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Geschwindigkeitsmessung – Anspruchsvoraussetzungen für Einsichtnahme in Rohmessdaten

BayObLG München – Az.: 202 ObOWi 1532/20 – Beschluss vom 04.01.2021

I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts vom 4. August 2020 mit den Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufgehoben.

II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen.

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Geschwindigkeitsmessung - Anspruchsvoraussetzungen für Einsichtnahme in Rohmessdaten
(Symbolfoto: Von Jurjanephoto/Shutterstock.com)

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I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 04.08.2020 wegen fahrlässiger Überschreitung der innerhalb geschlossener Ortschaften zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 40 km/h zu einer Geldbuße von 320 Euro verurteilt und gegen ihn wegen des groben Pflichtenverstoßes gemäß §§ 24, 25 Abs. 1 Satz 1 1. Alt., 26a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StVG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. lfd.Nr. 11.3.6 der Tabelle 1c zum BKat in der zur Tatzeit gültigen – für innerörtliche Verstöße durch die am 27.04.2020 in Kraft getretene Neufassung vom 20.04.2020 (BGBl. I, 814) nicht geänderten – Fassung ein Regelfahrverbot für die Dauer eines Monats angeordnet.

Nach den Feststellungen erfolgte die polizeiliche Messung mit einem gültig geeichten digitalen Geschwindigkeitsüberwachungsgerät des Typs ‚PoliScanSpeed M1‘ (Gerätenummer 636074, Softwareversion 3.2.4) des Herstellers ‚VITRONIC Dr.-Ing. Stein Bildverarbeitungssysteme GmbH‘.

Mit der Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Mit der Verfahrensrüge wird – hinsichtlich des Verfahrensgeschehens durch den Akteninhalt belegt – insbesondere beanstandet, dass das Amtsgericht „Verfahrensrecht durch einen Verstoß gegen den Grundsatz auf ein faires Verfahren sowie gleichzeitig durch die Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs durch Ablehnung des Beweisantrags auf Beiziehung bestimmter Messdaten zur Akte“ verletzt habe. Hierzu wird im Wesentlichen vorgetragen, dass bereits mit Schreiben vom 21.02.2020 gegenüber der Verwaltungsbehörde beantragt worden sei, der Verteidigung bzw. dem von ihr zu beauftragenden Sachverständigen die Messdatei samt Dateitoken und Passwort mit den Messbildern der gesamten Messreihe vom Tattag zur Verfügung zu stellen, weil andernfalls keine sachgemäße Überprüfung der Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung im standardisierten Messverfahren möglich sei. Mit Schreiben vom 25.02.2020 sei der Antrag von der Verwaltungsbehörde mit dem Hinweis, dass die geforderten Unterlagen nicht Bestandteil der Ermittlungsakte seien und nur auf gerichtliche Anordnung vorgelegt würden, zurückgewiesen worden. Dieser Antrag auf Beiziehung der Messdatei samt Datei-Token und dem Passwort mit den Messbildern der gesamten hierzu zugrunde gelegten Messreihe sei sodann von der Verteidigung gegenüber dem Amtsgericht, bei dem sich die Akten mittlerweile befanden, mit Schreiben vom 12.03.2020 wiederholt worden, worauf das Amtsgericht mit Verfügung vom 17.03.2020 unter Hinweis auf den formellen Aktenbegriff mitgeteilt habe, dass die angeforderten Unterlagen nicht Aktenbestandteil seien. Mit weiterem Schreiben vom 24.03.2020 habe die Verteidigung erneut gegenüber dem Amtsgericht die vorgenannten Unterlagen angefordert, um einen Sachverständigen mit einer Überprüfung und „allfälligen Aufdeckung eines möglichen Messfehlers zu beauftragten“. Mit Schreiben vom 31.03.2020 habe das Amtsgericht geantwortet, dass sich die genannten Dokumente nicht bei den Akten befänden. Mit Schreiben vom 21.07.2020 habe die Verteidigung nochmals versucht, die Notwendigkeit der Beiziehung der genannten Unterlagen darzustellen, weil auch ein standardisiertes Messverfahren fehlerbehaftet sein könne und nur durch Zurverfügungstellung der vollständigen Messdaten entsprechende Fehlerquellen aufgedeckt werden könnten. „Zu guter Letzt“ habe die Verteidigung die Beiziehung der genannten Messunterlagen in der Hauptverhandlung vom 04.08.2020 in Form eines „Beweisantrags“ auf Beiziehung und Herausgabe „sämtlicher Rohmessdaten sowie der digitalen Falldatensätze, der Token-Datei, der Statistikdatei im Case-List und der Instandsetzungs-, Wartungs- und Eichnachweise des Messgeräts zur sachgemäßen Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung“ wiederholt. Der Beweisantrag sei vom Amtsgericht nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückgewiesen worden, da der Messung ein standardisiertes Messverfahren zugrunde liege und der Antrag keine konkreten Anhaltspunkte für eine Fehlmessung aufzeige. Das Urteil beruhe auch auf der fehlerhaft unterlassenen Beweiserhebung zum Nachteil des Betroffenen und verletze damit dessen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, da die Verteidigung anderenfalls die beantragten vollständigen Messunterlagen wie Rohmessdaten und die Messbilder der gesamten Messreihe dem von ihr zu beauftragenden Sachverständigen zur Verfügung gestellt hätte. Der Sachverständige wäre unter Auswertung der vollständigen Messunterlagen in der Lage gewesen, die möglichen Fehlerquellen aufzuspüren und entsprechende Zweifel an der Richtigkeit der Messung aufzuzeigen. Dann wäre wiederum nicht auszuschließen gewesen, dass – gegebenenfalls nach weiterem Vortrag oder hierauf aufbauenden Beweisanträgen in der Hauptverhandlung – eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung ergangen wäre.

