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Geschwindigkeitsmessung – Berücksichtigung der Einlassung des Betroffenen

VERFASSUNGSGERICHT DES LANDES BRANDENBURG – Az.: VfGBbg 54/21 – Beschluss vom 18.02.2022

In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren pp. hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg am 18. Februar 2022 beschlossen:

1. Das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg vom 14. Dezember 2020 – 13 b OWi 3423 Js-OWi 27348/20 (496/20) – und der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 3. Mai 2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 162/21 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Artikel 52 Abs. 3 Alt. 2 Verfassung des Landes Brandenburg. Das Urteil und der Beschluss werden aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Oranienburg zurückverwiesen.

2. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

A.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen Entscheidungen des Amtsgerichts Oranienburg und des Brandenburgischen Oberlandesgerichts in einem Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung.

I.

Geschwindigkeitsmessung – Berücksichtigung der Einlassung des Betroffenen
(Symbolfoto: Jarhe Photography/Shutterstock.com)

Die Zentrale Bußgeldstelle des Zentraldienstes der Polizei des Landes Brandenburg (im Folgenden: Bußgeldstelle) setzte mit Bußgeldbescheid vom 3. Juni 2020 gegen den Beschwerdeführer eine Geldbuße von 70,00 Euro fest wegen des Vorwurfs der Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit von 120 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften um 21 km/h. Dem lag eine Geschwindigkeitsmessung mit dem Geschwindigkeitsmessgerät PoliScan Speed zugrunde.

Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer legte unter dem 16. Juni 2020 Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Er bezweifelte die Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung. Es gebe deutliche Anzeichen für einen Messfehler. Auf dem Beweisfoto in der Bußgeldakte sei eine hell leuchtende Fläche erkennbar. Dabei dürfte es sich um ein das Licht reflektierendes Verkehrsschild oder eine andere metallene Fläche handeln, die zu einer Doppelreflexion des Radarstrahls und dadurch erhöhten Geschwindigkeitsmessung geführt haben dürfte. Er werde für den Fall der Durchführung eines Hauptverfahrens die Zeugeneinvernahme des Messbeamten und die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragen, um zu beweisen, dass es aus den genannten Gründen zu Messfehlern gekommen sei.

Die Bußgeldstelle hielt den Bescheid unter Verweis auf die korrekte Durchführung des Messverfahrens aufrecht.

Das Amtsgericht Oranienburg bestimmte den Termin zur Hauptverhandlung auf den 14. Dezember 2020.

Mit Schriftsatz vom 19. November 2020 beantragte der Beschwerdeführer, den Messbeamten S. als Zeugen zur Hauptverhandlung zu laden und zu vernehmen. Der Zeuge werde aussagen, dass es sich bei der hell leuchtenden Fläche hinter dem Fahrzeug des Beschwerdeführers auf dem Beweisfoto um ein Verkehrsschild oder eine ähnliche reflektierende Fläche handele, die den Laserstrahl des Messgeräts reflektiert habe. Er beantragte ferner, ein Sachverständigengutachten einzuholen zum Beweis der Tatsache, dass eine solche reflektierende Fläche die Messung mit dem Messgerät PoliScan Speed beeinträchtigen und zur Anzeige einer höheren Geschwindigkeit führen könne. Zur Begründung führte er aus, das Messgerät PoliScan Speed nutze für die Geschwindigkeitsmessung die sogenannte LIDAR-Technik. Dabei würden in einer Sekunde mehrere Laserstrahlen durch das Gerät abgegeben, sodass ein fächerförmiger Lichtkegel entstehe. Fahre ein Fahrzeug durch diesen Bereich, würden die Laserstrahlen davon reflektiert und die Entfernung zwischen Auto und Lasermessgerät bestimmt. Für die Auswertung werde aus diesen Daten die Geschwindigkeit ermittelt. Befänden sich neben bzw. hinter dem Fahrzeug reflektierende Flächen, könne es zu Messfehlern durch sog. Doppelreflexionen kommen. Es gebe deutliche Anzeichen für einen Messfehler. Auf der Fotografie sei unmittelbar hinter dem Fahrzeug des Beschwerdeführers eine helle Fläche zu erkennen. Dabei handele es sich offenbar um ein Verkehrsschild oder eine metallene Fläche, die das Licht reflektiert habe. Dies könne zu einer Doppelreflexion des Laserstrahls geführt haben, sodass eine höhere als die tatsächliche Geschwindigkeit gemessen worden sei. Der Beschwerdeführer verwies in diesem Zusammenhang auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 17. Juni 2004 (3 Ss OWi 315/04).

