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Geschwindigkeitsmessanlage – Abweichung von Bedienungsanleitung bei Aufstellung

Staatsanwaltschaft fordert Aufhebung eines Freispruchs wegen fehlerhafter Geschwindigkeitsmessung.

Die Staatsanwaltschaft hat die Aufhebung eines Freispruchs durch das Amtsgericht vom 14. Februar 2022 beantragt. Die Begründung liegt in der fehlerhaften Geschwindigkeitsmessung durch das Messgerät PoliScanSpeed. Der Betroffene wurde beschuldigt, am 29. April 2020 auf der A-Straße in B. mit einem Kraftfahrzeug fahrlässig die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts um 34 km/h überschritten zu haben. Das Messgerät war auf einem Stativ auf einer Rasenfläche neben der Fahrbahn aufgestellt, aber nicht auf einem hinreichend festen Untergrund. Das Amtsgericht ging aufgrund dieser Umstände nicht von einer Messung im sogenannten standardisierten Messverfahren aus, was zur Folge hatte, dass der Sachverständige keine nachträgliche Überprüfung auf Messfehler durchführen konnte.

Die Staatsanwaltschaft ist der Meinung, dass die den Freispruch tragende Beweiswürdigung lückenhaft ist und hat daher eine Rechtsbeschwerde eingelegt. Das Rechtsbeschwerdegericht gibt der Staatsanwaltschaft recht und hebt das Urteil auf. Der Tatrichter hat, laut Rechtsbeschwerdegericht, die Darstellung des Sachverständigengutachtens nicht ausreichend zusammengefasst, um dem Rechtsbeschwerdegericht die gebotene Nachprüfung zu ermöglichen. Zudem werden die Urteilsausführungen als nicht hinreichend präzise beschrieben, um eine Überprüfung der Richtigkeit der Messung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage zu ermöglichen.

Die Ausführungen des Gerichts lassen außerdem vermuten, dass der Tatrichter durch jede Abweichung von den Vorgaben der Bedienungsanleitung das Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens in Frage stellt. Dies ist jedoch nicht korrekt, da beispielsweise eine bauartbedingte Berücksichtigung von Messpunkten im Einzelfall nicht auszuschließen ist.

Das Rechtsbeschwerdegericht gibt der Staatsanwaltschaft daher recht und hebt das Urteil auf. Der Fall wird zur erneuten Verhandlung an das Amtsgericht zurückverwiesen.

BayObLG – Az.: 201 ObOwi 1291/22 – Beschluss vom 21.11.2022

I. Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts München vom 14.02.2022 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kos-ten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht München zurückverwiesen.

Gründe

I.

Geschwindigkeitsmessanlage - Abweichung von Bedienungsanleitung bei Aufstellung
(Symbolfoto: yogenystocker/Shutterstock.com)

Das Amtsgericht hat den Betroffenen aus tatsächlichen Gründen vom Vorwurf, am 29.04.2020 auf der A-Straße in B. mit einem Kraftfahrzeug fahrlässig die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts um 34 km/h überschritten zu haben, freigesprochen. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Staatsanwaltschaft mit der Rechtsbeschwerde und begründet diese mit der Sachrüge sowie mit der Verfahrens-rüge der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht. Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten, welche die Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts vom 14.02.2022 mit den zugrunde liegen-den Feststellungen und die Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht beantragt. Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 28.03.2022 eine Gegenerklärung zur Rechtsbeschwer-de der Staatsanwaltschaft und mit Schriftsatz vom 26.10.2022 zur Antragsschrift der General-staatsanwaltschaft vom 27.09.2022 abgegeben.

II.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechts-beschwerde der Staatsanwaltschaft hat bereits auf die Sachrüge hin Erfolg, sodass es auf die erhobene Aufklärungsrüge nicht mehr ankommt. Die angefochtene Entscheidung unterliegt der Aufhebung, weil die den Freispruch aus tatsächlichen Gründen tragende Beweiswürdigung lückenhaft ist (§ 267 Abs. 5 Satz 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG).

1. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts erfolgte die Geschwindigkeitsmessung mit einem geeichten Messgerät PoliScanSpeed, Softwareversion 3.2.4., welches zum Zeitpunkt der verfahrensgegenständlichen Messung auf einem Stativ auf einer Rasenfläche neben der Fahr-bahn aufgestellt war. Das Amtsgericht sah es nach durchgeführter Beweisaufnahme als erwiesen an, dass das Messgerät entgegen den Vorgaben in Ziffer 7.1.1 der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers nicht auf einem hinreichend festen Untergrund aufgestellt gewesen sei. So habe der als Zeuge vernommene Messbeamte zwar pauschal bestätigt, dass er die Messung entsprechend seiner Schulung und gemäß der Bedienungsanleitung durchgeführt habe, sich aber nicht mit Sicherheit daran erinnern können, dass er auf ausreichend festen Untergrund bei der Aufstellung des Messgeräts im Stativbetrieb geachtet habe. Zudem habe der hinzugezogene Sachverständige für Geräte zur Verkehrsüberwachung feststellen können, dass sich während der Messung der horizontale Schwenkwinkel des Messgerätes verändert habe, und daraus den Schluss gezogen, dass das Messgerät nicht auf einem hinreichend festen Untergrund aufgestellt worden sei und damit ein Verstoß gegen die Bedienungsanleitung vorliege. Das Amtsgericht ging deshalb nicht vom Vorliegen einer Messung im sog. standardisierten Messverfahren aus. Die damit erforderliche nachträgliche individuelle Überprüfung auf Messfehler sei dem Sachverständigen aufgrund der ihm vorliegenden Anknüpfungstatsachen aber nicht möglich gewesen, da die hierzu von ihm benötigten Daten durch das Gerät nicht gespeichert werden. Daher sei der Betroffene freizusprechen.

2. Das Rechtsbeschwerdegericht hat es regelmäßig hinzunehmen, wenn das Tatgericht einen Betroffenen freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag (st.Rspr.; BGH, Urt. v. 26.01.2021 – 1 StR 376/20; Beschl. v. 22.10.2019 – 1 StR 219/17; Urt. v. 29.04.2015 – 5 StR 79/15; v. 12.02.2015 – 4 StR 420/14 und v. 11.08.2011 – 4 StR 191/11, jew. bei juris m.w.N.). Denn die Beweis-würdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm al-lein obliegt es, das Ergeb-nis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungs-sätze verstößt (st.Rspr.; vgl. nur BGH, Urt. v. 13.10.2020 – 1 StR 299/20; 29.04.2015 – 5 StR 79/15 und v. 11.08.2011 – 4 StR 191/11, jew. bei juris m.w.N.). So liegt der Fall hier.

3. Zwar hat das Amtsgericht im Ansatz zutreffend erkannt, dass es sich bei der Gschwindigkeitsmessung mittels des Messgerätes PoliScanSpeed um ein sog. standardisiertes Messverfahren handelt (st.Rspr., vgl. nur jüngst OLG Naumburg, Beschl. v. 25.01.2021 – 1 Ws 205/20 bei juris). Bei Verwendung eines von der Physika-lisch-Technischen Bundesanstalt (im Folgenden: PTB) zugelassenen und gültig ge-eichten Messgeräts, das durch geschultes Personal entsprechend den Vorgaben der Bedienungsanleitung bedient wurde, ist das Tatgericht nicht gehalten, weitere technische Prüfungen, insbesondere auch zur Funktionsweise des Geräts zu veranlassen. Nur wenn sich im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte ergeben, die geeignet sind, Zwei-fel an der Richtigkeit des Messergebnisses zu begründen, kann eine nähere Über-prüfung des gemessenen Geschwindigkeitswertes – sei es durch einen Sachverständigen für Mess-technik, sei es durch eine ergänzende Stellungnahme der PTB oder des Geräteherstellers – geboten sein. Umständen, die abweichend vom Regelfall dem Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Messung entgegenstehen und konkrete Zweifel an der Funktionstüchtigkeit und der sach-gerechten Handhabung des einge-setzten Geschwindigkeitsmessgeräts begründen, muss das Gericht nachgehen (OLG Bamberg, Beschl. v. 15.12.2017 – 2 Ss OWi 1703/17 bei juris).