Mit Zuleitungsschrift vom 06.11.2020 hat die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen. Die hierzu abgegebene Gegenerklärung des Verteidigers des Betroffenen vom 16.12.2020 lag dem Senat vor.

II.

Mit Beschluss vom 29.12.2020 hat der nach § 80 a Abs. 1 OWiG zuständige Einzelrichter die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde gemäß § 80 a Abs. 1, 2. Halbsatz i.V.m. § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

III.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde führt auf die Verfahrensrüge, soweit mit ihr den gesetzlichen Begründungsanforderungen der §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 StPO genügend beanstandet wird, der Verteidigung seien entgegen ihrer mehrfach gestellten Anträge die digitale Messdatei der verfahrensgegenständlichen Messung des Betroffenen nicht zur Verfügung gestellt worden, zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mitsamt seinen Feststellungen. Durch die Ablehnung der Anträge auf Überlassung der Messdatei, zuletzt durch den in der Hauptverhandlung verkündeten Beschluss des Amtsgerichts vom 04.08.2020, wurde gegen das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren verstoßen, womit die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt im Sinne von 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO durch einen Beschluss des Gerichts unzulässig beschränkt wurde. Auf die weiteren verfahrensrechtlichen Beanstandungen und auf die Sachrüge kommt es deshalb nicht mehr an.

1. Nach dem stattgebenden Kammerbeschluss der 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2020 (BVerfG [3. Kammer des 2. Senats], Beschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 bei juris), den das Amtsgericht im Urteilszeitpunkt nicht berücksichtigen konnte, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG mit Blick auf den aus dem Gedanken der „Waffengleichheit“ grundsätzlich ein „Anspruch“ des Betroffenen auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen und zum Zwecke der Ermittlungen entstandenen Informationen, hier der sog. Rohmessdaten einer Geschwindigkeitsmessung im Straßenverkehr. Voraussetzung des Anspruchs ist, dass der Betroffene rechtzeitig geltend macht, er wolle sich selbst und eigenständig Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus den dem Gericht nicht vorgelegten Inhalten keine seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben. Zudem müssen die begehrten Informationen zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen (BVerfG a.a.O.).

2. Diese Prämissen sind hinsichtlich der Rohmessdaten der digitalen Messdatei erfüllt.

a) Die Verteidigung hatte schon im Vorverfahren und damit rechtzeitig, jedoch vergeblich gegenüber der Verwaltungsbehörde mit Schreiben vom 21.02.2020 beantragt, ihr bzw. dem von ihr zu beauftragenden Sachverständigen die Messdatei zur Verfügung zu stellen, weil andernfalls keine sachgemäße Überprüfung der Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung im standardisierten Messverfahren möglich sei. Dieser Antrag wurde gegenüber dem Amtsgericht nach dortiger Anhängigkeit ab dem 04.03.2020 mit Schreiben vom 12.03.2020, 24.03.2020 und 21.07.2020 und schließlich in der Hauptverhandlung mit der Bezeichnung als „Beweisantrag“ wiederholt. Das Amtsgericht hat den „Beweisantrag“ gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG mit der – im Urteil näher ausgeführten – Begründung abgelehnt, dass die begehrte Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei, da der Messung ein standardisiertes Messverfahren zugrunde liege und der Antrag keine konkreten Anhaltspunkte für eine Fehlmessung aufzeige.

