Fahrerlaubnis für MS-Patienten: Einzelfallentscheidungen sind möglich
Das Verwaltungsgericht Augsburg hat entschieden, dass einem Kläger, der an Multipler Sklerose leidet, die Fahrerlaubnis für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 zu Recht entzogen wurde. Dies basiert auf der Annahme, dass die Erkrankung grundsätzlich die Fahreignung für diese Fahrzeugklasse ausschließt. Trotz vorgelegter medizinischer Gutachten, die eine gewisse Fahrtüchtigkeit attestierten, folgte das Gericht der Regelung, dass die Diagnose Multiple Sklerose generell die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 impliziert.
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✔ Das Wichtigste in Kürze
Die zentralen Punkte aus dem Urteil:
- Entziehung der Fahrerlaubnis: Dem Kläger wurde die Fahrerlaubnis für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 wegen seiner Erkrankung an Multipler Sklerose entzogen.
- Gesetzliche Grundlage: Die Entscheidung basiert auf den Regelungen der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) und den Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung.
- Diagnose Multiple Sklerose: Allein die Diagnose reicht aus, um die Fahreignung für die Gruppe 2 zu verneinen.
- Ärztliche Gutachten: Mehrere ärztliche Gutachten wurden vorgelegt, die teilweise die Fahrtüchtigkeit des Klägers belegten.
- Kein Ausnahmefall: Das Gericht erkannte keinen Ausnahmefall an, der eine Abweichung von der Regelbewertung rechtfertigen würde.
- Streitwert: Das Gericht setzte einen Streitwert von EUR 7.500,– fest.
- Kosten des Verfahrens: Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
- Ermessensausübung: Das Landratsamt hatte kein Ermessen bei der Entziehung der Fahrerlaubnis, da die Regelungen der FeV eine klare Richtlinie vorgeben.
Übersicht
Fahrerlaubnis und Gesundheit: Ein juristischer Konflikt
Im Zentrum des rechtlichen Diskurses steht die Fahrerlaubnisteilentziehung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2, ein Thema, das sowohl für Betroffene als auch für die rechtliche Praxis von hoher Relevanz ist. Speziell geht es um die Frage, inwieweit gesundheitliche Beeinträchtigungen, konkret Multiple Sklerose, die Fahreignung beeinflussen und welche juristischen Konsequenzen sich daraus ergeben. Die Beurteilung der Fahreignung, insbesondere bei Erkrankungen, die das Nervensystem betreffen, ist ein komplexes Feld, das eine sorgfältige Abwägung von medizinischen Befunden und rechtlichen Normen erfordert.
Die rechtliche Auseinandersetzung dreht sich um die Interpretation und Anwendung von Vorschriften, die im Kontext von Gutachten und medizinischen Bewertungen stehen. Es handelt sich hierbei um einen Fall, der die Schnittstelle zwischen Medizin, Verkehrsrecht und individuellen Rechten berührt. Der folgende Text beleuchtet die Details eines konkreten Falles, in dem ein Kläger gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis vorgeht. Dieser Fall ist beispielhaft für die Herausforderungen, die sich bei der Beurteilung der Fahreignung in Anbetracht von gesundheitlichen Einschränkungen ergeben. Tauchen Sie ein in eine juristische Analyse, die nicht nur die rechtlichen Aspekte beleuchtet, sondern auch die menschliche Dimension dieser Thematik berücksichtigt.
Der Weg zur Fahrerlaubnisteilentziehung: Multiple Sklerose im Fokus
Die rechtliche Auseinandersetzung begann mit der Diagnose von Multipler Sklerose bei einem Kraftfahrzeugfahrer der Gruppe 2. Der Fall nimmt seinen Anfang im Jahr 2022, als das Landratsamt von der Erkrankung des Klägers erfuhr. Dies führte zur Aufforderung, ein ärztliches Gutachten über die Fahreignung vorzulegen. Der Kläger legte daraufhin mehrere medizinische Berichte vor, die seine Fähigkeit, Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 zu führen, bestätigten, jedoch Zweifel an seiner Eignung für die Gruppe 2 aufkommen ließen. Die Krankheit Multiple Sklerose wird in den relevanten rechtlichen Rahmenwerken als Indikator für eine mögliche Beeinträchtigung der Fahreignung gesehen, insbesondere bei Fahrzeugen der Gruppe 2, zu denen größere und schwerere Fahrzeuge zählen.
