum vorausfahrenden Fahrzeugs während des Messvorgangs vergrößerte (SenE v. 13.11.2009 – 85 Ss-OWi 8/09; SenE v. 20.10.2020 – III-1 RBs 290/20). Hierher dürfte auch die Ausstattung des Polizeifahrzeugs mit einer digitalen Tachometeranzeige rechnen, besteht doch bei dieser die durch den Ausschlag der Tachometernadel und den Winkel des auf diese gerichteten Blicks bewirkte Ableseunsicherheit nicht.
Feststellungen zum Skalenendwert des in dem nachfahrenden Fahrzeug verbauten Tachometers hat das Tatgericht – aus seiner Sicht konsequent – nicht getroffen, die Höhe des Toleranzabzugs nach der bisherigen Senatsrechtsprechung kann daher nicht sicher angegeben werden. Geht man beispielhaft von einem Skalenendwert von 260 km/h aus, errechnet sich ein maximaler Toleranzabzug von ([260 km/h x 7% = 18,2 km/h] + [105 km/h x 12% = 12,6 km/h] =) 30,8 km/h und damit eine vorwerfbare Geschwindigkeit von jedenfalls 74 km/h.
b) Wenngleich die Bemessung des Sicherheitsabzugs Tat- und nicht Rechtsfrage ist, so können die Rechtsbeschwerdegerichte doch Richtwerte aufzeigen, die im Interesse der Gleichbehandlung aller Fälle in der Regel von den Tatgerichten zu beachten sind, wenn nicht die besonderen Umstände des konkreten Falles eine andere Beurteilung vertretbar erscheinen lassen (SenE v. 23.08.2016 – III-1 RBs 245/16 m. N.). Dies berücksichtigend hält der Senat nach erneuter Überprüfung an seiner bisherigen Rechtsprechung nicht mehr uneingeschränkt fest:
aa) § 57 Abs. 2 S. 2 StVZO verweist in der gültigen Fassung hinsichtlich der technischen Anforderungen an das Geschwindigkeitsmessgerät auf die „im Anhang zu dieser Vorschrift genannten Bestimmungen“. Hiermit in Bezug genommen ist u.a. die Richtlinie 75/443 EWG vom 26. Juni 1975, ausweislich deren Ziff. 4.4. die angezeigte Geschwindigkeit nie niedriger sein darf als die tatsächlich gefahrene, die Voreilung aber 10% der angezeigten Geschwindigkeit zuzüglich 4 km/h betragen darf. Hiermit ist der zulässige Eigenfehler des Tachometers anders bestimmt als zuvor (mit Recht krit. zu der Berechnung nach der „7%-Regel“ daher OLG Jena B. v. 20.05.2009 – 1 Ss 124/09 = VRS 117, 348; OLG Rostock B. v. 28.03.2007 – 2 Ss (OWi) 311/06 I 171/06 = VRS 113, 309): Je niedriger die in Rede stehende Geschwindigkeit, desto größer ist die Abweichung zu der Abzugsberechnung auf der Grundlage von 7% des Skalenendwerts.
