Fahrtenbuchauflage in Frage gestellt: Die Einzelheiten des OVG NRW Beschlusses
In einer jüngsten und faszinierenden Wendung hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) den vorherigen Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf bezüglich der Fahrtenbuchauflage weitgehend geändert. Der Fall dreht sich um die spannende Frage, wer im Falle einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften verantwortlich ist, wenn der Fahrer nicht ermittelt werden kann. Dabei wirft das Gericht einen kritischen Blick auf die Voraussetzungen und die Durchsetzung einer Fahrtenbuchauflage, was weitreichende Auswirkungen auf zukünftige Entscheidungen haben könnte.
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Übersicht
Neubewertung der Fahrtenbuchauflage: Das Verfahren
Der Fall wurde aufgrund einer Beschwerde von der Antragstellerin vor das OVG NRW gebracht. In der Revision stellte das Gericht fest, dass die Beschwerde zulässig und begründet ist. Grundlegend ging es darum, dass die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin hinsichtlich der ursprünglichen Fahrtenbuchauflage wiederhergestellt werden sollte. Interessanterweise kippte das Gericht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf und stellte das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin über das öffentliche Interesse am Vollzug der angefochtenen Maßnahme.
Die rechtlichen Grundlagen und das Interesse der Antragstellerin
Die Gründe für diese Entscheidung liegen in der gesetzlichen Grundlage. Nach § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO kann eine Fahrtenbuchauflage angeordnet werden, wenn die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war. Dies setzt voraus, dass die zuständige Behörde trotz aller angemessenen und zumutbaren Maßnahmen nicht in der Lage war, den Täter zu ermitteln. Darüber hinaus muss der Fahrzeughalter im Regelfall innerhalb von zwei Wochen von dem mit seinem Fahrzeug begangenen Verkehrsverstoß benachrichtigt werden. Dies ermöglicht es ihm, den möglichen Täterkreis einzugrenzen und zur Aufklärung des Verkehrsverstoßes beizutragen.
Die Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis
Die aktuelle Entscheidung des OVG NRW könnte Auswirkungen auf die Handhabung von Fahrtenbuchauflagen haben. Es stärkt die Position der Fahrzeughalter und unterstreicht die Notwendigkeit angemessener Ermittlungen bei Verkehrsverstößen. Gleichzeitig wird die Anforderung hervorgehoben, dass Fahrzeughalter möglichst umgehend über Verkehrsverstöße informiert werden müssen, um ihre Mitwirkungspflichten erfüllen zu können.
Das vorliegende Urteil
Oberverwaltungsgericht NRW – Az.: 8 B 185/23 – Beschluss vom 03.05.2023
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 1. Februar 2023 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin (Verwaltungsgericht Düsseldorf 6 K 8993/22) gegen die mit Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 8. Dezember 2022 verfügte Fahrtenbuchauflage wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 1.200,00 Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig und begründet.

Auf der Grundlage der von der Antragstellerin fristgerecht dargelegten Gründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ist der angefochtene Beschluss zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin hinsichtlich der mit Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 8. Dezember 2022 verfügten Fahrtenbuchauflage wiederherzustellen.
Bei der im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO durchzuführenden Interessenabwägung überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das öffentliche Interesse am Vollzug der angefochtenen Maßnahme, da nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand Überwiegendes dafür spricht, dass die in der Hauptsache angegriffene Fahrtenbuchauflage als rechtswidrig einzustufen ist und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt, die beim Verwaltungsgericht Düsseldorf – 6 K 8993/22 – anhängige Klage der Antragstellerin somit Erfolg haben wird.