Medizinische Gutachten und ihre Interpretation
Die entscheidende Rolle in diesem Fall spielten die ärztlichen Gutachten. Das Gutachten vom Oktober 2022 bescheinigte dem Kläger eine bedingte Eignung für die Gruppe 1, schloss aber eine Eignung für Gruppe 2 krankheitsbedingt aus. Der Kläger erreichte in verschiedenen Leistungstests Ergebnisse, die grundsätzlich eine Fahreignung nahelegten. Das Landratsamt bezog sich jedoch auf die in den Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung festgelegten Standards, wonach die Diagnose Multiple Sklerose grundsätzlich eine Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 bedingt. Der Kläger argumentierte, dass keine konkreten medizinischen Gründe für eine Teilentziehung der Fahrerlaubnis vorlägen, und forderte eine genauere Bewertung des Gutachtens.
Juristische Argumentation und Klageerhebung
In seiner Klage argumentierte der Kläger, dass die alleinige Diagnose von Multipler Sklerose ohne entsprechende Symptomatik nicht ausreiche, um ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen. Er betonte, dass keine Verschlechterung seines Zustands festgestellt worden sei und er unter ständiger medizinischer Beobachtung stehe. Das Landratsamt hielt jedoch an seiner Entscheidung fest und verwies darauf, dass laut den Begutachtungsleitlinien die Nichteignung für die Fahrerlaubnisklassen der Gruppe 2 bereits durch die Diagnose begründet sei.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg
Das Verwaltungsgericht Augsburg wies die Klage ab und bestätigte die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Landratsamts. Das Gericht stellte fest, dass der Kläger zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 war. Das Gericht berücksichtigte dabei die ergänzten Gutachten und ärztlichen Befunde, die eine fortschreitende Erkrankung und damit verbundene Fahreignungseinschränkungen aufzeigten. Die Entscheidung beruhte auf der Feststellung, dass keine ausreichenden Beweise für eine Ausnahme von der Regelvermutung der Ungeeignetheit vorlagen.
Das Verwaltungsgericht Augsburg betonte die Bedeutung der Rechtssicherheit und der Verkehrssicherheit, indem es die strengen Anforderungen an die Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 hervorhob. In der Urteilsbegründung wurde deutlich, dass die Gesundheit und Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer von höchster Priorität sind. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die komplexe Schnittstelle zwischen medizinischen Diagnosen, rechtlichen Normen und der persönlichen Freiheit des Einzelnen. Er zeigt, wie entscheidend eine sorgfältige und umfassende Bewertung medizinischer Gutachten im Verkehrsbereich ist, besonders wenn es um Erkrankungen wie Multiple Sklerose geht.
✔ Wichtige Begriffe kurz erklärt
Wie beeinflusst Multiple Sklerose die Fahreignung?
Multiple Sklerose (MS) kann die Fahreignung auf verschiedene Weisen beeinflussen, insbesondere durch Auswirkungen auf die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit. Etwa zwei Drittel aller MS-Betroffenen leiden neben den körperlichen Symptomen auch unter kognitiven Einschränkungen. Diese können sich durch eine verlangsamte Verarbeitung von Informationen, Schwierigkeiten sich Dinge einzuprägen und abzurufen, sowie Überforderung bei komplexen, parallelen Tätigkeiten (Multitasking) äußern.
In Deutschland sind die Fahrerlaubnisklassen in zwei Gruppen unterteilt: Gruppe 1 und Gruppe 2. Gruppe 1 umfasst die Klassen A, A1, A2, B, BE, AM, L und T, darunter fallen Fahrzeuge bis 3,5 t und Motorräder. Gruppe 2 umfasst die Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E (das sind z.B. Lastkraftwagen und Busse) und die Erlaubnis zur Beförderung von Fahrgästen (FzF).
