Übersicht
- Das Wichtigste: Kurz & knapp
- Geblitzt in Hessen? Was das neue OLG-Urteil zur Akteneinsicht für Sie bedeutet
- Der Fall: Ein alltäglicher Tempoverstoß mit grundsätzlichen Fragen
- Die Kernfragen des Gerichts und die neuen Leitlinien
- Der Grundsatz der „Rückführbarkeit“ der Auswertung
- Die Grenzen der Rückführbarkeit: Der amtliche Messwert selbst
- Wie Betroffene (ohne Anwalt) an die Daten kommen
- Was gilt für die anwaltliche Vertretung?
- Der richtige Zeitpunkt: Prüfung vor der Hauptverhandlung
- Kurz erklärt: Das „standardisierte Messverfahren“
- Warum ist das relevant für MICH? Die praktischen Auswirkungen des Urteils
- Einordnung und Hintergrund: Das Recht im digitalen Zeitalter
- Häufig gestellte Fragen zur Entscheidung des OLG
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was ändert sich durch dieses Urteil konkret für mich als Autofahrer in Hessen, wenn ich geblitzt werde?
- Ich wurde geblitzt und habe keinen Anwalt. Wie genau komme ich jetzt an diese „Falldatei“, um die Messung zu überprüfen?
- Mein Anwalt kümmert sich um meinen Bußgeldbescheid. Erhält er die Falldatei automatisch oder muss er etwas Spezielles tun?
- Wenn die Messung durch ein „standardisiertes Messverfahren“ erfolgte, was kann ich oder mein Anwalt durch die Einsicht in die Falldatei überhaupt noch erreichen?
- Wann ist der richtige Zeitpunkt, um die Einsicht in die Falldatei zu beantragen? Gibt es Fristen?
- Mit welchen Kosten muss ich rechnen, wenn ich die Falldatei einsehen oder zugeschickt bekommen möchte?
- Warum hat das OLG Frankfurt diese ausführlichen Regelungen getroffen, obwohl der Autofahrer im konkreten Fall gar keinen Erfolg hatte?

Das Wichtigste: Kurz & knapp
- Wenn Sie in Hessen geblitzt wurden, gibt es jetzt klare Regeln, wie Sie die digitalen Beweise überprüfen können. Das betrifft Autofahrer, die in Hessen wegen zu schnellen Fahrens einen Bußgeldbescheid erhalten.
- Sie oder Ihr Anwalt haben das Recht, die verschlüsselten digitalen Messdaten (‚Falldatei‘) einzusehen und zu überprüfen. Dafür müssen Sie aktiv werden: Entweder bei der Behörde in Kassel prüfen (kostenlos) oder eine Kopie erhalten und ggf. eigene Software kaufen.
- Ziel ist herauszufinden, ob bei der Zuordnung von Foto und Geschwindigkeit zu Ihrem Fahrzeug Fehler passiert sind.
- Wichtig: Diese Prüfung muss vor einem möglichen Gerichtstermin erfolgen. Das Gericht hat die Regeln geklärt, um mehr Transparenz beim Umgang mit digitalen Beweismitteln zu schaffen.
Quelle: OLG Frankfurt am Main (Az. 2 Orbs 233/24) vom 04. März 2025
Geblitzt in Hessen? Was das neue OLG-Urteil zur Akteneinsicht für Sie bedeutet
Ein unachtsamer Moment auf der Autobahn, ein kurzer Blick zu viel auf das Navigationsgerät, und schon ist es passiert: das unliebsame rote Aufleuchten des Blitzers. Für viele Autofahrer in Hessen folgt daraufhin oft ein Bußgeldbescheid, der nicht nur das Portemonnaie, sondern auch das Punktekonto in Flensburg belasten kann. Doch was, wenn Zweifel an der Messung aufkommen? Wie kann man als Betroffener überprüfen, ob bei der Geschwindigkeitsmessung alles mit rechten Dingen zugegangen ist?
