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Fahrtenbuchauflage – Nichtanordnung im Wege einer Evidenzkontrolle

VG Göttingen, Az.: 1 B 488/18, Beschluss vom 10.04.2019

Gründe

Soweit die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 21. September 2018 ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage in Bezug auf den Teil der angefochtenen Kostenfestsetzung ausdrücklich zurückgenommen hat, als sich ihr „vorläufiges Rechtsschutzbegehren nur [gemeint: auch] gegen den Kostenfestsetzungsbescheid“ gerichtet hat, wird das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingestellt.

Der weitergehende, am 12. September 2018 beim erkennenden Gericht eingegangene Antrag der Antragstellerin,

die aufschiebende Wirkung ihrer zeitgleich erhobenen Klage – 1 A 487/18 – gegen die beiden Bescheide der Antragsgegnerin vom 28. August 2018 wiederherzustellen bzw. anzuordnen,

hat insoweit Erfolg, als er die von der Antragsgegnerin verfügte Fahrtenbuchauflage und die Zwangsgeldandrohung zum Gegenstand hat. Hinsichtlich der im Bescheid „Fahrtenbuchauflage“ vorgenommenen Festsetzung einer Gebühr in Höhe von 100 Euro, der nach der eingeschränkten Rücknahmeerklärung der Antragstellerin weiterhin verfahrensgegenständlich ist, ist er unzulässig.

Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zweite Alternative als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zulässig, denn die in der Hauptsache weiterhin anhängige Klage – 1 A 487/18 – gegen das im Bescheid „Fahrtenbuchauflage“ unter Ziffer 1. angeordnete Gebot, für das Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen XX-XX X über einen Zeitraum von 6 Monaten ab Zustellung dieses Bescheids am 31. August 2018 ein Fahrtenbuch zu führen, entfaltet keine aufschiebende Wirkung, weil die Antragsgegnerin darin auch die sofortige Vollziehung der Fahrtenbuchauflage gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet hat (vgl. Ziffer 3. des Bescheids „Fahrtenbuchauflage“).

Der Zulässigkeit des hierauf gerichteten Antrags steht zum Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer über das einstweilige Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin nicht entgegen, dass der Zeitraum, für den das Fahrtenbuch vom Antragsteller zu führen war, seit dem 1. März 2019 abgelaufen ist. Der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin hat sich insoweit (noch) nicht durch Zeitablauf erledigt (vgl. auch Beschluss der Kammer – Einzelrichter – vom 27. September 2018 – 1 B 289/17 –, zit. nach juris Rn. 4, unter Verweis auf VG München, Urteil vom 7. April 2014 – M 23 K 13.4294 –, zit. nach juris Rn. 19; a.A. VG Oldenburg, Urteil vom 23. März 2012 – 7 A 1074/11 –, zit. nach juris Rn. 60), sondern bildet weiterhin die Grundlage für eine mögliche Verwaltungsvollstreckung hinsichtlich der im Bescheid erwähnten, aus § 31a Abs. 3 StVZO folgenden Vorlage- und Aufbewahrungspflichten für die Dauer von 6 Monaten nach Ablauf des Zeitraums, für den das Fahrtenbuch zu führen war. Diese vom Verordnungsgeber angeordneten Nebenpflichten der Antragstellerin bestehen weiterhin und können von der Antragsgegnerin eingefordert sowie gegebenenfalls mit Verwaltungszwang vollstreckt werden (darauf nicht eingehend: VG Oldenburg, a. a. O., Rn. 62). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erledigt sich ein Verwaltungsakt erst dann „auf andere Weise“ im Sinne des § 43 Abs. 2 VwVfG, wenn er nicht mehr geeignet ist, rechtliche Wirkungen zu erzeugen oder wenn die ihm ursprünglich innewohnende rechtliche Steuerungsfunktion nachträglich entfallen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 – 7 C 5.08 –, zit. nach juris Rn. 13 m. w. N.). Danach ist von einer Fortwirkung der Titelfunktion des angefochtenen Bescheids der Antragsgegnerin vom 28. August 2018 im vorliegenden Fall auszugehen. Die aus ihm resultierende Vorlagepflicht wurde – wie das von der Antragstellerin vorgelegte Schreiben des Fachdienstes Straßenverkehr der Antragsgegnerin vom 21. März 2019 verdeutlicht – von der Antragsgegnerin bereits eingefordert und kann von ihr bis zum Ablauf der Aufbewahrungsfrist am 31. August 2019 jederzeit erneut eingefordert werden.