Für eine Fahrerlaubnis der Gruppe 2 gelten in der Regel strengere Vorgaben, weil die Folgen eines Unfalls schwerer sind. Die Fahrerlaubnisverordnung (FeV) regelt die Anforderungen an die Fahreignung und wird regelmäßig aktualisiert, um die sich ändernden Anforderungen an Verkehrsteilnehmende zu berücksichtigen.
In Deutschland besteht keine Meldepflicht für Erkrankungen, die die Fahreignung einschränken. Der Führerschein wird auch nach einer Erkrankung nicht automatisch entzogen. Eine Pflicht zur Selbstanzeige bei der Fahrerlaubnisbehörde und/oder zur Beibringung eines verkehrsmedizinischen Gutachtens bei einer bestehenden Erkrankung ist weder im StVG noch in der FeV vorgesehen.
Die Auswirkungen von MS auf die Fahreignung können individuell sehr unterschiedlich sein und hängen von den spezifischen Symptomen und dem Krankheitsverlauf ab. Daher ist es wichtig, dass Betroffene ihre Symptome und deren Auswirkungen auf ihre Fahreignung regelmäßig mit ihrem Arzt besprechen.
Das vorliegende Urteil
VG Augsburg – Az.: Au 7 K 23.12 – Urteil vom 18.09.2023
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen C, CE, C1 und C1E.
1. Dem am … 1976 geborenen Kläger wurde erstmals am 10. Februar 1994 eine Fahrerlaubnis der alten Klasse 3 und am 14. Oktober 1997 der alten Klasse 2 erteilt.
Im Rahmen der Beantragung einer Ausnahme vom Mindestalter für die Fahrerlaubnis der Klasse T für seinen Sohn wurde dem Landratsamt … (im Folgenden: Landratsamt) am 2. Juni 2022 bekannt, dass der Kläger an Multipler Sklerose erkrankt sei.
Mit Schreiben des Landratsamts vom 3. Juni 2022 wurde der Kläger aufgefordert, bis spätestens 1. Juli 2022 eine Stellungnahme seines Hausarztes oder behandelnden Arztes vorzulegen, um ausschließen zu können, dass eine für die Fahrerlaubnis relevante Erkrankung vorliegt. Am 12. Juni 2022 legte der Kläger einen Befundbericht der hausärztlichen Gemeinschaftspraxis … GmbH vom 9. Juni 2022 vor. Hiernach sei beim Kläger seit Juni 2019 eine Multiple Sklerose des schubförmig remittierenden Verlaufstyps (ICD-10 G35.9G) bekannt. Er stehe in regelmäßiger fachneurologischer Mitbehandlung. Die Behandlung erfolge seit August 2020 mit Tecfidera. Es bestünden aktuell als einzige Residuen neuropathische Schmerzen im Oberschenkelbereich beidseits. Eine Behandlung erfolge hier nicht, sei aber auch nicht erforderlich. Weitere neurologische Ausfälle bestünden nicht.
Mit Schreiben des Landratsamts vom 27. Juni 2022 wurde der Kläger sodann aufgefordert, bis zum 27. Oktober 2022 ein ärztliches Gutachten über seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen vorzulegen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass Multiple Sklerose eine entzündliche Erkrankung des Nervensystems sei, die ganz unterschiedlich verlaufen könne und meist im frühen Erwachsenenalter beginne. Das Vorliegen von Multipler Sklerose stelle einen Hinweis auf eine Beeinträchtigung bzw. Krankheit nach Nr. 6.2 der Anlage 4 zur FeV dar, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen beeinträchtigen könne.