Das Amtsgericht lehnte in der Hauptverhandlung die Beweisanträge gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) ab. In dem als Anlage zum Protokoll genommenen Vordruck heißt es: Nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme lägen die Voraussetzungen einer standardisierten Messsituation vor, insbesondere sei das Messgerät gültig geeicht. Es bestünden keine konkreten Anhaltspunkte, die auf ein fehlerhaftes Messergebnis hindeuteten. Eine weitere Sachverhaltsaufklärung sei daher nicht geboten.

8Mit Urteil vom 14. Dezember 2020 (13 b OWi 3423 Js-OWi 27348/20 [496/20]) sprach das Amtsgericht Oranienburg eine Geldbuße von 70,00 Euro wegen einer fahrlässigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit aus. In der Urteilsbegründung wiederholte das Amtsgericht, dass keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung vorlägen. Bei dem verwendeten Messverfahren handele es sich um ein sogenanntes standardisiertes Messverfahren. Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten, die das Messergebnis beeinflusst und damit unverwertbar gemacht hätten, seien nicht ersichtlich. Da keine Ausnahme von einer standardisierten Messsituation vorgelegen habe, sei auch keine weitere Aufklärung des Sachverhalts geboten.

Der Beschwerdeführer beantragte die Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen der Versagung rechtlichen Gehörs gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG.

Er habe bereits mit der Einspruchsschrift vom 16. Juni 2020 und erneut vier Wochen vor der Hauptverhandlung mit Schriftsatz vom 19. November 2020 auf konkrete Anzeichen für einen Messfehler aufgrund des Beweisfotos mit der hell erleuchteten Fläche hingewiesen und Beweisanträge gestellt. In der Hauptverhandlung habe sich gezeigt, dass das Gericht die Anträge gar nicht zur Kenntnis genommen habe. Daher habe er diese erneut gestellt. Das Amtsgericht habe diese Anträge unverzüglich und ohne nähere Begründung zurückgewiesen, weil es gemeint habe, die Beweiserhebung sei zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich, § 77 Abs. 3 OWiG. Auch in den Urteilsgründen habe sich das Amtsgericht nicht mit den Anträgen und ihrer Begründung auseinandergesetzt. Sie seien im Urteil nicht einmal erwähnt worden.

Zwar handele es sich nach der einschlägigen Rechtsprechung bei der Messung mit dem Gerät PoliScan Speed um ein standardisiertes Messverfahren. Nach den Grundsätzen des standardisierten Messverfahrens blieben die Aufklärungs- und Feststellungspflichten der Fachgerichte reduziert, solange sich aus der Überprüfung der Informationen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergäben. Ermittele der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, habe das Gericht zu entscheiden, ob es sich dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen könne. Entsprechend seiner Amtsaufklärungspflicht habe das Fachgericht die Korrektheit des Messergebnisses dann individuell – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – zu überprüfen und seine Überzeugung im Urteil darzulegen.