Hinsichtlich der im Bescheid „Fahrtenbuchauflage“ unter Ziffer 4. vorgenommenen Zwangsgeldandrohung ist der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erste Alternative als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage – 1 A 487/18 – zulässig, denn die Klage entfaltet gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO bereits aufgrund der Regelungen der §§ 70 Abs. 1 NVwVG, 64 Abs. 4 Satz 1 Nds. SOG keine aufschiebende Wirkung.

Soweit es die von der Antragsgegnerin unter Ziffer 5. des angefochtenen Bescheids „Fahrtenbuchauflage“ vorgenommene Festsetzung einer Gebühr in Höhe von 100 Euro betrifft, die nicht Gegenstand der Prozesserklärung der Antragstellerin vom 21. September 2018 geworden ist, ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage – 1 A 487/18 – zwar gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO statthaft, denn es handelt sich insoweit um die Anforderung von öffentlichen Kosten im Sinne dieser Vorschrift (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 13. August 2013 – 7 ME 1/12 –, zit. nach juris Rn. 12 f., m. w. N.). Er ist jedoch gemäß § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO unzulässig, da es die Antragstellerin vor Anrufung des erkennenden Gerichts versäumt hat, einen behördlichen Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 4 VwGO bei der Antragsgegnerin zu stellen und eine angemessene Frist zur Bescheidung desselben abzuwarten, ehe sie das erkennende Gericht auch um Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage hinsichtlich der festgesetzten Gebühr in Höhe von 100 Euro ersucht. Mit Blick auf die Entlastungsfunktion der Vorschrift liegt in dem vorher zu durchlaufenden behördlichen Aussetzungsverfahren eine echte Voraussetzung für den Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz, die schon bei der Einreichung eines Eilantrags erfüllt sein muss; es handelt sich dabei nicht nur um eine Zulässigkeitsvoraussetzung, die bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts im vorliegenden einstweiligen Rechtschutzverfahren nachgeholt werden kann (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 10. Februar 2016 – 13 ME 183/15 –, zit. nach juris Rn. 26 m. w. N.). Vor diesem Hintergrund vermag der am 17. September 2018 bei der Antragsgegnerin eingegangene Aussetzungsantrag der Antragstellerin, der sich ausdrücklich nur auf den Kostenfestsetzungsbescheid vom 28. August 2018 bezog, an der Unzulässigkeit dieses Teils des einstweiligen Rechtsschutzbegehrens der Antragstellerin nichts zu ändern, welches bereits 5 Tage zuvor beim erkennenden Gericht angebracht wurde. Dass ein Ausnahmefall gemäß § 80 Abs. 6 Satz 2 VwGO vorliegend Platz greift, ist von der Antragstellerin weder dargetan und glaubhaft gemacht worden, noch nach Aktenlage für die Kammer erkennbar. Vielmehr ergibt sich aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin, dass diese dem Aussetzungsbegehren vom 17. September 2018 noch am selben Tage hinsichtlich „der Gebühren für die Fahrtenbuchauflage“ entsprochen hat, sodass offenbar keine Vollstreckung droht.

Soweit es die Fahrtenbuchauflage und die Zwangsgeldandrohung betrifft, ist der Antrag begründet. Zwar begegnet die von der Antragsgegnerin vorgenommene Anordnung der sofortigen Vollziehung der Fahrtenbuchauflage im Hinblick auf das Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 VwGO keinen rechtlichen Bedenken (näher dazu Beschluss der Kammer – Einzelrichter – vom 27. September 2018, a. a. O., zit. nach juris Rn. 6 m. w. N.). Jedoch fällt die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene Abwägung zwischen dem besonderen öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug der Fahrtenbuchauflage und dem privaten Interesse der Antragstellerin, von diesem Vollzug bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über ihre in der Hauptsache – 1 A 487/18 – anhängige Anfechtungsklage verschont zu bleiben, zu Lasten der Antragsgegnerin aus. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend nur aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Oktober 2014 – 7 VR 2/14 u.a. –, zit. nach juris Rn. 10). Die summarische Prüfung des streitigen Sachverhalts ergibt vorliegend, dass die Anfechtungsklage der Antragstellerin aller Voraussicht nach Erfolg haben wird, denn die angeordnete Fahrtenbuchauflage und die mit ihr verbundene Zwangsgeldandrohung begegnen ernstlichen Bedenken an ihrer Rechtmäßigkeit.