Unter dem 24. Oktober 2022 legte der Kläger ein ärztliches Gutachten der … GmbH vom 10. Oktober 2022 (Begutachtungstermin: 16.8.2022) vor. Dieses kam u.a. zum Ergebnis, dass der Kläger (wieder) in der Lage sei, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 vollständig gerecht zu werden. Die Voraussetzungen für die Gruppe 2 würden krankheitsbedingt nicht vorliegen. Bei der Bewertung der Befunde wurde u.a. ausgeführt, dass sich der körperliche Zustand seit 2019 nach vorübergehenden Symptomen im Bereich der Beine unter Therapie mit einer immunmodulatorischen Substanz zunächst objektiv fast restlos verbessert habe (bis auf geringe Missempfindungen im Bereich der Oberschenkel ohne motorische Lähmung) und seitdem subjektiv und objektiv stabil sei. Erneute Schübe seien nicht aufgetreten. Der radiologische Befund spreche nicht für ein fortschreitendes Geschehen. Bei bestimmten Untersuchungen der Nerven sei eine leichte Verschlechterung der Werte feststellbar. In Bezug auf die Fahreignungsvoraussetzungen seien aber keine gravierenden neurologischen Symptome oder eine gravierende Leistungseinschränkung bekannt. Auch bei der aktuellen verkehrsmedizinischen Untersuchung seien klinisch keine fahreignungsrelevanten Befunde zu erheben. Der Befund sei beim Kläger insgesamt längerfristig stabil, eine Veränderung sei krankheitsbedingt typischerweise anzunehmen bzw. nicht auf Dauer auszuschließen, aber im besonderen Einzelfall unter Berücksichtigung des Verlaufs und der hier angewandten modernen Behandlungsmöglichkeiten auch nicht in einem besonderen Maße zu erwarten. Die Voraussetzungen für die Fahreignung hinsichtlich der Gruppe 1 würden aus verkehrsmedizinischer Sicht gemäß den Leitlinien zusammengefasst auf der Basis der vorliegenden Befunde beim Kläger daher bedingt vorliegen. Die Voraussetzungen für die Gruppe 2 würden krankheitsbedingt auf Dauer nicht vorliegen.
Im Rahmen einer leistungspsychologischen Zusatzuntersuchung erreichte der Kläger beim Test zur Messung der Aufmerksamkeit und Konzentration (COG/S11) einen Prozentrang von 66, beim Test zur Messung der visuellen Wahrnehmungsleistung (ATAVT/S1) einen Prozentrang von 99, beim Test zur Messung der Belastbarkeit und des Reaktionsvermögens einen Prozentrang von 34, beim Linienverfolgungstest – Screeningform (LVT/S3) einen Prozentrang von 45 und beim Test zur Messung der Reaktionszeit (RT/S3) einen Prozentrang von 40. Nach der Bewertung der testpsychologischen Befunde würden die vom Kläger in den Tests gezeigten Leistungen genügen, um sich mit einem Fahrzeug der Gruppen 1 und 2 verkehrsgerecht verhalten zu können. Insbesondere seien die in den Begutachtungsleitlinien geforderten Normwerte erreicht worden.
Mit Schreiben des Landratsamts vom 10. November 2022 wurde dem Kläger die Möglichkeit gegeben, sich zu einer geplanten Entziehung der Fahrerlaubnis der Klassen C, CE, C1 und C1E zu äußern. Mit anwaltlichem Schreiben vom 24. November 2022 ließ der Kläger vortragen, dass bei der medizinischen und psychologischen Untersuchung letztlich keine Einschränkungen festgestellt worden seien. Bei den Ergebnissen werde im Fahreignungsgutachten dann ohne nachvollziehbare Begründung unter Ziffer 1b auf der Seite 10 vermerkt, dass die Voraussetzungen für die Gruppe 2 krankheitsbedingt nicht vorlägen. Dem Gutachten könne aber nicht entnommen werden, wie dieses Ergebnis medizinisch begründet werde. Allein die Diagnose Multiple Sklerose genüge für die Teilentziehung nicht.
2. Mit Bescheid des Landratsamts vom 1. Dezember 2022 – dem Bevollmächtigten zugestellt am 6. Dezember 2022 – wurde dem Kläger sodann die Fahrerlaubnis der Klassen C, CE, C1 und C1E entzogen (Nr. 1). Der Führerschein sei unverzüglich beim Landratsamt abzuliefern (Nr. 2). Für den Fall der Nichtablieferung des Führerscheins innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung dieses Bescheids wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 250,00 EUR angedroht (Nr. 3). Die Nrn. 1 und 2 des Bescheids wurden für sofort vollziehbar erklärt (Nr. 4).