Nach § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO kann die nach Landesrecht zuständige Behörde gegenüber einem Fahrzeughalter für ein oder mehrere auf ihn zugelassene oder künftig zuzulassende Fahrzeuge die Führung eines Fahrtenbuchs anordnen, wenn die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war. Dies ist dann der Fall, wenn die Bußgeldbehörde nach den Umständen des Einzelfalls nicht in der Lage war, den Täter einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat. Ob die Aufklärung angemessen war, richtet sich danach, ob die Behörde in sachgerechtem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen getroffen hat, die der Bedeutung des aufzuklärenden Verkehrsverstoßes gerecht werden und erfahrungsgemäß Erfolg haben können. Zu den danach angemessenen Ermittlungsmaßnahmen gehört in erster Linie, dass der Halter möglichst umgehend ‑ im Regelfall innerhalb von zwei Wochen ‑ von dem mit seinem Fahrzeug begangenen Verkehrsverstoß benachrichtigt wird, damit er die Frage, wer zur Tatzeit sein Fahrzeug geführt hat, noch zuverlässig beantworten kann und der Täter Entlastungsgründe vorbringen kann. Eine solche Benachrichtigung begründet für den Halter eine Obliegenheit, zur Aufklärung des mit seinem Fahrzeug begangenen Verkehrsverstoßes so weit mitzuwirken, wie es ihm möglich und zumutbar ist. Dazu gehört es insbesondere, dass er den bekannten oder auf einem vorgelegten Lichtbild erkannten Fahrer benennt oder zumindest den möglichen Täterkreis eingrenzt und die Täterfeststellung durch Nachfragen im Kreis der Nutzungsberechtigten fördert. Art und Umfang der Ermittlungstätigkeit der Bußgeldbehörde können sich im Weiteren an den Erklärungen des Fahrzeughalters ausrichten. Lehnt dieser erkennbar die Mitwirkung an der Ermittlung der für den Verkehrsverstoß verantwortlichen Person ab und liegen der Bußgeldbehörde auch sonst keine konkreten Ermittlungsansätze vor, ist es dieser regelmäßig nicht zuzumuten, wahllos zeitraubende, kaum Aussicht auf Erfolg bietende Ermittlungen zu betreiben.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1982 ‑ 7 C 3.80 ‑, juris Rn. 7; OVG NRW, Beschlüsse vom 7. Dezember 2021 ‑ 8 B 1475/21 ‑ juris Rn. 3, und vom 22. Juli 2020 ‑ 8 B 892/20 ‑, juris Rn. 15.
Ausgehend hiervon bestehen vorliegend bei der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes einzig möglichen und gebotenen summarischen Prüfung durchgreifende Zweifel daran, dass die Ermittlung des verantwortlichen Fahrzeugführers im Sinne von § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO unmöglich war. Es spricht vielmehr Überwiegendes dafür, dass der gegenüber Herrn O. ergangene Bußgeldbescheid vom 20. September 2022 hätte aufrechterhalten bleiben können.
Zwar ist die Feststellung des Fahrers auch dann unmöglich, wenn die Ermittlungen auf einen bestimmten Täter hindeuten und eine Person ernsthaft verdächtig ist, die Behörde jedoch keine ausreichende Überzeugung von der Täterschaft des Verdächtigen gewinnen konnte. Nichts anderes gilt, wenn zwar die Bußgeldbehörde einen Bußgeldbescheid erlassen hat, dann allerdings im Zwischenverfahren gemäß § 69 Abs. 2 OWiG das Verfahren einstellt, da letztlich doch keine ausreichende Überzeugung von der Täterschaft gewonnen werden konnte. Abzustellen ist dabei auf das im Ordnungswidrigkeitenverfahren erforderliche Maß der Überzeugung.
Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Juni 2020 ‑ 8 A 1423/19 ‑, juris Rn. 30, und vom 15. Mai 2018 ‑ 8 A 740/18 ‑, juris Rn. 39 ff.; Dauer in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, StVZO, § 31a Rn. 25.
Ist die Feststellung des Fahrzeugführers unmöglich, kommt es weiter nicht darauf an, ob der Fahrzeughalter seine Mitwirkungspflicht erfüllt hat, indem er alle ihm möglichen Angaben gemacht hat, oder ob ihn ein Verschulden an der Unmöglichkeit der Feststellung des Fahrzeugführers trifft. Denn die Fahrtenbuchauflage hat eine präventive und keine strafende Funktion. Sie stellt eine der Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs dienende Maßnahme der Gefahrenabwehr dar, mit der dafür Sorge getragen werden soll, dass künftige Feststellungen eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften ohne Schwierigkeiten möglich sind. Die Führung eines Fahrtenbuchs kann daher auch dann angeordnet werden, wenn der Fahrzeughalter an der Feststellung mitgewirkt hat, die gebotenen Ermittlungsbemühungen der Behörde jedoch gleichwohl erfolglos geblieben sind.
Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Juni 2020 ‑ 8 A 1423/19 ‑, juris Rn. 27, und vom 25. Januar 2018 – 8 A 1587/16 -, juris Rn. 13.
Vorliegend hat indes die Bußgeldbehörde nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand wohl nicht alle gebotenen und angemessenen Ermittlungsmaßnahmen ergriffen, nachdem die Antragstellerin unter dem 16. August 2022 mitgeteilt hatte, sie habe das Fahrzeug zum Tatzeitpunkt Herrn C. O. , geb. am 00. Januar 0000 in Teheran, Anschrift: I. Straße 110, E. , überlassen, und entsprechend ein Bußgeldbescheid gegenüber Herrn O. ergangen war.
Zwar hat Herr O. über einen Rechtsanwalt Einspruch einlegen und ankündigen lassen, sich nicht zur Sache zu äußern. Die Bußgeldbehörde versuchte daraufhin vergeblich, über das Einwohnermeldeamt und die Ausländerbehörde ein Personalausweis-/Passfoto zwecks Lichtbildabgleichs anzufordern. Eine EMA-Abfrage blieb laut Vermerk vom 26. Oktober 2022 erfolglos. Dies war jedoch auf Vertauschung von Vor- und Zuname des Herrn O. zurückzuführen, die anhand der Namensangabe der Antragstellerin vom 16. August 2022 („C. O. “ – ohne Komma, wie es bei nach dem Formblatt eigentlich vorgesehener Erstnennung des Nachnamens zu erwarten gewesen wäre), vor allem aber wegen der zutreffenden Namensnennung durch dessen Rechtsanwalt für die Antragsgegnerin erkennbar bzw. vermeidbar gewesen wäre. Soweit die Antragsgegnerin sich darauf beruft, „aufgrund der nicht auf den ersten Blick völlig eindeutigen Namensbesonderheit“ ‑ damit dürfte der Umstand gemeint sein, dass es sich um einen ausländischen Namen handelt ‑ hätte es der Antragstellerin zumindest oblegen, eine besondere Sorgfalt bei der Übermittlung des Vor- und Nachnamens an den Tag zu legen, ist dem entgegenzuhalten, dass eine Sorgfaltspflicht zumindest ebenso auch auf Seiten der Bußgeldbehörde besteht. Da sich nach Zustellung des Bußgeldbescheids unter der von der Antragstellerin bezeichneten Adresse ein Verteidiger für den Betroffenen bestellt hat, hätte es nahe gelegen, anhand des Akteninhalts den Grund für die erfolglosen Abfragen zu hinterfragen. Dabei hätte auffallen müssen, dass der Verteidiger des Herrn O. den Namen seines Mandanten in den Schreiben vom 23. September 2022 und vom 4. Oktober 2022 maschinenschriftlich eindeutig mit „C. O. “ und nicht mit „C. , O. “ angegeben hat. Ein Vertauschen des Vor- und des Nachnamens erscheint in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden als eine sich auch ohne eigene iranische Sprachkenntnisse aufdrängende Fehlerursache. Eine EMA-Abfrage durch die Berichterstatterin bezüglich C. O. verlief dementsprechend erfolgreich. Die sehr gute Qualität des Tatfotos spricht dafür, dass die Antragsgegnerin sich auf diese Weise eine ausreichende Überzeugung von der Täterschaft des Herrn O. hätte bilden können.
Weiterhin hätte es sich aufgedrängt, die Antragstellerin zu befragen, ob sie Herrn O. anhand des Lichtbilds identifizieren könne. Dies wäre vor Ablauf der Verjährungsfrist gegenüber Herrrn O. (vgl. § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG: Verlängerung auf sechs Monate nach Erlass eines Bußgeldbescheides) möglich und – wie ihrer im Anhörungsverfahren abgegebenen Stellungnahme vom 16. Dezember 2022 zu entnehmen ist – erfolgversprechend gewesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Dabei legt der Senat für jeden Monat der auf sechs Monate befristeten Geltungsdauer der Fahrtenbuchauflage einen Betrag in Höhe von 400,00 Euro zu-grunde (Nr. 46.11 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit) und setzt im Hinblick auf die Vorläufigkeit dieses Verfahrens den Streitwert auf die Hälfte des sich daraus ergebenden Betrages fest (vgl. Ziff. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5 und 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).