Genau diese Fragen standen im Mittelpunkt einer aktuellen Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt am Main (Az. 2 Orbs 233/24), die weitreichende Klarstellungen für den Zugang zu den Messdaten, der sogenannten „Falldatei“, mit sich bringt. Auch wenn das Gericht im konkreten Fall die Beschwerde eines Autofahrers aus formalen Gründen zurückwies, nutzten die Richter die Gelegenheit, um die Spielregeln für die Einsicht in diese digitalen Beweismittel für ganz Hessen neu zu justieren.
Für Sie als Leser bedeutet das: Es gibt nun präzisere Vorgaben, wie Sie oder Ihr Anwalt an die entscheidenden Informationen gelangen können, um einen Bußgeldbescheid kritisch zu hinterfragen.
Dieser Artikel beleuchtet das Urteil, erklärt die Hintergründe und zeigt auf, welche praktischen Konsequenzen sich daraus für Sie ergeben, wenn Sie selbst einmal in eine solche Situation geraten. Denn auch wenn juristische Texte oft komplex erscheinen, ist das Verständnis Ihrer Rechte der erste Schritt zu einer erfolgreichen Verteidigung.
Der Fall: Ein alltäglicher Tempoverstoß mit grundsätzlichen Fragen
Am Anfang stand ein Vorfall, wie er täglich auf deutschen Straßen geschieht: Herr K. (Name geändert) war am 4. Januar 2024 auf der Autobahn A 643 bei Kilometer 298,8 in Richtung Mainz unterwegs. Erlaubt waren an dieser Stelle 80 km/h. Das Messgerät erfasste Herrn K. jedoch mit einer Geschwindigkeit von 107 km/h, bereits nach Abzug der üblichen Toleranz. Die Überschreitung betrug somit 27 km/h. Die Zentrale Bußgeldstelle in Kassel, die für solche Verfahren in Hessen zuständig ist, erließ daraufhin einen Bußgeldbescheid über 240 Euro.
Herr K. wollte dies nicht ohne Weiteres akzeptieren. Das Amtsgericht Wiesbaden bestätigte in erster Instanz am 7. August 2024 (Az. 5561 Js-OWi 26580/24) jedoch die Geldbuße. Daraufhin legte der Verteidiger von Herrn K. Rechtsbeschwerde beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main ein. Ein Kernpunkt seiner Argumentation war die Forderung nach Überlassung der vollständigen digitalen „Falldatei“ durch die Bußgeldstelle. Ohne diese Datei, so der Verteidiger, sei eine effektive Überprüfung der Messung nicht möglich.
Das OLG Frankfurt wies den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zwar ab. Der Grund hierfür war formaler Natur: Die Rüge des Verteidigers, also die Beanstandung des vorinstanzlichen Urteils, sei prozessual nicht korrekt erhoben worden und daher unzulässig. Damit war der Fall für Herrn K. juristisch beendet.
Doch die Richter des OLG sahen in dem Fall offenbar eine willkommene Gelegenheit, grundsätzliche Fragen zu klären, die viele ähnliche Verfahren betreffen. Angesichts zahlreicher, nach Ansicht des Gerichts „rechtlich und tatsächlich unzutreffender Behauptungen“ in Anwaltsschriftsätzen zu diesem Thema, fühlte sich der Senat veranlasst, die Grundsätze der Überprüfbarkeit von Geschwindigkeitsmessungen und den Zugang zur Falldatei umfassend darzulegen.
Das digitale Herzstück: Was ist die „Falldatei“?