Das Gutachten vom 10. Oktober 2022 sei schlüssig und nachvollziehbar. Die Zweifel an der Fahreignung seien dadurch nicht ausgeräumt worden. Daher sei die Fahrerlaubnis der Klassen C, CE, C1 und C1E zu entziehen. Laut der Anlage 4 zur FeV sei der Betroffene bei einer Erkrankung an Multipler Sklerose nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 gerecht zu werden. Die Annahme, dass ein Betroffener den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 gerecht werde, könne nur im Einzelfall und abhängig vom Ausprägungsgrad der Störungen durch eine nervenärztliche bzw. neurologische Untersuchung nachgewiesen werden. Der Gesetzgeber habe in Nr. 6.1 der Anlage 4 zur FeV bereits klargestellt, dass die Nichteignung für die Fahrerlaubnisklassen der Gruppe 2 tatsächlich bereits aufgrund der Diagnose feststehe. Dieser Regelfall sei in dieser Form ebenfalls in den Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung (dort Kap. 3.9.1) enthalten. Insofern hätte das Gutachten vom 10. Oktober 2022 lediglich dann weitergehende Aussagen enthalten müssen, wenn entgegen dieser Feststellungen die Eignung ausnahmsweise bejaht werden hätte sollen.
3. Hiergegen hat der Kläger am 4. Januar 2023 Klage erhoben. Beantragt wird zuletzt, den Bescheid des Landratsamts … vom 1. Dezember 2022 aufzuheben.
Bereits außergerichtlich sei dem Landratsamt mitgeteilt worden, dass sich aus dem Fahreignungsgutachten keine rechtliche Begründung für den Entzug der streitgegenständlichen Fahrerlaubnisklassen ableiten lasse. Es sei auch angeregt worden, den Gutachter eine ergänzende Stellungnahme erstellen zu lassen. Grundsätzlich könne die Diagnose einer MS-Erkrankung allein ohne entsprechende Symptomatik nicht dazu führen, dass die Fahrerlaubnis der Gruppe 2 entzogen werde. Wäre dies der Fall, wäre die Anordnung eines Fahreignungsgutachtens überflüssig gewesen. Soweit das Landratsamt aber ein derartiges Gutachten für notwendig erachte, müsse er sich auch an die nachvollziehbaren Ergebnisse des Gutachtens halten. Der Gesetzgeber habe nicht in jedem Fall einer MS-Erkrankung die Entziehung der Fahrerlaubnis vorgesehen; das Ermessen der Behörde sei hier fehlerhaft ausgeübt worden. Beim Kläger seien in den letzten eineinhalb Jahren keinerlei Verschlechterungen festgestellt worden. Er befinde sich unter ständiger medizinischer Beobachtung. Bei den testpsychologischen Befunden seien keine Bedenken vorhanden gewesen; bei den medizinischen Befunden seien keinerlei Defizite festgestellt worden. Das Landratsamt sei verpflichtet, ein Gutachten anhand der Feststellungen selbst zu bewerten. Es könne ein Ergebnis, welches nicht dem Inhalt des Gutachtens entspreche, nicht kritiklos übernehmen. Sollte sich der Gutachter allein auf die Diagnose Multiple Sklerose beschränken, würde das Ergebnis bereits im Vorfeld feststehen. Der Kläger verfüge über langjährige Fahrerfahrung. Er sei in der Vergangenheit in keiner Weise verkehrsrechtlich negativ aufgefallen. Eine Teilentziehung der Fahrerlaubnis mit sofortiger Wirkung schränke den Kläger auf unverhältnismäßige Weise sowohl beruflich als auch privat ein. Der Kläger betreibe nebenberuflich eine Landwirtschaft.
4. Das Landratsamt beantragt für den Beklagten, die Klage abzuweisen.
Der Regelfall der Fahruntauglichkeit für Fahrzeuge der Gruppe 2 sei auch bei der letzten Änderung der Begutachtungsleitlinien beibehalten worden sein. Im Fahreignungsgutachten sei im Abschnitt „Voraussetzungen für eine günstige Beurteilung“ aufgeführt, dass sich der Gutachter im Klaren darüber gewesen sei, dass bei Nr. 6.1 der Anlage 4 zur FeV in seltenen Fällen eine Ausnahme hinsichtlich der Fahreignung für die Gruppe 2 möglich sei. Das Gutachten hätte jedoch lediglich dann Aussagen hierzu enthalten müssen, wenn entgegen dieser Feststellung, die Eignung ausnahmsweise hätte bejaht werden können. Eine fachliche Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Gutachtens sei einer Fahrerlaubnisbehörde rein sachlogisch nur eingeschränkt möglich. Eine solche könne lediglich dann erfolgen, wenn die gutachterlichen Ausführungen offensichtlich unrichtig seien, ohne dass es für diese Erkenntnis eigener medizinischer Erfahrung oder Ausbildung bedürfe.