Dies sei nicht erfolgt. Das Amtsgericht habe sich zu keinem Zeitpunkt inhaltlich mit den vom Beschwerdeführer vorgetragenen Anhaltspunkten für eine Fehlmessung auseinandergesetzt. Die Urteilsbegründung beschränke sich auf die Feststellung, dass es sich bei der Messung mit dem Gerät PoliScan Speed um ein standardisiertes Messverfahren handele.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg nahm mit Schriftsatz vom 14. April 2021 Stellung. Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde sei nicht begründet. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liege nicht vor. Das Gericht habe den Antrag auf Überprüfung der Messdaten durch Vernehmung des Messbeamten und durch Einholung eines Sachverständigengutachtens in zulässiger Weise nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abgelehnt.

Mit Beschluss vom 3. Mai 2021 (1 OLG 53 Ss-OWi 162/21) verwarf das Brandenburgische Oberlandesgericht den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1, § 80 Abs. 3, Abs. 4 OWiG, § 349 Abs. 2 StPO.

Der Beschwerdeführer legte mit Schriftsatz vom 26. Mai 2021 Anhörungsrüge ein. Das Oberlandesgericht habe sich mit der geltend gemachten Verletzung des rechtlichen Gehörs, Art. 103 Abs. 1 GG, durch das Amtsgericht Oranienburg nicht auseinandergesetzt. Der Beschluss enthalte noch nicht einmal die Feststellung, ob der Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet oder unzulässig verworfen werde. Zwar bedürfe der Beschluss über die Zurückweisung des Zulassungsantrags keiner Begründung. Der Betroffene müsse aber zumindest darüber in Kenntnis gesetzt werden, ob der Antrag unbegründet sei oder wegen Nichterfüllung von Prozessvoraussetzung verworfen werde. Wenn dies nicht geschehe und der Beschluss zudem keine Begründung enthalte, müsse der Betroffene davon ausgehen, dass er mit seinem Vorbringen nicht gehört worden sei.

Das Brandenburgische Oberlandesgericht wies die Anhörungsrüge mit Beschluss vom 5. Juli 2021 zurück. Der Beschwerdeführer sei in seinen Grundrechten nicht verletzt, insbesondere sei ihm das rechtliche Gehör nicht versagt worden. Der Beschluss ist dem Beschwerdeführer am 8. Juli 2021 zugestellt worden.

II.

Mit seiner am 6. September 2021 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg vom 14. Dezember 2020 (13 b OWi 3423 Js-OWi 27348/20 [496/20]) sowie den Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 3. Mai 2021 (1 OLG 53 Ss-OWi 162/21). Er rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 Verfassung des Landes Brandenburg (LV) und widerholt im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem fachgerichtlichen Verfahren.

III.

Die Äußerungsberechtigten haben von einer Stellungnahme abgesehen. Die Verfahrensakten sind beigezogen worden.

B.

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg.

1. Sie ist zulässig. Insbesondere wahrt die am 6. September 2021 erhobene Verfassungsbeschwerde die mit Ablauf des 8. September 2021 endende Zwei-Monats-Frist des § 47 Abs. 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg).

Der Rechtsweg ist erschöpft. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 VerfGGBbg hat ein Beschwerdeführer zunächst die ihm gesetzlich zur Verfügung stehenden, nicht offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfe zu ergreifen; namentlich muss er den ihm nach der jeweiligen Verfahrensordnung eröffneten Instanzenzug durchlaufen (st. Rspr., vgl. Beschluss vom 18. September 2015 – VfGBbg 14/15 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde erst nach der Zustellung des die Anhörungsrüge zurückweisenden Beschlusses des Oberlandesgerichts vom 5. Juli 2021 (1 OLG 53 Ss-OWi 162/21) erhoben hat. Die bei Rüge des rechtlichen Gehörs grundsätzlich zur Erschöpfung des Rechtswegs zu erhebende Anhörungsrüge konnte die Frist zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde wahren, da sie nicht offensichtlich unzulässig war. Die Prüfung, ob eine Anhörungsrüge die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde offenhalten kann, nimmt das Verfassungsgericht ohne Bindung an die Entscheidung des Fachgerichts selbst vor (st. Rspr., vgl. zuletzt Beschluss vom 25. Oktober 2021 – VfGBbg 96/19 -, Rn. 22, https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Die vom Beschwerdeführer beanstandete unklare Tenorierung ließ daran zweifeln, ob das Oberlandesgericht sich mit dem Vorbringen im Zulassungsantrag auseinandergesetzt hat.