Hiervon ausgehend sah sich das Amtsgericht mit Blick auf seine Zweifel am Vorliegen eines ausreichend festen Untergrundes am Messplatz gehalten, sich zur Über-prüfung der Messung sachverständiger Hilfe zu bedienen. Jedoch ist die tatrichterliche Beweiswürdigung zum Fehlen eines derartigen Untergrundes, die sich wesentlich auf das Gutachten des Sachverständigen stützt, lückenhaft, da weder die tatsächlichen Anhaltspunkte noch die vom Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerungen so dargestellt werden, dass das Rechtsbeschwerdegericht überprüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht.

a) Der Tatrichter, der ein Sachverständigengutachten eingeholt hat und diesem Beweisbedeutung beimisst, muss auch dann, wenn er sich dem Gutachten des Sachverständigen anschließt, die Ausführungen des Sachverständigen in einer, wenn auch nur gedrängten, zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen wiedergeben, um dem Rechtsbeschwerdegericht die gebotene Nachprüfung zu er-möglichen, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage be-ruht und die Ergebnisse nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind (st.Rspr.; BGH, Urt. v. 02.04.2020 – 1 StR 28/20; 23.01.2020 – 3 StR 433/19; 22.05.2019 – 1 StR 79/19 und 24.01.2019 – 1 StR 564/18, jew. bei juris). Bei einem messtechnischen Sachverständigengutachten handelt es sich nicht um eine standardisierte Untersuchungsmethode, bei der sich die Darstellung im Wesentlichen auf die Mitteilung des erzielten Ergebnisses beschränken kann (BGH, Beschl. v. 24.01.2019 a.a.O.).

Diesen Anforderungen werden die Urteilsausführungen nicht gerecht. Der Senat kann schon nicht überprüfen, ob hier tatsächlich bei der Bedienung des Messgeräts von den Vorgaben der Bedienungsanleitung in Ziffer 7.1.1 abgewichen worden ist, wonach „das Messgerät so nah wie möglich am Fahrbahnrand“ zu platzieren und „insbesondere bei Stativbetrieb auf ausreichend festen Untergrund zu achten“ ist (vgl. S. 31 der Gebrauchsanweisung PoliScanSpeed M1/M1 HP – Software-Version 3.2.4 – Stand: 09.12.2014). Zwar hat der messtechnische Sach-verständige ausweislich der Urteilsgründe festgestellt, dass sich „während der Messung der horizontale Schwenkwinkel des Messgeräts verändert“ habe und dies darauf schließen lasse, dass das Messgerät nicht auf einem hinreichend festen Untergrund aufgestellt worden sei. Es wird aber weder mitgeteilt, anhand welcher Anknüpfungstatsachen der Sachverständige die Abweichung des Messwinkels „während der Messung“ festgestellt hat, noch geben die Urteils-gründe Aufschluss darüber, aufgrund welcher Methode die Abweichung festgestellt wurde und ob die Veränderung des Messwinkels zwingend darauf schließen lässt, dass das Messgerät entgegen der Bedienungsanleitung nicht auf ausreichend festem Grund stand oder ob hierfür weitere Ursachen denkbar sind. Unklar ist insbesondere, ob die Veränderung des horizontalen Schwenkwinkels während der laufenden Einzelmessung des Fahrzeugs des Betroffenen oder im Verlauf der gesamten Messreihe erfolgt ist.

b) Die Ausführungen der Tatrichterin lassen zudem besorgen, dass sie das Vorliegen eines sog. standardisierten Messverfahrens durch jedwede Abweichung von den Vorgaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers in Frage gestellt sieht. Dem ist aber nicht so, wie etwa die Problematik einer im Einzelfall nicht ausschließbaren bauartbedingten Berücksichtigung von Messpunkten und der hierdurch bedingten Generierung von Rohmessdaten mit entgegen der Bedienungsanleitung außer-halb des Messbereichs liegenden Ortskoordinaten bei dem Messgerät PoliScanSpeed zeigt, durch welche nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung auf der Grundlage einer entsprechenden Stellungnahme der PTB das Vorliegen eines sog. standardisierten Messverfahrens nicht in Frage gestellt ist (vgl. nur OLG Zwei-brücken DAR 2017, 211; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 21.04.2017 – Ss Rs 13/2017; KG, Beschl. v. 21.06.2017 – 162 Ss 90/17; OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.06.2017 – 1 Ss [OWi] 115/17, jew. bei juris; OLG Karlsruhe ZfSch 2017, 652; OLG Bamberg, Beschl. v. 24.07.2017 – 3 Ss OWi 976/17 bei juris; OLG Hamm, Be-schl. v. 18.08.2017 – 1 RBs 47/17 = BeckRS 2017, 123171). Abweichungen von Vor-gaben der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers vermögen mithin das Vorlie-gen eines sog. standardisierten Messverfahrens jedenfalls dann nicht in Frage zu stellen, wenn die Möglichkeit einer fehlerhaften Messung ausgeschlossen ist.