Gemäß § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO kann die nach Landesrecht zuständige Behörde gegenüber einem Fahrzeughalter für ein oder mehrere auf ihn zugelassene oder künftig zuzulassende Fahrzeuge die Führung eines Fahrtenbuchs anordnen, wenn die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war.

Die Voraussetzungen dieser Ermächtigungsgrundlage liegen nach Aktenlage zur Überzeugung der Kammer nicht vor. Die Kammer kann vorliegend nicht feststellen, dass die Feststellung des für die Geschwindigkeitsüberschreitung vom 27. Januar 2018 verantwortlichen Fahrzeugführers für die zuständige Bußgeldbehörde – hier der Landkreis H. – unmöglich war. Die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften ist unmöglich im Sinne des Gesetzes, wenn die zuständige Behörde nach den Umständen des Einzelfalls nicht in der Lage war, den Täter zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 23. Januar 2014 – 12 LB 19/13 –, zit. nach juris Rn. 15 m. w. N.). Art und Umfang der Ermittlungstätigkeit der Behörde können sich an dem Verhalten und der Erklärung des Fahrzeughalters ausrichten. Lehnt dieser erkennbar die Mitwirkung an der Aufklärung des Verkehrsverstoßes ab, ist es der Behörde regelmäßig nicht zuzumuten, wahllos zeitraubende, kaum Aussicht auf Erfolg bietende Ermittlungen zu betreiben. An einer hinreichenden Mitwirkung des Fahrzeughalters daran, den Fahrzeugführer zu bezeichnen, fehlt es regelmäßig, wenn der Fahrzeughalter den Anhörungsbogen der Ordnungswidrigkeitenbehörde nicht zurücksendet oder weitere Angaben zum Personenkreis der Fahrzeugbenutzer nicht macht. Der Behörde werden in diesen Fällen weitere Ermittlungsversuche, die über die Anhörung des Fahrzeughalters hinausgehen, grundsätzlich nicht zugemutet (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 1. Februar 2013 – 12 LA 122/12 –, zit. nach juris Rn. 7 m. w. N.).

Unternimmt die Bußgeldbehörde – wie vorliegend – gleichwohl weitere Ermittlungen und werden in diesem Rahmen neue Erkenntnisse bekannt, die zu einer Feststellung des Fahrers führen können, so darf sich die Bußgeldbehörde diesen jedoch nicht verschließen. Tut sie dies doch, kann dies der Annahme einer Unmöglichkeit der Feststellung des Fahrzeugführers entgegenstehen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 1. Februar 2013, a. a. O.).

Zu dieser Einschränkung ist nach Auffassung der Kammer zunächst klarzustellen, dass die Feststellung des verantwortlichen Fahrers selbst dann unmöglich im Sinne des § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO ist, wenn die Ermittlungen zwar auf einen bestimmten Täter hindeuten, die Bußgeldbehörde jedoch keine ausreichende Überzeugung von der Täterschaft des Verdächtigen gewinnen konnte. Denn es kommt insoweit nicht auf eine – zeitlich stets nachgelagerte – abweichende Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts zur Frage der Täterschaft in einem Klageverfahren gegen die Fahrtenbuchauflage an, sondern im Grundsatz allein auf die Ermittlungen zuständigen Bußgeldbehörde und deren Bewertung der erzielten Ermittlungsergebnisse (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 1. Februar 2013, a. a. O., zit. nach juris Rn. 8). Maßgeblich ist die im jeweiligen Stadium eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens notwendige Überzeugung der zur abschließenden Beurteilung der Täterschaft berufenen Stelle. Verzichtet die Bußgeldbehörde mangels Überzeugung von der Täterschaft auf den Erlass eines Bußgeldbescheids, kommt es auf ihre Überzeugung im Zeitpunkt der Einstellung des Verfahrens nach § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO an (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. November 2015 – 8 A 1846/15 –, zit. nach juris Rn. 7).

