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Geschwindigkeitsmessung – Anspruch auf Übersendung der Rohmessdaten

AG Neuruppin – Az.:  82.1 E OWi 76/20 – Beschluss vom 14.07.2020

In der Bußgeldsache wegen Ordnungswidrigkeit hat das Amtsgericht Neuruppin am 14.07.2020 beschlossen:

I.

Der Zentralen Bußgeldbehörde des Landes Brandenburg wird aufgegeben, der Verteidigung die Messdateien inklusive der unverschlüsselten Rohmessdaten der gesamten Messserie des Tattages auf einem geeigneten Speichermedium durch Übersendung in die Kanzleiräume des Verteidigers zur Verfügung zu stellen.

II. Die Kosten des Verfahrens hat die Landeskasse zu tragen.

Gründe:

I.

Dem Betroffenen wird vorgeworfen, am 19.02.2020 auf der BAB24, km 220,515 in Fahrtrichtung Berlin die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 25 km/h nach Toleranzabzug übertreten zu haben. Wegen dieses Vorwurfs hat die Zentrale Bußgeldstelle des Landes Brandenburg mit Datum vom 12.05.2020 einen Bußgeldbescheid erlassen. Der Verteidiger des Betroffenen hat gegen den Bußgeldbescheid mit Schreiben vom 28.05.2020 Einspruch eingelegt und erneut Akteneinsicht in die _Zusatzdaten der Messung beantragt.

Die beantragte Übersendung der Rohmessdaten wurde dem Verteidiger nicht gewährt.

Mit Schriftsatz vom 03.07.2020 hat der Verteidiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt.

Die Bußgeldbehörde ist der Ansicht, an der Herausgabe der Rohmessdaten aufgrund der Entscheidung des Oberlandesgerichts Brandenburg vom 02.01.2020 gehindert zu sein. Hiernach sei das Hinzuziehen der Rohmessdaten nur dann erforderlich, wenn auf den Einzelfall bezogene, konkrete Tatsachen vorgetragen würden. die Zweifel an der Richtigkeit der Messung aufkommen ließen.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Soweit bislang von der Abteilungsrichterin in ähnlich gelagerten Fällen eine von nachfolgenden Gründen abweichende Rechtsaufassung vertreten wurde. wird daran nicht mehr festgehalten.

Beim tatgegenständlich verwendeten Messverfahren mit dem Gerät POLISCAN FM1 handelt es sich unbestrittenermaßen um ein sog. Standardisiertes Messverfahren. Dies hat prozessual zur Folge, dass die Betroffenen mit der pauschalen Behauptung, sie seien nicht zu schnell gefahren und die Messung sei fehlerhaft, nicht gehört werden. Vielmehr obliegt es Ihnen, „substantiiert“ vorzutragen, aus welchen Gründen die durchgeführte Messung fehlerhaft ist. Der Betroffene hat demnach konkrete und einer Beweiserhebung zugängliche Umstände anzuführen, um eine Messung in Zweifel zu ziehen. Dies führt — prozessual untechnisch formuliert – zu einer „Beweislastumkehr“, die dem Betroffenen neben dem Recht auf Einsicht in die bereits bei der Verfahrensakte befindlichen Beweismittel wegen des Grundsatzes des fairen Verfahrens die Möglichkeit eröffnen muss, die Messung unter Hinzuziehung eines Sachverständigen auf mögliche Messfehler zu untersuchen.

Für eine solche Überprüfung benötigt er zwangsläufig den Zugang zu den Messunterlagen, insbesondere zu den Rohmessdaten in Form des vollständigen Messfilms. Denn erst die Auswertung dieser Daten versetzt den Betroffenen in die Lage zu entsprechendem, konkretem Sachvortrag. der dem Gericht Anlass dazu geben kann, entsprechenden Beweisanträgen nachzugehen. Gerade durch die Überprüfung sämtlicher Messungen einer Messserie können bei einer möglicherweise auftretenden gewissen Fehlerhäufigkeit innerhalb einer Messserie Zweifel an der Richtigkeit sämtlicher Messungen der Messserie entstehen.

Da es dem Betroffenen aufgrund des standardisierten Messverfahrens obliegt, konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung vorzutragen, damit überhaupt eine Beweiserhebung über die Korrektheit der Messung durch das Gericht in Betracht kommt, sind ihm die Daten der gesamten Messserie zur Verfügung zu stellen. Wird dem Betroffenen dies versagt, wird ihm die Möglichkeit verwehrt oder aber zumindest unangemessen erschwert, die Daten auf Fehler untersuchen zu lassen, die der ihm vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit zugrunde liegen. Dann aber ist dem Betroffenen sein ureigenes Recht verwehrt, aktiv am Gang und Ergebnis des Verfahrens mitzuwirken (vgl. BVerfGE 46, 202).