Das angefochtene Urteil lässt in diesem Zusammenhang insbesondere Ausführungen zu der Frage vermissen, ob die Aufstellung des Messgeräts entgegen Ziffer 7.7.1 der Bedienungsanleitung auf einem nicht ausreichend festen Untergrund über-haupt Einfluss auf das Messergebnis haben kann oder etwa lediglich eine bloße Empfehlung im Sinne einer Sollvorschrift dar-stellt, die lediglich eine höhere Annullierungsquote bei den Messungen verhindern soll, ohne das Messergebnis beeinflussen zu können (vgl. hierzu etwa OLG Naumburg, Beschl. v. 03.09.2015 – 2 WS 174/15 = BeckRS 2016, 6786 = DAR 2016, 403; KG, Beschl. v. 11.03.2009 – 3 Ws (B) 67/08 = BeckRS 2009, 28988). Die Stellungnahme der PTB vom 02.06.2016 zu der Frage, ob bei Laserscannern der PoliScan-Familie, mit denen aus einem stehenden Mess-fahr-zeug heraus gemessen wird, das Ein- und Aussteigen oder Bewegungen des Messpersonals im Messfahrzeug zu einer Falschmessung führen können (verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.7795/520.20160913B), könnte jedenfalls an der Möglich-keit eines Messfehlers zweifeln lassen.

c) Soweit das Amtsgericht (aus seiner Sicht konsequent) von einem individuellen Messverfahren ausgegangen ist, das die Vermutung der Richtigkeit und Genauigkeit für sich nicht in An-spruch nehmen kann (OLG Bamberg, Beschl. v. 15.12.2017 – 2 Ss OWi 1703/17 bei juris; OLG Naumburg DAR 2016, 403), hat es zwar im Ansatz zutreffend erkannt, dass etwaige Abweichungen von der Bedienungsanleitung nicht zur Unverwertbarkeit des Messergebnisses führen, sondern es dann, wenn es die Verurteilung auf ein solches, durch den Mangel eines Verstoßes gegen die Bedienungsanleitung belastetes Messergebnis stützen will, gehalten ist, dessen Korrektheit individuell zu überprüfen, was in aller Regel nicht ohne die Mitwirkung eines Sachverständigen möglich ist (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 15.12.2017 a.a.O.; OLG Koblenz DAR 2006, 101; KG VRS 116, 446; OLG Naumburg a.a.O.). Jedoch erweist sich die seinem Freispruch zugrunde liegende Beweiswürdigung auch insoweit als lückenhaft, als es auf der Grundlage der Ausführungen des messtechnischen Sachverständigen zu dem Ergebnis kommt, dass eine individuelle Überprüfung des Messergebnisses vorliegend nicht möglich sei.