5. Mit Beschluss vom 22. Februar 2023 (Az. …) gab das Gericht einem Eilantrag des Klägers statt.
Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass im Falle des Klägers nicht ausgeschlossen werden könne, dass ausnahmsweise von den in Anlage 4 zur FeV vorgenommenen Regelbewertungen abgewichen und in Nr. 3 der Vorbemerkung zur Anlage 4 der FeV Anwendung finden könne. Die konkreten Befunde des Klägers seien insoweit nicht ausreichend gutachterlich gewürdigt worden, weswegen der Schluss auf die fehlende Fahreignung des Klägers für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 nicht überzeuge. Es bestünden jedoch weiterhin Fahreignungszweifel hinsichtlich der Gruppe 2.
Im Nachgang des gerichtlichen Beschlusses vom 22. Februar 2023 gab das Landratsamt mit Schreiben vom 27. Februar 2023 eine Nachbesserung des Gutachtens in Auftrag. Der Kläger ließ daraufhin ein ärztliches Gutachten der … GmbH vom 20. März 2023 vorlegen, welches erneut zu dem Ergebnis kommt, dass die Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 2 nicht gegeben sei. Ergänzend zu dem ursprünglichen Gutachten vom 10. Oktober 2022 wird unter „Bewertung der Befunde“ ausgeführt, dass beim Kläger am 14. Juli 2022 ein Fortschreiten der Erkrankung fachärztlich objektiv festgestellt worden sei (raschere Ermüdbarkeit des linken Beines bei Belastung und verschlechterte somatosensible und motorisch evozierte Potentiale), zudem bestünden berichtete Missempfindungen im Bereich der Beine, welche zu Schlafstörungen mit Abgeschlagenheit am Folgetag führten. Die Voraussetzungen für die Gruppe 2 lägen krankheitsbedingt gemäß den geltenden Regelwerken allgemein auf Dauer nicht vor. Abortive Fälle von Multipler Sklerose könnten ggf. ausnahmsweise im Einzelfall eine andere Bewertung erlauben. Beim Kläger sei eine solche Befundlage aus verkehrsmedizinischer Sicht keinesfalls gegeben. Die Krankheit schreite in geringem Maße fort und habe bereits mindestens zweitweise verkehrsrelevante Defizite gezeigt (Beinparese links 2019), aktuell zeige sich im Juli 2022 bei einer fachärztlichen Kontrolle trotz allem eine Befundverschlechterung gegenüber einer Voruntersuchung ein Jahr zuvor. Ein Fatigue-Syndrom sei bisher nicht beschrieben worden, wohl aber subjektiv verspürte Abgeschlagenheit nach symptombedingtem Schlafmangel. Auch aufgrund der erst vergleichsweise eher kurzen Krankheitsdauer (ca. 2 Jahre) sei der weitere Verlauf unter Therapie beim Kläger mittelfristig nicht vorauszusehen.
Der Bevollmächtigte des Klägers legte zudem noch einen Entlassungsbericht der …-Klinik … vom 25. Januar 2023 vor. Die Fahreignung für PKW und LKW sei demnach gegeben.
6. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte sowie auf das Protokoll zur mündlichen Verhandlung vom 18. September 2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat keinen Erfolg.
1. Der Bescheid des Landratsamts vom 1. Dezember 2022 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung – hier der Zustellung des Entziehungsbescheids am 6. Dezember 2022 – (vgl. etwa BVerwG, U.v. 23.10.2014 – 3 C 3.13 – DAR 2014, 711 – juris) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
a) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 1 Satz 3 StVG i.V.m. § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV).