Allerdings folgt aus dem Grundsatz, dass es auf die Überzeugungsbildung der Bußgeldbehörde zum Zeitpunkt der Einstellung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens ankommt, eben nicht, dass jedwede Einstellungsentscheidung der Bußgeldbehörde im nachgehenden Verwaltungsverfahren zur Anordnung einer Fahrtenbuchauflage die Annahme der Unmöglichkeit der Ermittlung des verantwortlichen Fahrzeugführers im Sinne des § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO zu rechtfertigen vermag. Eine derartige Annahme scheidet im Wege einer Evidenzkontrolle aus, wenn – wie bereits ausgeführt – sich der Bußgeldbehörde die Täterschaft einer bestimmten Person hätte aufdrängen müssen oder sie sich entsprechenden Erkenntnissen verschlossen hat (vgl. oben Nds. OVG, Beschluss vom 1. Februar 2013, a. a. O., zit. nach juris Rn. 8). Denn es besteht keine Befugnis der zuständigen Bußgeldbehörde, nach hinreichender Überzeugungsbildung von der Täterschaft aufgrund gewonnener Ermittlungsergebnisse vom Erlass des gebotenen Bußgeldbescheids gegen den Betroffenen gleichwohl abzusehen, weil dieser aller Voraussicht nach hiergegen Einspruch einlegen und die Erfolgsaussichten seines Einspruchs aufgrund einer der Bußgeldbehörde bekanntgewordenen „betroffenenfreundlichen“ Spruchpraxis des zuständigen Amtsgerichts als hoch einzuschätzen sind.

Die Bußgeldbehörde hat zum einen hinzunehmen, dass das erforderliche Maß an Überzeugung hinsichtlich der Täterschaft bei einer Verurteilung durch das Amtsgericht grundsätzlich höher anzusetzen ist als bei einem vorangegangenen Erlass des Bußgeldbescheids. Der Bußgeldbescheid mit seinen geringeren Anforderungen an die Überzeugungsbildung von der Täterschaft des Betroffenen stellt der Sache nach nur ein Angebot an diesen dar, welches er – gleich aus welchen Erwägungen – akzeptieren oder gegen das er Einspruch einlegen kann (vgl. OVG NRW, a. a. O., zit. nach juris Rn. 11 m. w. N.). Zum anderen spricht gegen die Zulässigkeit einer „alternativen Ahndung“ von erheblichen Verkehrsverstößen im Wege der Herbeiführung der Anordnung einer Fahrtenbuchauflage die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass es sich hierbei um ein Verwaltungsverfahren der nach Landesrecht zuständigen Behörde mit einer anderen Zielrichtung als das Bußgeldverfahren handelt. Letzteres hat den Zweck, den Täter zu ermitteln und diesen im konkreten Fall zu sanktionieren. Eine Fahrtenbuchauflage dient demgegenüber der präventiven Abwehr von abstrakten Gefahren wegen künftiger ähnlicher Zuwiderhandlungen von Fahrern eines bestimmten Fahrzeugs des polizeipflichtigen Halters und der Ermittlung eines Betroffenen in etwaigen zukünftigen Verfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2016 – 2 BvR 2748/14 –, zit. nach juris Rn. 30).

Daraus folgt nach Auffassung der erkennenden Kammer, dass die nach Landesrecht zuständige Straßenverkehrsbehörde – hier die Antragsgegnerin – im Rahmen des ihr zustehenden Verfahrensermessens (vgl. §§ 9 f. VwVfG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG, näher dazu Nds. OVG, Beschluss vom 29. Januar 2016 – 11 OB 272/15 –, zit. nach juris Rn. 7 m. w. N.) berechtigt ist, die ihr zugeleitete Verfahrensakte der Bußgeldbehörde unverzüglich zurückzugeben, wenn ersichtlich ist, dass sich dieser die Täterschaft einer bestimmten Person im Ordnungswidrigkeitenverfahren hätte aufdrängen müssen oder sie sich entsprechenden Erkenntnissen gar verschlossen hat. Die Bußgeldbehörde hat damit Gelegenheit – soweit Verfolgungsverjährung noch nicht eingetreten ist –, ihren Entschluss zur Einstellung des Verfahrens gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO zu überprüfen und das Ordnungswidrigkeitenverfahren gegebenenfalls fortsetzen. Strafklageverbrauch tritt durch die Einstellung gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht ein (vgl. Thür. OLG, Beschluss vom 23. Februar 2009 – 1 Ss 48/09 –, zit. nach juris Rn. 5 m. w. N.).