b) Der Umstand, dass der Verteidiger keinen Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung gestellt hat, steht dem Erfolg der erhobenen Verfahrensrüge nicht entgegen. Denn nach Ablehnung des in der Hauptverhandlung gestellten Antrags auf Beiziehung und Überlassung der Rohmessdaten zur Einsicht war für einen entsprechenden Aussetzungsantrag, der nur den Sinn haben konnte, die Rohmessdaten durch einen Sachverständigen auswerten zu lassen, schon kein Raum mehr.

3. Soweit daneben die Ablehnung des Antrags auf Einsichtnahme und Überlassung der Messbilder der gesamten Messreihe bzw. aller digitalen Falldatensätze vom Tattag zur sachgemäßen Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung beanstandet wird, genügt das Rügevorbringen nicht den Begründungsanforderungen der §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 StPO. Die Verfahrensrüge ist insoweit bereits unzulässig, weil schon ein sachlicher Zusammenhang mit dem Tatvorwurf nicht hinreichend dargetan ist. Hinzu kommt, dass aus der Betrachtung der gesamten Messreihe ohnehin keine für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen betreffenden Messung relevanten Erkenntnisse gezogen werden können (vgl. hierzu zuletzt OLG Zweibrücken, Beschluss vom 05.05.2020 – 1 OWi 2 SsBs 94/19 = ZfSch 2020, 413 und 27.10.2020 – 1 OWi 2 SsBs 103/20 bei juris [jeweils unter Hinweis mit Verlinkung auf die unter dem Titel „Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung“ verfasste Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt mit Stand vom 30.03.2020]). Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt hat in dieser Stellungnahme überzeugend dargelegt, dass es für den Messwert einer konkreten Einzelmessung keinen Zusammenhang mit den Messergebnissen für Fahrzeuge gibt, die in den Stunden davor und danach erfasst wurden. Die gesamte Messreihe bringt selbst dann keine verwertbare Aussage, wenn eine Einzelmessung deutlich außerhalb des Bereiches von Geschwindigkeiten fällt, die üblicherweise am jeweiligen Messort gefahren werden.

4. Soweit neben einer Verletzung des fairen Verfahrens die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend gemacht wird, ist ein solcher Verstoß nicht gegeben. Der Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG ist nicht berührt, wenn es um die Frage geht, ob das Gericht sich und den Prozessbeteiligten Kenntnis von Sachverhalten, die es selbst nicht kennt, erst zu verschaffen hat, weil es nicht Sinn und Zweck der Gewährleistung rechtlichen Gehörs sei, dem Beschuldigten Zugang zu dem Gericht nicht bekannten Tatsachen zu erzwingen (BVerfGE 63, 45/60). Das Verfahrensgrundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs verlangt vielmehr, dass einer gerichtlichen Entscheidung gemäß § 261 StPO auf der Grundlage des in der Hauptverhandlung ausgebreiteten und abgehandelten Tatsachenstoffs – wie hier geschehen – ausschließlich solche Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen der Betroffene und seine Verteidigung hinreichend Stellung nehmen konnten; einen Anspruch auf Erweiterung der Gerichtsakten vermittelt Art. 103 Abs. 1 GG hingegen nicht, zumal auch für eine Willkürentscheidung nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich ist (st.Rspr.; vgl. neben BVerfGE 18, 399/405 f.; 34, 1/7; 36, 92/97; 57, 250/273 f. und 63, 45/60 f. u.a. BayObLG, Beschluss vom 09.12.2019 – 202 ObOWi 1955/19 = DAR 2020, 145 = BeckRS 2019, 31165; 06.04.2020 – 201 ObOWi 291/20 bei juris und KG, Beschluss vom 02.04.2019 – 122 Ss 43/19 bei juris; vgl. auch schon OLG Bamberg, Beschluss vom 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18 = NZV 2018, 425 und 04.04.2016 – 3 Ss OWi 1444/15 = DAR 2016, 337 = OLGSt StPO § 147 Nr 10, jeweils m.w.N.).

IV.

Aufgrund des aufgezeigten Verfahrensfehlers ist das angefochtene Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

V.

Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.

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