Das angefochtene Urteil teilt hierzu lediglich mit, dass dem Sachverständigen eine nachträgliche Überprüfung auf Messfehler nicht möglich gewesen sei, weil die hierzu von ihm benötigten Daten durch das Messgerät nicht gespeichert werden. Diese Ausführungen lassen bereits nicht erkennen, welche „Daten“ der Sachverständige zur individuellen Überprüfung der Messung benötigt hätte. Sollte der Sachverständige insoweit auf den Umstand der fehlenden voll-ständigen Abspeicherung von Roh-messdatenpunkten durch das hier verwendete Messgerät abgestellt haben, so wäre das Amtsgericht gehalten gewesen, dies kritisch zu hinterfragen. Aus einer Vielzahl von Verfahren ist dem Senat bekannt, dass Messungen auch mit Messgeräten, die – wie hier – nur einen Bruchteil der Gesamtheit an Rohmessdatenpunkten in der Fallakte ausweisen, jedoch diverse zusätzliche Informationen bzw. Zusatzdaten speichern, durch messtechnische Sachverständige – ggf. unter Einbeziehung der Daten der Statistikdatei sowie der gesamten Messreihe – auf Irregularitäten überprüft werden können, welche auf eine technische Fehlfunktion der Messanlage oder eine fehlerhafte Bedienung derselben hinweisen und damit Zweifel an der Richtigkeit der erfolgten Messwertbildung sowie Messwertzuordnung begründen würden. Dabei werden bei dem hier eingesetzten Messgerät etwa auch fotogramme-tische Auswertungen der Messbilder durchgeführt sowie im Einzelfall eine zusätzliche näherungs-weise Plausibilitätsprüfung über den sog. Smear-Effekt vorgenommen. Nachdem schon in der Gegenerklärung der Verteidigung vom 28.03.2022 darauf hingewiesen wird, dass hier der Sachverständige jedenfalls in der Lage war, aufgrund des sog. Smear-Effektes (vgl. hierzu OLG Karlsruhe, Beschl. v. 29.07.2014 -1 [3] SsRs 569/11-AK 145/11 bei juris) eine Mindestgeschwindigkeit von 84 km/h zu ermitteln, ist für den Senat auch nicht nachvollziehbar, weshalb sich das Amtsgericht nicht einmal zur Feststellung einer von dem Betroffenen gefahrenen Mindestgeschwindigkeit von 84 km/h in der Lage gesehen hat, welche immer noch 24 km/h über der hier zulässigen Höchstgeschwindigkeit liegt.

Nach alledem kann der Freispruch des Betroffenen nicht bestehen bleiben.

III.

Aufgrund des aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mangels ist daher auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hin das angefochtene Urteil mit den diesem zu-grunde liegenden Fest-stellungen und in der Kostenentscheidung aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 353 StPO).

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht München zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

IV.

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

1. In der neuen Hauptverhandlung wird sich das Amtsgericht unter erneuter Hinzu-ziehung eines Sachverständigen sowie gegebenenfalls unter Einholung einer Stellungnahme der PTB insbesondere auch mit der von der Staatsanwaltschaft schon vor der letzten Hauptverhandlung eingeholten Stellungnahme der Herstellerfirma zur Frage einer möglichen Verfälschung von Messwerten durch Positionsveränderungen des Messgeräts auseinanderzusetzen haben. Danach soll es entscheidend darauf ankommen, ob das Messgerät während der konkreten Einzelmessung merklich verstellt worden ist, sich also während der Messung nicht in Ruhe befunden hat (wo-rüber ein Vergleich der Messung des Betroffenen gemäß Bild Nr. 62 mit der unmittelbar vorangegangenen Messung gemäß Bild Nr. 61 Aufschluss geben könnte), oder ob Verstellungen durch das Messpersonal während der laufenden Messreihe erfolgt sind, sich das Messgerät aber während der konkreten Einzelmessung in einer gleichbleibenden Position befunden hat. In dieser Stellungnahme wird weiter darauf hingewiesen, dass eine geringfügige Winkelverstellung, wie sie sich typischerweise durch das Einfedern eines Messfahrzeugs, Windböen beim Stativbetrieb oder Vibrationen bei Messungen auf Brücken, die gerade von schweren LKW oder Straßenbahnen befahren werden, ergeben, zu den normalen Betriebsbedingungen gehören und nicht als Verstellung einzustufen sind.