Nach Aktenlage hätte sich der Bußgeldbehörde die Täterschaft des 64-jährigen Ehemanns der Antragstellerin aufdrängen müssen. Das von der Geschwindigkeitsüberwachungsanlage POLISCAN FM1 erzeugte Messfoto ist von sehr guter Qualität. Es lässt eine hinreichend sichere Identifizierung des verantwortlichen Fahrzeugführers zu. Dabei stellt die Kammer nicht auf die Ausschnittsvergrößerungen des Messfotos ab, die auf den zur Bußgeldakte befindlichen Zeugenfragebogen, dem Anhörungsschreiben und dem Fallprotokoll abgedruckt sind. Diese Abbildungen sind als Ausdrucke auf einfachem Papier kontrastarm und unscharf, mithin zur Fahreridentifizierung kaum geeignet. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der zuständige Sachbearbeiter der Bußgeldbehörde das digital erzeugte Messfoto jederzeit an seinem Computer aufrufen kann, er somit über Bildmaterial in Originalqualität verfügt und erforderliche Ausschnittsvergrößerungen des Kopfes des Fahrzeugführers in Bildbearbeitungsprogrammen nach Bedarf erzeugen kann. Es entspricht daher überwiegend bußgeldbehördlicher Praxis, in Fällen wie dem vorliegenden, in denen ein erzeugter Papierausdruck derartiger Ausschnittsvergrößerungen nicht von ausreichender Qualität ist, Hochglanzabzüge vom Messfoto und von den hieraus gewonnenen Ausschnittsvergrößerungen des Kopfes des Fahrzeugführers vor einer Abgabe der Bußgeldakte an eine andere Behörde oder ein Gericht zu erzeugen und dieser beizufügen. Hochglanzabzüge sind spätestens im gerichtlichen Bußgeldverfahren auf tatrichterliche Anforderung der Bußgeldakte beizufügen, damit diese Grundlage einer revisionssicheren Feststellung der Täterschaft des Betroffenen sein können (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 26. Januar 2018 – 3 Ws (B) 11/18, 3 Ws (B) 11/18 – 122 Ss 2/18 –, zit. nach juris Rn. 6 und 43). Dementsprechend hat die Kammer die Bußgeldbehörde um Vervollständigung ihrer vorliegend beigezogenen Bußgeldakte um die erforderlichen Hochglanzabzüge mit prozessleitender Verfügung gebeten; dem ist die Bußgeldbehörde nachgekommen. Diese Maßnahme hätte der Straßenverkehrsbehörde der Antragsgegnerin nach Eingang der Bußgeldakte im Wege der hier entscheidungserheblichen Evidenzprüfung ebenfalls oblegen; ihre Verpflichtung zur Ermittlung der maßgeblichen Tatsachen im Verwaltungsverfahren folgt aus § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG i. V. m. § 24 Abs. 1 und 2 VwVfG.

Die auf Hochglanzpapier der Kammer vorliegende Ausschnittsvergrößerung des Messfotos ist zur sicheren Identifikation des verantwortlichen Fahrzeugführers sehr gut geeignet. Sie lässt die einzelnen Gesichtszüge und -konturen der abgebildeten Person – hier des Ehemanns der Antragstellerin – deutlich erkennen. Von den morphologischen Merkmalsbereichen des Kopfes sind dort die Kopfform bis zum Haaransatz an der Stirn, die Gesichtsform, die Gesichtsproportionen, der seitliche Haaransatz, die Stirn selbst, die Augenpartie sowie die Nasen-, Mund-, Kinn-, Unterkiefer-, Wangen- und Ohrregion deutlich zu erkennen; dies gilt darüber hinaus noch für Teile des Halses. Zu Verdeckungen maßgeblicher Teile des Gesichtes durch den Innenspiegel ist es nicht gekommen. Das zur Bußgeldakte befindliche bunte Lichtbild des Ehemanns der Antragstellerin, welches im Wege der Polizeiauskunft aus dem Pass- oder Personalausweisregister der Antragsgegnerin Gegenstand der Ermittlungen geworden ist, ist ebenfalls von sehr guter Qualität. Es stammt offenbar aus dem Jahre 2017, bildet mithin den Ehemann der Antragstellerin hinreichend aktuell ab. Der Bußgeldbehörde wäre somit anhand dieses Lichtbildes aus dem Register und dem digitalen Messfoto eine für den Erlass eines Bußgeldbescheides hinreichende Überzeugungsbildung von der Täterschaft des Ehemanns der Antragstellerin ohne weiteres möglich gewesen.