Um die Bedeutung der OLG-Entscheidung zu verstehen, muss man wissen, was sich hinter dem Begriff „Falldatei“ verbirgt. Die Falldatei ist das vom Messgerät erzeugte digitale Original-Beweismittel. Sie ist sozusagen der digitale Fingerabdruck des Geschwindigkeitsverstoßes. Sie enthält den amtlichen Messwert (also die festgestellte Geschwindigkeit) und das dazugehörige Messbild, das klassische Blitzerfoto. Diese Datei wird aus den Rohmessdaten des Geräts gebildet, welche danach, so das Gericht, „nicht mehr existent sind, weil sie im amtlichen Messwert aufgehen.“
Eine entscheidende Eigenschaft dieser Falldatei ist ihre Verschlüsselung. Um die Daten lesbar und auswertbar zu machen, benötigt man ein spezielles, zugelassenes Auswerteprogramm und die passenden digitalen Schlüssel zur Entschlüsselung. Sowohl dieses Programm als auch die Schlüssel werden in Hessen zentral bei der Zentralen Bußgeldstelle in Kassel vorgehalten. Diese Behörde ist nicht nur für den Erlass der Bußgeldbescheide zuständig, sondern muss auch vorab die Tragfähigkeit der Beweismittel prüfen.
Das bedeutet, sie entschlüsselt die Falldatei, wertet sie mit dem Programm aus und wandelt sie in eine lesbare Version um. Ein Mitarbeiter der Bußgeldstelle ordnet dann den Messwert einem Objekt auf dem Messbild zu, also dem Fahrzeug, und stellt so den Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit, Fahrzeug und dem (mutmaßlichen) Fahrer her. Dieser gesamte Vorgang wird als „Auswertung“ bezeichnet.
Die Kernfragen des Gerichts und die neuen Leitlinien
Das OLG Frankfurt musste sich zwar nicht mehr mit dem konkreten Geschwindigkeitsverstoß von Herrn K. befassen, aber es beantwortete die übergeordnete Frage: Wie können Betroffene und ihre Verteidiger die Auswertung der Bußgeldstelle überprüfen, wenn die entscheidenden Daten verschlüsselt sind und spezielle Software erfordern? Die Antwort des Gerichts lässt sich in mehreren Kernpunkten zusammenfassen, die nun als Leitlinien für Hessen gelten.
Der Grundsatz der „Rückführbarkeit“ der Auswertung
Ein zentraler Pfeiler der OLG-Entscheidung ist der Grundsatz der Rückführbarkeit. Damit ist gemeint, dass der Prozess der Auswertung der Falldatei – also die Umwandlung der verschlüsselten Daten in ein lesbares Format und die Zuordnung von Messwert und Foto – jederzeit von allen Verfahrensbeteiligten eigenständig wiederholt werden können muss. Zu den Verfahrensbeteiligten zählen das Gericht, die Staatsanwaltschaft, aber eben auch der Betroffene selbst oder sein Verteidiger. Um dies zu gewährleisten, so das OLG, muss die Bußgeldstelle die notwendigen Beweismittel (die Falldatei) und die Hilfsmittel (das Auswerteprogramm und die Schlüssel) bereithalten.
Die Grenzen der Rückführbarkeit: Der amtliche Messwert selbst
Wichtig ist jedoch eine Einschränkung, die das Gericht macht: Vom Grundsatz der Rückführbarkeit nicht erfasst ist der amtliche Messwert selbst. Dieser ist technisch nicht rückführbar, da er die Dokumentation eines abgeschlossenen, singulären Ereignisses in der Vergangenheit darstellt. Die Richtigkeit dieses Messwerts, so das OLG, wird stattdessen durch das sogenannte „standardisierte Messverfahren“ garantiert.
Was das genau bedeutet, erläutern wir später. Eine nachträgliche Überprüfung des reinen Messwerts ist nur sehr eingeschränkt möglich, etwa durch eine sogenannte Befundprüfung des Messgeräts durch die Eichämter gemäß § 39 Mess- und Eichgesetz (MessEG).
Wie Betroffene (ohne Anwalt) an die Daten kommen
Das OLG legt großen Wert darauf, dass jeder Bürger in Hessen seine Rechte im Bußgeldverfahren auch ohne Anwalt wahrnehmen können muss. Das bedeutet konkret, dass er die Zuordnung des Messwerts zu seinem Fahrzeug und des Fotos zu seiner Person anhand der Falldatei selbst überprüfen können muss.