Der Beschwerdeführer hat auch dem Grundsatz der Subsidiarität entsprochen. Der in § 45 Abs. 2 Satz 1 VerfGGBbg zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität gebietet, alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden zumutbaren prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnäheren Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (st. Rspr., vgl. Beschluss vom 17. September 2021 – VfGBbg 43/20 -, Rn. 15 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Der Beschwerdeführer hat bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren mit der Einspruchsschrift konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler vorgetragen und sich im gerichtlichen Verfahren frühzeitig und wiederholt dazu eingelassen und entsprechende Beweisanträge gestellt.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

a. Das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg vom 14. Dezember 2020 (13 b OWi 3423 Js-OWi 27348/20 [496/20]) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV.

aa. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts gewährt Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu den für diese erheblichen Sach- und Rechtsfragen zu äußern. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und rechtzeitiges, möglicherweise erhebliches Vorbringen bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. ausführlich Beschluss vom 16. März 2018 – VfGBbg 56/16 -, m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Gericht das ihm unterbreitete Vorbringen zur Kenntnis nimmt und in Betracht zieht. Es ist nicht verpflichtet, sich mit jeglichem Vorbringen ausdrücklich zu befassen, sondern kann sich auf die Bescheidung der ihm wesentlich erscheinenden Punkte beschränken. Insbesondere verwehrt es der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht, den Vortrag eines Verfahrensbeteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts, zum Beispiel wegen sachlicher Unerheblichkeit, ganz oder teilweise außer Betracht zu lassen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nur verletzt, wenn die Nichtberücksichtigung eines Vortrags oder von Beweisanträgen im Prozessrecht keine Stütze mehr findet. Hierzu müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass tatsächliches Vorbringen eines Verfahrensbeteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 72/19 -, Rn. 36 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Solche Umstände können insbesondere dann vorliegen, wenn das Gericht das Kernvorbringen eines Beteiligten unberücksichtigt lässt. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in der Begründung der Entscheidung nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist. Daraus ergibt sich eine Pflicht der Gerichte, die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen in den Entscheidungsgründen zu verarbeiten (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 72/19 -, Rn. 36 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de; vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26. September 2012 – 2 BvR 938/12 -, Rn. 20, vom 16. September 2010 – 2 BvR 2394/08 -, Rn. 14, und vom 7. Dezember 2006 – 2 BvR 722/06 -, Rn. 23, www.bverfg.de).

bb) Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Bußgeldverfahren die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens reduzierte Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflichten der Fachgerichte begründen. Die Gerichte sind nicht dazu gehalten, der Ordnungsgemäßheit des Messverfahrens nachzugehen, solange sich keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 39 ff., juris). Ermittelt der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, hat das Gericht zu entscheiden, ob es sich dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann. Entsprechend seiner Amtsaufklärungspflicht hat das Fachgericht die Korrektheit des Messergebnisses dann individuell – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – zu überprüfen und seine Überzeugung im Urteil darzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 60, juris; so wohl auch BGH, Beschluss vom 30. Oktober 1997 – 4 StR 24/97 -, BGHSt 43, 277-284, Rn. 26, juris).

cc) Nach diesen Maßstäben verletzt das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