Daneben tritt der Umstand, dass die Bußgeldbehörde auf ihr an den Fachbereich Ordnung der Antragsgegnerin gerichtetes Ersuchen um Fahrerermittlung vom 27. März 2018 einen Datensatz aus dem Einwohnermelderegister der Antragsgegnerin – mit dem Datum 4. April 2018 versehen – übermittelt bekommen hat, der den Ehemann der Antragstellerin als verantwortlichen Fahrzeugführer ausgibt. Dies hat die Bußgeldbehörde auch dazu veranlasst, den Ehemann der Antragstellerin unter dem 26. April 2018 als Betroffenen anzuhören. Grundlage dieser Entscheidung der Bußgeldbehörde war offenbar der Sachverhalt, der sich aus der innerdienstlichen Mitteilung des Außendienstes der Antragsgegnerin vom 18. Mai 2018 ergibt. Danach sei der Ehemann der Antragstellerin am Nachmittag des 4. April 2018 zuhause von den Vollzugsbeamten der Antragsgegnerin angetroffen und in Augenschein genommen worden. Obgleich sich der Ehemann der Antragstellerin habe nicht zur Sache äußern wollen, sei er von den eingesetzten Vollzugsbeamten als verantwortlicher Fahrzeugführer identifiziert worden.

Aus der beigezogenen Bußgeldakte ergeben sich für die Kammer keinerlei Anhaltspunkte, die Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit dieser schriftlichen Zeugenbekundungen zu rechtfertigen vermögen. Solche ergeben sich jedenfalls nicht aus der mit anwaltlicher Unterstützung vorgebrachten pauschalen Einlassung des damaligen Betroffenen – des Ehemanns der Antragstellerin – im Schreiben vom 8. Juni 2018, er sei der verantwortliche Fahrer des Fahrzeugs der Antragstellerin zum Zeitpunkt des Vorfalls nicht gewesen. Das pauschale Bestreiten der Fahrereigenschaft gehört zum Tagesgeschäft eines Sachbearbeiters, der zur Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten in einer Bußgeldbehörde eingesetzt ist. Es erschließt sich daher der Kammer schon nicht, warum sich die damalige Sachbearbeiterin der Bußgeldbehörde des Landkreises H. hierauf überhaupt veranlasst sah, mit Schreiben vom 13. Juni 2018 den Vorgang zur erneuten Fahrerermittlung an die Polizeiinspektion E. abzugeben. Jedenfalls vermochte der standardisierte Ermittlungsbericht der Polizeiinspektion E. vom 10. Juli 2018 die bereits zuvor durch den Außendienst der Antragsgegnerin gewonnenen Ermittlungsergebnisse nicht zu relativieren, denn er beschränkt sich in seinem auf den individuellen Fall zugeschnittenen Bearbeitungshinweis lediglich auf die Aussage, dass eine Nachbarschaftsbefragung zu keinem Ergebnis geführt habe. Aus dem Ermittlungsbericht ergibt sich indirekt auch, dass die eingesetzten Polizeibeamten des Fachkommissariats 7 den Betroffenen jedenfalls nicht persönlich zuhause angetroffen haben, sodass sie – anders als der Außendienst der Antragsgegnerin – keine eigenen Feststellungen zur möglichen Täterschaft des Ehemanns der Antragstellerin treffen konnten (zur mangelnden Geeignetheit einer polizeilichen Nachbarschaftsbefragung, wenn es allein auf den Abgleich mit einem Tatfoto ankommt, vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2016, a. a. O., Rn. 30). Dass eine Nachbarschaftsbefragung unter Vorlage der zur Bußgeldakte befindlichen Ausschnittsvergrößerung des Messfotos, das auf einfachem Papier in kontrastarmer, unscharfer und weitgehend konturenloser Form erzeugt wurde, zu keinem verwertbaren Ermittlungserfolg führen kann, liegt auf der Hand und hätte sich der Bußgeldbehörde auch aufdrängen müssen, als diese am 16. Juli 2018 den Abschluss der Ermittlungen und die Einstellung der Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die Antragstellerin und ihren Ehemann gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO verfügt hat.