bb) Der Senat vermag sich andererseits nicht der Rechtsprechung der Mehrzahl der Oberlandesgerichte anzuschließen, wonach der Toleranzabzug regelmäßig mit 20% der abgelesenen Geschwindigkeit zu bemessen ist (s. zusf. und zu weiteren Berechnungsmethoden Hentschel/König/Dauer-König, Straßenverkehrsrecht 46. Auflage 2021, § 3 StVO Rz. 62). Es handelt sich um einen „gegriffenen“ Wert (vgl. OLG Celle B. v. 24.06.1976 – 1 Ss OWi 277/76 = VRS 52, 58 [59]), den der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung wegen der Vielzahl der – im Einzelfall sich in ihrer Wirkung möglicherweise kumulierenden – Fehlerquellen als regelmäßig zu gering bemessen bezeichnet hat (z. B. SenE v. 23.08.2016 – III-1 RBs 245/16 m. N.). Vielmehr erscheint die auch bislang vorgenommene Differenzierung zwischen (möglichen) Eigenfehlern des Tachometers einerseits, sonstigen Fehlern (namentlich Ablesefehlern und Fehlern durch Abstandsveränderungen) andererseits weiterhin als fruchtbar. Lediglich ist der mögliche Eigenfehler des Tachometers anders als bislang zu berechnen, nämlich mit 10% der abgelesenen Geschwindigkeit zuzüglich 4 km/h (so auch OLG Stuttgart B. v. 20.12.2004 – 4 Ss 490/04 = VRS 108, 223 = JZ 2005, 283; H. P. Grün/Eichler/D. Schäfer in: Burhoff/Grün (Hrsg.): Messungen im Straßenverkehr, 5. Auflage 2020, § 1 Rz. 1209: diese Größenordnung sei als technischer Fehler „immer zu unterstellen“). Es ist nämlich unverändert davon auszugehen, dass Tachometer diese Fehlergrenze einhalten. Der Senat verkennt nicht, dass die Alltagserfahrung regelmäßig eine höhere als die zulässige Übereinstimmung von tatsächlich gefahrener und abgelesener Geschwindigkeit nahe legt. Empirische Untersuchungen, die geeignet wären, die Richtigkeit einer solchen Annahme belastbar zu belegen, sind ihm indessen nicht bekannt geworden.
Bei einer abgelesenen Geschwindigkeit von 105 km/h errechnet sich nach alledem ein erster Abzug von 14,5 km/h.
cc) Im Übrigen hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest, wonach den möglichen weiteren Fehlerquellen durch einen weiteren Abzug von bis zu 12 % der abgelesenen Geschwindigkeit begegnet werden kann, der im Einzelfall – nämlich dann, wenn Ablesefehler und Fehler durch Abstandsschwankungen ausgeschlossen werden können – auf 6 % reduziert werden kann. Dies zugrundegelegt errechnet sich hier ein weiterer Abzug von 12,6 bzw. 6,3 km/h. Die vorwerfbare Geschwindigkeit bewegt sich danach zwischen 78 und 84 km/h.
dd) Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat im Streitfall trotz des von der Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hervorgehobenen Umstandes nicht möglich, dass die Messstrecke hier mit 1.200 Metern deutlich länger war, als dies in der Rechtsprechung bei Geschwindigkeiten von über 100 km/h gefordert wird (mind. 500 m, vgl. OLG Bamberg B. v. 02.12.2005 – 3 Ss OWi 1556/05 = DAR 2006, 517; KG B. v. 27.10.2014 – 3 Ws (B) 467/14 – 162 Ss 131/14 = DAR 2015, 99) und nach den Angaben der Zeugen der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug des Betroffenen konstant 60-70 m betrug, die Fehlerquelle durch Abstandsschwankungen daher weitgehend ausgeschlossen werden konnte. Nicht abschließend beurteilt werden kann nämlich die Frage, ob nicht auch mögliche Ablesefehler ausgeschlossen werden können, sei es, dass sich das Ablesen am nächstniedrigeren Teilstrich einer analogen Skala orientiert hat, sei es, dass – wie oben dargelegt – das Vorhandensein einer digitalen Skala solche Ablesefehler ausschließt, die spezifisch auf der analogen Darstellung der gefahrenen Geschwindigkeit beruhen.
ee) Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht; die bislang getroffenen dürfen – und müssen nach dem zuvor Dargestellten gegebenenfalls – um nicht widersprechende ergänzt werden.
3. Für den neuen Rechtsgang weist der Senat vorsorglich noch darauf hin, dass die Bußgeldkatalogverordnung in der seit dem 9. November 2021 geltenden Fassung (BGBl. I S. 4701) im Geschwindigkeitsbereich von 26 – 30 km/h kein Regelfahrverbot (mehr) vorsieht; § 4 Abs. 3 OWiG beansprucht auch insoweit Geltung (ausdrücklich: BayObLG B. v. 11.11.2020 – 201 ObOWi 1043/20 = DAR 2021, 40 Tz. 10; allgemein: KK-OWiG-Rogall, 5. Auflage 2018, § 4 Rz. 8).