Das Urteil lässt nicht erkennen, dass das Gericht den Tatsachenvortrag des Beschwerdeführers, mit dem er die Zuverlässigkeit des Messverfahrens in Zweifel gezogen hat, zur Kenntnis genommen und in Betracht gezogen hat. Kern des Beschwerdevorbringens war, dass die im Beweisfoto erkennbaren hellen Lichtflächen auf eine das Messverfahren beeinflussende Reflexion der Laserstrahlen durch im Messbereich befindliche reflektierende Flächen hindeuten. Ob das Amtsgericht das Vorbringen in Erwägung gezogen hat, lässt sich weder aus dem Beschluss, mit dem die Beweisanträge abgelehnt worden sind, noch aus den Urteilsgründen erkennen. Es hat in den Urteilsfeststellungen keinen Niederschlag gefunden. Dabei ist es Sache des Fachgerichts zu beurteilen, ob es die vorgetragenen Anhaltspunkte für hinreichend konkret erachtet. Die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens entheben den Tatrichter jedoch nicht davon, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen. Als bloße allgemeine Behauptungen „ins Blaue hinein“, die insgesamt zu vernachlässigen sind, ließ sich das Vorbringen des Beschwerdeführers im Entscheidungszeitpunkt nicht ohne Weiteres qualifizieren. Dies mag inzwischen im Hinblick auf die Erkenntnisse zu feststehenden Objekten, Reflexionen und deren Einfluss auf Messungen durch die jüngste obergerichtliche Rechtsprechung anders zu betrachten sein (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 13. Januar 2022 – 1 OWi 2 SsBs 58/21 -, Rn. 15 f., juris). Diesen Kenntnisstand konnte jedoch das Amtsgericht bei Bescheidung der Beweisanträge und Urteilsfällung nicht voraussetzen.

dd. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts vom 14. Dezember 2020 beruht auf dieser Verletzung des Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV, weil nicht auszuschließen ist, dass das Amtsgericht eine andere, dem Beschwerdeführer günstige Entscheidung getroffen hätte, wenn es sein Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hätte.

b) Auch der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 3. Mai 2021 (1 OLG 53 Ss-OWi 162/21) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV. Zwar bedarf vor dem Hintergrund der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Begründungsanforderungen nach § 80 Abs. 4 Satz 2 OWiG der Beschluss über die Zulassung der Rechtsbeschwerde, die eine unanfechtbare Zwischenentscheidung ist, weder im Falle der Verwerfung noch der Zurückweisung einer ausführlichen Begründung (vgl. Bär, in: BeckOK OWiG, Stand: 1. Oktober 2021, OWiG § 80 Rn. 49 m. w. N.), eine Begründung enthält der Beschluss vom 3. Mai 2021 auch nicht.

Indes hat das Brandenburgische Oberlandesgericht in dem Beschluss vom 3. Mai 2021 durch die Bezugnahme von § 349 Abs. 2 StPO sowie die hierauf verweisenden Vorschriften des OWiG zu erkennen gegeben, dass es den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde für offensichtlich unbegründet erachtet. Dabei hat das Oberlandesgericht verkannt, dass § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG die Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen der hier gegebenen Versagung des rechtlichen Gehörs durch das Amtsgericht gerade gebietet. Die Vorschrift soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein korrigierendes Eingreifen des Rechtsbeschwerdegerichts in denjenigen Fällen ermöglichen, in denen sich das Vorliegen einer Gehörsverletzung geradezu aufdrängt und es nicht zweifelhaft erscheint, dass das Urteil einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung nicht standhalten würde (BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 1992 – 2 BvR 700/91 -, Rn. 19 m. w. N., juris). Die Anwendung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG kann mithin dazu beitragen, Verstöße gegen den Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vor Erschöpfung des ordentlichen Rechtswegs zu beseitigen und die ansonsten erforderliche Anrufung des Verfassungsgerichts zu vermeiden. Deshalb hat das Rechtsbeschwerdegericht bereits im Zulassungsverfahren zu prüfen, ob eine Gehörsverletzung vorliegt (vgl. BVerfG, a. a. O.).

Dies ist hier erkennbar unterblieben. Das Oberlandesgericht hat die Regelung in § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG in seiner Entscheidung unerwähnt gelassen.

C.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 32 Abs. 7 Satz 1 VerfGGBbg.

D.

Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.

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