Der Betroffene kann diesbezüglich auch nicht auf die Möglichkeit des Einspruchs und das anschließende gerichtliche Verfahren verwiesen werden. Wie bereits vorstehend ausgeführt, kommt eine Beweiserhebung regelmäßig nur in Betracht, wenn der Betroffene konkrete Umstände zu einem Messfehler vorträgt. Kennt er die Rohmessdaten nicht bzw. kann diese nicht unverschlüsselt auslesen, so wird ihm diese Möglichkeit zumindest teilweise genommen. Ein Beweisantrag des Betroffenen wäre dann „ins Blaue hinein“ gestellt und vom Gericht abzulehnen. Wird ein Herausgabeanspruch erst im gerichtlichen Verfahren oder gar erst in der Hauptverhandlung gestellt und das Gericht gezwungen, die Verhandlung daraufhin auszusetzen, würde dies zu einer unnötigen Verfahrensverzögerung in einer durch kurze Verjährungsfristen geprägten Prozessordnung führen. Das Einsichtsrecht steht dem Betroffenen ohnehin nicht gegenüber dem erkennenden Gericht im Rahmen der Hauptverhandlung zu. Vielmehr wäre er darauf zu verweisen, die Einsicht in die Messdaten außerhalb der Hauptverhandlung bei der aktenführenden Behörde zu beantragen. Dies sollte zweckmäßigerweise rechtzeitig vor der Hauptverhandlung geschehen. Damit ist dem Informationsinteresse des Betroffenen Genüge getan und zugleich gewährleistet, dass der Ablauf des gerichtlichen Verfahrens nicht durch eine sachlich nicht gebotene Unterbrechung zur Gewährung der Einsicht unverhältnismäßig verzögert oder erschwert wird (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.07.2015. IV-2 RBs 63/15).

Soweit bislang — auch durch die Unterzeichnerin – argumentiert wurde, dass bei der Abwägung wechselseitiger Interessen datenschutzrechtliche Belange anderer, von den Messdaten erfasster Verkehrsteilnehmer derart stark betroffenen seien, dass eine Abwägung zu Lasten der Interessen des Betroffenen ausfällt, wird diese Argumentation ebenfalls nicht mehr aufrechterhalten.

Datenschutzrechtliche Bedenken stehen dem Begehren auf Einsicht in die vollständige Messreihe nicht entgegen. Soweit mit der Zurverfügungstellung der gesamten Messserie ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer einhergeht, weil von diesen jeweils Foto und Kennzeichen übermittelt werden, überwiegt vorliegend das Interesse des Betroffenen an der Durchsetzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren und auf ordnungsgemäße Überprüfung der Messung. Es ist nicht ersichtlich, welche (unzulässigen) Informationen oder Schlussfolgerungen der Verteidiger oder auch ein hinzugezogener privater Sachverständiger aus der Einsichtnahme der entsprechenden Daten ziehen sollten. Der aufgezeichnete und feststellbare Lebenssachverhalt aus einer derartigen Maßnahme betrifft nur einen äußerst kurzen Zeitraum. Zudem werden lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift der anderen Verkehrsteilnehmer, die sich durch die Teilnahme am Straßenverkehr im Übrigen selbst der Verkehrsüberwachung durch die Behörden aussetzen, übermittelt werden. Vor allem aber ist von einem Verteidiger als Organ der Rechtspflege schon unter standesrechtlichen Gesichtspunkten zu erwarten, dass die ihm übermittelten Daten nicht an Dritte weitergegeben werden und er damit sachgemäß umgeht (vgl. LG Kaiserslautern, Beseht. v. 22.05.2019 – 5 Qs 51/19, ZfSch 2019, 471, 472; LG Hanau, Beseht. v. 07.01.2019 – 4b Qs 114/18, juris, dort Tz. 20). Auch in der Person eines Sachverständigen ist ein Missbrauch konkret nicht zu befürchten.

Der Verweis der Bußgeldstelle auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Brandenburg ist im Hinblick auf die verweigerte Zurverfügungstellung der Rohmessdaten nicht zielführend. Die Entscheidung ist zu einem Fall ergangen, in welchem Rohmessdaten überhaupt nicht gespeichert werden. Das OLG hat den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde maßgeblich deshalb zurückgewiesen, weil — ungeachtet der formellen Unzulänglichkeiten das jeweils erkennende Gericht im Falle eines standardisierten Messverfahrens ohne konkrete Anhaltspunkte für der Messung zugrunde liegende Fehler nicht dazu angehalten ist, die fehlenden Rohmessdaten als Anlass zu nehmen, den Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt zu sehen und von einer Beweisverwertung abzusehen. Aus Sicht des Oberlandesgerichts besteht für eine anlasslose Überprüfung eines im standardisierten Messverfahren erlangten Ergebnisses keine Notwendigkeit. Diese Konstellation ist aber mit der vorliegenden, in der der Betroffene durch eine (technisch mögliche) Einsicht in die Rohmessdaten erst Anhaltspunkten für etwaige Beweisermittlungspflichten des Gerichts nachgehen will, nicht vergleichbar.

Aus diesen Gründen sind der Verteidigung des Betroffenen die Daten der gesamten Messserie in unverschlüsselter Form auf einem geeigneten Datenträger zu übergeben.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 62 Abs. 2 Satz 2 OWiG, 465 Abs. 1 Satz 1 StPO. Diese Entscheidung ist gemäß § 62 Abs. 2 Satz 3 OWiG unanfechtbar.

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