Hierfür gibt es laut OLG folgende Wege:
- Einsicht und Auswertung vor Ort: Der Betroffene kann bei der Zentralen Bußgeldstelle in Kassel einen Termin vereinbaren. Dort kann er die unausgewertete, also noch verschlüsselte Falldatei einsehen und sie mit dem dort vorgehaltenen Auswerteprogramm und dem Schlüssel selbstständig auswerten. Dieser Weg ist kostenfrei, erfordert aber die Anreise nach Kassel.
- Zusendung einer Kopie der unausgewerteten Falldatei: Eine Kopie der rohen, verschlüsselten Falldatei kann dem Betroffenen nur auf einem sogenannten „sicheren Übermittlungsweg“ nach § 32a Abs. 4 Strafprozessordnung (StPO) zugesandt werden. Verfügt der Betroffene nicht über einen solchen (z.B. De-Mail oder ein besonderes elektronisches Bürgerpostfach), kann er in Hessen bei der Zentralen Bußgeldstelle eine sichere Übersendung auf andere Art und Weise auf eigene Kosten beantragen. Wichtig hierbei: Das Auswerteprogramm und der Schlüssel werden nicht mitgeliefert. Wenn der Betroffene die Datei also zu Hause auswerten will und nicht die kostenlose Möglichkeit bei der Bußgeldstelle nutzen möchte, muss er das Programm vom Hersteller und den Schlüssel vom Eichamt auf eigene Kosten erwerben.
- Zusendung der bereits ausgewerteten Falldatei: Der Betroffene kann auch beantragen, dass ihm die bereits von der Behörde ausgewertete Falldatei (also Messbild und Messwert in lesbarer Form) zugesandt wird. Hierfür sind dann kein spezielles Programm und kein Schlüssel mehr nötig. Allerdings muss der Betroffene in diesem Fall, so das Gericht, auf die Authentizität der von der Behörde aufbereiteten Daten vertrauen.
Was gilt für die anwaltliche Vertretung?
Wird ein Anwalt eingeschaltet, gelten ähnliche Grundsätze. Der Verteidiger kann ebenfalls die unausgewertete Falldatei bei der Bußgeldstelle einsehen und auswerten. Alternativ kann er eine Kopie der unausgewerteten Falldatei beantragen. Diese wird ihm dann über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) zugesandt, welches als sicherer Übermittlungsweg gilt. Auch hier gilt: Das Auswerteprogramm und der Schlüssel werden nicht mitgeschickt. Diese muss der Anwalt bzw. sein Mandant auf eigene Kosten erwerben, falls die Auswertung nicht bei der Bußgeldstelle erfolgen soll.
Das OLG erteilte dabei Argumenten eine klare Absage, die lediglich auf „Bequemlichkeit für die Verteidigung“ oder den Wunsch nach „bestimmten Datenformaten“ abzielen. Solange ein kostenfreier Zugang zu den Beweismitteln inklusive der Möglichkeit zur eigenen Auswertung bei der Bußgeldstelle besteht, seien solche Wünsche keine gesetzlich anerkannten Kriterien. Die „Zumutbarkeit“, die prozessualen Voraussetzungen zu erfüllen, ergebe sich daraus, dass der Verteidiger das Mandat angenommen habe und dafür bezahlt werde.
Ein wichtiger Punkt ist auch die Unterscheidung zur normalen Akte: Die nicht ausgewertete, digitale Falldatei ist laut OLG nicht automatisch Bestandteil der regulären Verfahrensakte. Sie ist ein separates Beweismittel, das bei der Bußgeldstelle zur Besichtigung bereitliegt.