Dies gilt gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde.Die Krankheit Multiple Sklerose ist nicht ausdrücklich in der Anlage 4 zur FeV aufgeführt, ist aber in Bezug auf die motorischen Fähigkeiten als eine Erkrankung bzw. Verletzung des Rückenmarks gemäß Nr. 6.1 der Anlage 4 zur FeV zu behandeln (BayVGH, B.v. 7.11.2018 – 11 CS 18.435 – juris Rn. 16; OVG SH, B.v. 26.4.2017 – 4 LA 4/17 – juris Rn. 8; vgl. auch Nr. 3.9.1. der Begutachtungsleitlinien). Nach Nr. 6.1 der Anlage 4 zur FeV ist die Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 (Fahrerlaubnisklassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und FzF) bei Erkrankungen und Folgen von Verletzungen des Rückenmarks grundsätzlich nicht gegeben.
Nach Vorbemerkung 3 zur Anlage 4 zur FeV gelten die dort vorgenommenen Bewertungen für den Regelfall. Kompensationen durch besondere menschliche Veranlagung, durch Gewöhnung, durch besondere Einstellung oder durch besondere Verhaltenssteuerungen und -umstellungen sind möglich. Ergeben sich im Einzelfall in dieser Hinsicht Zweifel, kann eine Fahreignungsbegutachtung angezeigt sein.
Grundlage für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sind nach § 11 Abs. 5 FeV i.V.m. der Anlage 4a zur FeV die Begutachtungs-Leitlinien für Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (VkBl. S. 110) in der Fassung vom 17. Februar 2021 (VkBl. S. 198 – im Folgenden: Begutachtungsleitlinien). Die Begutachtungsleitlinien weisen in Nr. 3.9.1 darauf hin, dass jemand, der unter Erkrankungen oder Folgen von Verletzungen oder Operationen des Rückenmarks leidet, die in relevantem Umfang zu motorischen Behinderungen führen, nicht in der Lage ist, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 gerecht zu werden. Eine Ausnahme von dieser Regelung sei nur in seltenen Fällen möglich und bedarf der Begründung. Auf jeden Fall muss die nervenärztliche bzw. neurologische Untersuchung ergeben, dass eine Kompensation gemäß den „Sicherheitsmaßnahmen bei körperbehinderten Kraftfahrern“ für Schäden an den Extremitäten und der Wirbelsäule möglich ist. Zur Begründung ist u.a. aufgeführt, dass die Vielfalt der Symptome bei Erkrankungen und Verletzungen des Rückenmarks eine Normierung im Einzelfall nicht zulässt. Entscheidend ist, ob es sich um Erkrankungen handelt, die schwere Ausfallerscheinungen hervorrufen, oder die in langsam fortschreitendem Verlauf zu schweren Störungen führen. Die Empfehlung berücksichtigt, dass es Ausnahmen gibt, z.B. abortive Fälle von Multipler Sklerose oder auch ungewöhnlich gut kompensierte Fälle anderer Krankheits- und Schädigungsfolgen. Im Einzelfall mag daher die Voraussetzung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 – unter Umständen auch bedingt – gegeben sein.
b) Hiervon ausgehend war unter Zugrundelegung des ärztlichen Gutachtens vom 20. März 2023 zum maßgeblichen Zeitpunkt von einer mangelnden Fahreignung des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 auszugehen.
aa) Das ergänzte Gutachten vom 20. März 2023 ist verwertbar, obwohl das Erstellungsdatum nach dem maßgeblichen Zeitpunkt des 6. Dezember 2022 liegt. Das ergänzte Gutachten wurde erst am 20. März 2023 abgesandt und dem Gericht am 7. August 2023 bekannt. Das ergänzte Gutachten stützt sich jedoch auf ärztliche Befunde und Erkenntnisse, die bereits bei Erlass des Entziehungsbescheids vorlagen und sich ersichtlich auf den auf dem ergänzen Gutachten weiterhin vermerkten Untersuchungstermin vom 16. August 2022 beziehen. Ein Bescheid, der ohne ausreichende Tatsachengrundlage ergeht, aber bezüglich dessen sich später herausstellt, dass die Voraussetzungen für den Erlass des Bescheids bereits zum Erlasszeitpunkt vorlagen, muss, wenn es sich um zwingende Rechtsvorschriften ohne Ermessen handelt, nicht aufgehoben werden, weil er sofort wieder erlassen werden müsste (BayVGH, B.v. 3.5.2017 – 11 CS 17.312 – juris Rn. 27). Demnach kann das ergänzte Gutachten vom 20. März 2023 zur Bewertung der Fahreignung des Klägers herangezogen werden.