2. Bei der Problematik der erneuten Verhängung eines Fahrverbotes wird das Amts-gericht Folgendes zu bedenken haben:

Wann bei langer Verfahrensdauer der Zeitablauf entweder allein oder zusammen mit anderen Umständen ein Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen kann, ist eine Frage des Einzelfalls, die einen gewissen Beurteilungsspielraum für das Tatgericht eröffnet. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist die Tendenz erkennbar, den Sinn des Fahrverbots in Frage zu stellen, wenn die zu ahndende Tat mehr als zwei Jahre zu-rückliegt (vgl. BayObLG, Beschl. v. 06.07.2021 – 202 ObOWi 734/21 = BeckRS 2021, 46869; OLG Bamberg DAR 2008, 651; Hentschel/König/Dauer StVR 46. Aufl. § 25 StVG Rn. 23a m.w.N.), wobei grundsätzlich auf den Zeitraum zwischen Tat und letzter tatrichterlicher Entscheidung abzustellen ist (OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 385; OLG Bamberg, Beschl. v. 24.09.2012 – 2 Ss OWi 1086/12 [unveröffentlicht]). Allerdings kann daraus allein nicht gefolgert werden, dass bei einem mehr als zwei-jährigem Zeitablauf stets von der Verhängung eines Fahrverbots abzusehen wäre. Der Zeitraum von zwei Jahren führt nicht automatisch zu einem Absehen von einem Fahrverbot; er ist lediglich Anhaltspunkt dafür, dass eine tatrichterliche Prüfung, ob das Fahrverbot seinen erzieherischen Zweck im Hinblick auf den Zeitablauf noch er-füllen kann, veranlasst ist (OLG Brandenburg, Beschl. v. 26.2.2019 – [1 B] 53 Ss-OWi 608/18 [320/18] = BeckRS 2019, 2717). Diese Prüfung ist anhand der Umstän-de des konkreten Einzelfalls vorzunehmen (vgl. OLG Bamberg DAR 2008, 651; Be-schl. v. 10.03.2011 – 2 Ss OWi 1889/10; KG, Beschl. v. 21.08.2018 – 3 Ws [B] 185/18; jew. bei juris), wobei nicht nur zu berücksichtigen ist, ob die für die lange Verfahrensdauer maßgeblichen Umstände außerhalb des Einflussbereichs des Betroffenen liegen, sondern insbesondere auch, ob der Betroffene sich in der Zwischenzeit verkehrsordnungsgemäß verhalten hat (BayObLG, Beschl. v. 06.07.2021 a.a.O.).

V.

Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.

Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.


Die betroffenen Rechtsbereiche in diesem Urteil (Deutschland) sind:

  1. Verkehrsrecht: Das Urteil befasst sich mit einem Verstoß gegen die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts durch einen Kraftfahrzeugführer. Dabei wird die Beweiswürdigung bei der Geschwindigkeitsmessung mittels eines geeichten Messgeräts und dessen Aufstellung auf ausreichend festem Untergrund thematisiert.
  2. Strafrecht: Die Staatsanwaltschaft legt gegen den Freispruch des Amtsgerichts Rechtsbeschwerde ein und beruft sich auf die Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht und Sachrüge. Das Rechtsbeschwerdegericht prüft die Beweiswürdigung des Tatrichters auf Rechtsfehler und kommt zu dem Ergebnis, dass die den Freispruch aus tatsächlichen Gründen tragende Beweiswürdigung lückenhaft ist.
  3. Prozessrecht: Die Generalstaatsanwaltschaft vertritt die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft und beantragt die Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts mit den zugrunde liegenden Feststellungen und die Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht. Der Verteidiger des Betroffenen gibt eine Gegenerklärung zur Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft und zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft ab.
  4. Mess- und Eichwesen: Das Urteil befasst sich mit der Verwendung eines geeichten Messgeräts zur Geschwindigkeitsmessung im Straßenverkehr und den Vorgaben in der Bedienungsanleitung des Geräteherstellers zur Aufstellung auf ausreichend festem Untergrund.

Insgesamt behandelt das Urteil somit Themen aus dem Verkehrsrecht, Strafrecht, Prozessrecht und Mess- und Eichwesen.

Die wichtigsten Aussagen in diesem Urteil:

  1. Das Amtsgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil das Messgerät, das die Geschwindigkeit gemessen hat, entgegen den Vorgaben des Geräteherstellers nicht auf einem ausreichend festen Untergrund stand und somit nicht im standardisierten Messverfahren verwendet werden konnte.
  2. Das Rechtsbeschwerdegericht hebt das Urteil des Amtsgerichts auf, da die Beweiswürdigung lückenhaft ist und die den Freispruch tragende Beweiswürdigung nicht ausreichend ist.
  3. Die Ausführungen des Amtsgerichts zur Überprüfung der Messung durch einen Sachverständigen sind lückenhaft, da der Sachverständige nicht ausreichend beschrieben wurde und die Anknüpfungstatsachen für die Beweiswürdigung nicht klar dargestellt wurden.
  4. Das Rechtsbeschwerdegericht stellt klar, dass nicht jede Abweichung von den Vorgaben des Geräteherstellers das Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens in Frage stellt.
  5. Ein Sachverständigengutachten muss in einer zusammenfassenden Darstellung die zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen wiedergeben, um dem Rechtsbeschwerdegericht die gebotene Nachprüfung zu ermöglichen.

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

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