Der richtige Zeitpunkt: Prüfung vor der Hauptverhandlung
Das Gericht stellt unmissverständlich klar: Die Auswertungsprüfung durch den Betroffenen oder seinen Verteidiger hat vor der Hauptverhandlung stattzufinden. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, die Richtigkeit der Messung in der Hauptverhandlung von Grund auf neu zu überprüfen, wenn sich aus der Verfahrensakte – also den Unterlagen, die dem Gericht vorliegen – keine konkreten, tatsachenfundierten Anhaltspunkte für Fehler ergeben. Der mit einem standardisierten Messverfahren ermittelte Messwert gilt grundsätzlich als physikalisch zutreffend.
Kurz erklärt: Das „standardisierte Messverfahren“
Dieser Begriff spielt eine Schlüsselrolle. Wenn ein Messgerät und das dazugehörige Verfahren von einer zuständigen Stelle (in Deutschland meist die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, PTB) für den amtlichen Einsatz zugelassen sind und die Messung nach den Vorgaben des Herstellers und den innerdienstlichen Anweisungen der Behörden durchgeführt wurde, spricht man von einem standardisierten Messverfahren.
Der Vorteil: Gerichte gehen dann in der Regel davon aus, dass das Messergebnis korrekt ist. Die Beweisaufnahme konzentriert sich dann meist nur noch auf die Frage, ob das richtige Fahrzeug abgebildet wurde und wer am Steuer saß. Eine Anfechtung der Messung selbst ist bei standardisierten Verfahren deutlich schwieriger und erfordert konkrete Anhaltspunkte für Fehler im Einzelfall.
Warum ist das relevant für MICH? Die praktischen Auswirkungen des Urteils
Die Entscheidung des OLG Frankfurt hat direkte Auswirkungen darauf, wie Sie sich gegen einen Bußgeldbescheid wegen zu schnellen Fahrens in Hessen zur Wehr setzen können.
1. Mehr Klarheit beim Datenzugang:
Vor diesem Urteil gab es oft Unsicherheiten und Streit darüber, wie und in welcher Form Betroffene und ihre Anwälte Zugang zur Falldatei erhalten. Das OLG hat nun klare Wege aufgezeigt. Die „Vorher-Nachher“-Perspektive ist deutlich: Gab es vorher oft ein Tauziehen um die Daten, gibt es jetzt einen vom OLG vorgezeichneten, wenn auch nicht immer einfachen, Pfad. Sie wissen nun, dass Sie grundsätzlich das Recht haben, die Rohdaten einzusehen und selbst (oder durch einen Anwalt) auszuwerten, sei es bei der Bußgeldstelle oder unter bestimmten Umständen auch extern.
2. Eigeninitiative ist entscheidend:
Das Urteil betont die Verantwortung des Betroffenen und seines Verteidigers. Sie müssen aktiv werden, um die Messung zu überprüfen. Ein einfaches Bestreiten der Geschwindigkeit reicht nicht aus. Wenn Sie Zweifel haben, müssen Sie oder Ihr Anwalt die Einsicht in die Falldatei beantragen und diese vor der Gerichtsverhandlung auswerten. Nur wenn dabei konkrete Anhaltspunkte für Fehler gefunden werden (z.B. falsche Zuordnung, Reflexionen, fehlerhafte Daten in der Datei), hat eine Beanstandung der Messung vor Gericht Aussicht auf Erfolg.
3. Fokus auf Verfahrensfehler und Datenanomalien:
Da der Messwert bei standardisierten Verfahren als korrekt gilt, verschiebt sich der Fokus der Verteidigung. Es geht weniger darum, die Messtechnik an sich in Frage zu stellen, sondern vielmehr darum, Fehler im konkreten Messvorgang, bei der Auswertung durch die Behörde oder in der digitalen Falldatei selbst aufzudecken. Das können beispielsweise Probleme mit der Eichung des Geräts sein (die über die Falldatei hinausgehen und ggf. separate Nachforschungen erfordern), eine fehlerhafte Bedienung, untypische Umfeldbedingungen oder Inkonsistenzen in den digitalen Daten.