Im Wege der hier gebotenen Evidenzkontrolle geht jedenfalls zu Lasten der Bußgeldbehörde, dass sie die maßgeblichen Erwägungen für ihren Entschluss, auch das gegen den Ehemann der Antragstellerin eingeleitete Ordnungswidrigkeitenverfahren mangels hinreichenden Tatverdachts selbst in Ansehung der eindeutigen Feststellungen zur Identifizierung des verantwortlichen Fahrzeugführers durch den Außendienst der Antragsgegnerin vom 4. April 2018 einzustellen, nicht aktenkundig gemacht hat. Obgleich gemäß § 61 OWiG ein Vermerk über den Abschluss der Ermittlungen nur in den Fällen erforderlich ist, in denen die Bußgeldbehörde die weitere Verfolgung der Ordnungswidrigkeit erwägt, ist ein solcher Vermerk mit Würdigung der Ermittlungsergebnisse nach Auffassung der Kammer auch in den Fällen angezeigt, in denen die Bußgeldbehörde an den von ihr ermittelten Sachverhalt anderweitige – insbesondere gefahrenabwehrrechtliche – Folgen zu knüpfen beabsichtigt, namentlich wenn sie die Abgabe ihrer Bußgeldakte an die zuständige Straßenverkehrsbehörde zum Zwecke der Einleitung eines Verwaltungsverfahrens zur Anordnung einer Fahrtenbuchauflage gegen den Halter beabsichtigt und sich der hierfür entscheidungserhebliche Sachverhalt – wie vorliegend – nicht durch bloße Lektüre der Bußgeldakte eindeutig erschließt, sondern zusätzlich die Kenntnis der angestellten Erwägungen und Bewertungen des zuständigen Sachbearbeiters der Bußgeldstelle erfordert, die die von ihm getroffene Entscheidung – die Einstellung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens – tragen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1, 3 VwGO. Auch soweit die Antragstellerin unterliegt und soweit sie ihren Antrag mit Schriftsatz vom 21. September 2018 teilweise zurückgenommen hat, sind die Kosten von der Antragsgegnerin gemäß § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO zu tragen (zur Anwendbarkeit von § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO bei teilweiser Klagerücknahme vgl. Neumann/Schaks, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 155 Rn. 12). Denn ausgehend vom Streitwert bemisst sich das Verhältnis von Obsiegen der Antragstellerin zu ihrem Unterliegen mit 95 Prozent zu 5 Prozent; auch mit Blick auf die Höhe des Streitwerts unterliegt sie damit nur zu einem geringen Teil im Sinne von § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 39 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 und 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 46.11 und Nr. 1.5 Satz 1 Alternative 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 31. Mai / 1. Juni 2012 und 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen (abgedruckt bei Kopp/Schenke, Kommentar zur VwGO, 21. Auflage, Anh § 164, Rn. 14). Danach ist in Streitigkeiten um die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage in einem Hauptsacheverfahren 400 Euro je Monat der Dauer der Auflage anzunehmen. Der sich danach in der Hauptsache – 1 A 487/18 – errechnende Betrag von 2.400 Euro ist hier zu halbieren, weil das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Hauptsache nicht vorwegnimmt. In der Hauptsache sind zu dem Streitwert von 2.400 Euro die dort angefochtenen Kosten in Höhe von 202,36 Euro gemäß § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG zu addieren. Diese errechnen sich aus der in Ziffer 5. des Bescheids „Fahrtenbuchauflage“ festgesetzten Gebühr in Höhe von 100 Euro und den im „Kostenfestsetzungsbescheid“ vom 28. August 2018 festgesetzten Kosten in Höhe von 102,36 Euro. Für das vorliegende einstweilige Rechtschutzverfahren ist entsprechend Ziffer 1.5 Satz 1 Alternative 2 des Streitwertkatalogs ein Viertel der insgesamt festgesetzten Kosten zugrunde zu legen, mithin 50,59 Euro. Der Gesamtstreitwert beträgt somit 1.250,59 Euro.

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