4. Kosten und Aufwand bedenken:
Der kostenfreie Zugang zur Selbstauswertung ist an einen Besuch bei der Zentralen Bußgeldstelle in Kassel geknüpft. Die Zusendung von Kopien oder die Beschaffung eigener Auswertesoftware und Schlüssel ist mit Kosten verbunden. Dies ist ein wichtiger Faktor, den Betroffene in ihre Überlegungen einbeziehen müssen, ob sich der Aufwand lohnt. Für einen Anwalt gehört die Prüfung dieser Optionen und die Beratung über Kosten und Nutzen zum Mandat.
5. Wichtige Fristen und der richtige Zeitpunkt:
Die Überprüfung muss vor der Hauptverhandlung abgeschlossen sein. Argumente, die erst im Gerichtssaal vorgebracht werden, ohne dass zuvor die Falldatei geprüft wurde, dürften es schwer haben. Es ist daher ratsam, nach Erhalt eines Anhörungsbogens oder spätestens eines Bußgeldbescheids umgehend zu handeln, wenn Zweifel an der Messung bestehen. Oftmals wird im Rahmen eines Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid dann Akteneinsicht beantragt, die nun auch die spezifische Anforderung der Falldatei umfassen sollte.
Einordnung und Hintergrund: Das Recht im digitalen Zeitalter
Dieses Urteil des OLG Frankfurt steht beispielhaft für die Herausforderungen, vor denen das Rechtssystem im digitalen Zeitalter steht. Beweismittel sind immer häufiger nicht mehr physische Dokumente, sondern komplexe, oft verschlüsselte digitale Datensätze. Gerichte müssen hier Wege finden, die Grundsätze eines fairen Verfahrens, insbesondere das Recht auf Akteneinsicht und effektive Verteidigung (Grundsatz des rechtlichen Gehörs), mit den technischen Gegebenheiten und den Sicherheitsinteressen der Behörden in Einklang zu bringen.
Das zugrundeliegende Rechtsgebiet ist das Ordnungswidrigkeitenrecht, das im Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) geregelt ist. Bei Verfahrensfragen, wie der Akteneinsicht, verweist das OWiG oft auf die Strafprozessordnung (StPO), wie hier z.B. auf § 147 StPO (Akteneinsicht) oder § 32a StPO (elektronische Kommunikation).
Die Entscheidung des OLG Frankfurt ist für Hessen von großer Bedeutung, da sie als Leitentscheidung für untergeordnete Gerichte und Bußgeldbehörden dienen wird. Da das OLG klarstellt, dass seine Entscheidung nicht weiter anfechtbar ist, sind die aufgestellten Grundsätze für die hessische Praxis bindend. Es zeigt sich ein Bestreben, Transparenz zu schaffen, gleichzeitig aber auch die Effizienz der Justiz zu wahren, indem die Überprüfungspflicht der Gerichte begrenzt wird, wenn die Verteidigung nicht proaktiv fundierte Zweifel anmeldet.
Für Betroffene bedeutet dies, dass der Ball nun stärker in ihrem Feld liegt. Die Möglichkeit zur Überprüfung ist da, aber sie muss aktiv und kenntnisreich genutzt werden. Es reicht nicht, pauschal die Messung anzuzweifeln. Vielmehr müssen, idealerweise mit anwaltlicher Hilfe, die digitalen Spuren sorgfältig analysiert werden, um tatsächliche Fehler aufzudecken. Das Urteil ist somit ein wichtiger Schritt zu mehr Nachvollziehbarkeit bei Geschwindigkeitsmessungen, verlangt aber auch ein informiertes und engagiertes Vorgehen derjenigen, die sich zu Unrecht geblitzt fühlen.
Häufig gestellte Fragen zur Entscheidung des OLG
Nachfolgend beantworten wir die häufigsten Fragen zu unserem Artikel über das OLG-Urteil zur Akteneinsicht bei Geschwindigkeitsmessungen in Hessen und dessen Auswirkungen für Sie.