bb) Dem ärztlichen Gutachten vom 20. März 2023 wurde der unbestrittene Sachverhalt zugrunde gelegt, dass der Kläger an Multipler Sklerose erkrankt ist. Wie bereits ausgeführt, entfällt damit grundsätzlich nach Nr. 6.1 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2. Insoweit genügt allein die Diagnose einer Krankheit im Sinne der Nr. 6.1 der Anlage 4 zur FeV. Sind in solchen Fällen keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass eine vom Regelfall abweichende Betrachtung i.S.d. Vorbemerkung Nr. 3 Anlage 4 zur FeV vorliegen könnte, ist insoweit eine isolierte Entziehung der Fahrerlaubnis der Gruppe 2 vorzunehmen, ohne dass es eines Fahreignungsgutachtens bedürfte (zu Nr. 6.3 der Anlage 4 zur FeV: BayVGH, B.v. 9.2.2023 – 11 ZB 22.261 – juris Rn. 22; B.v. 2.4.2020 – 11 CS 19.1733 – juris Rn.16). Unter Berücksichtigung der Ausführungen in den Begutachtungsgleitlinien ist eine Ausnahme von dieser Regelung jedoch zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen. Beispielhaft sind in Nr. 3.9.1 der Begutachtungsleitlinien für Ausnahmen abortive Fälle von Multipler Sklerose oder auch ungewöhnlich gut kompensierte Fälle anderer Krankheits- und Schädigungsfolgen aufgelistet. Ergeben die im Rahmen der Vorabklärung durch den Betroffenen vorgelegte ärztliche Unterlagen hinreichende Anhaltspunkte für eine Ausnahme i.S.v. Nr. 3 der Vorbemerkung zur Anlage 4 zur FeV, hat die Behörde ein Fahreignungsgutachten anzuordnen, um eben diese Frage gutachterlich zu klären.
cc) Eine Abweichung vom Regelfall der Nr. 6.1 der Anlage 4 zur FeV im Sinne der Vorbemerkung 3 zur Anlage 4 zur FeV liegt beim Kläger jedoch nicht vor.
(1) Die normative Wertung von Nr. 6.1 der Anlage 4 zur FeV entfaltet grundsätzlich strikte Bindungswirkung, solange keine Umstände des Einzelfalls vorliegen, die ausnahmsweise eine andere Beurteilung rechtfertigen. Durch die entsprechende Regelung in der Vorbemerkung 3 zur Anlage 4 zur FeV, wonach die Bewertungen der FeV nur für den Regelfall gelten, wird dem in Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch den Verordnungsgeber Genüge getan (BayVGH, B.v. 23.4.2008 – 11 CS 07.2671 – juris Rn. 12; B.v. 13.3.2020 – 11 ZB 20.1 – juris Rn. 13). Beispielshaft sind in Satz 2 der Vorbemerkung 3 der Anlage 4 zur FeV besondere menschliche Veranlagung, Gewöhnung, besondere Einstellung oder besondere Verhaltenssteuerungen und -umstellungen genannt, durch die eine Kompensation gelingen kann. Eine solche Ausnahme ist auch in den Begutachtungsleitlinien vorgesehen (vgl. oben). Die Begutachtungsleitlinien haben hier zwar keine Rechtsnormqualität, soweit sie wissenschaftliche Grundsätze wiedergeben, sind sie als antizipierte Sachverständigengutachten jedoch von erheblicher Bedeutung für die Bewertung der Fahreignung. Insoweit geben sie zumindest allgemeine Erfahrungssätze wieder (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 18.1.2022 – 11 CS 21.1767 – juris Rn. 15; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 11 FeV Rn. 20).
Für die Bejahung eines Ausnahmefalles im Sinn der Vorbemerkung 3 zur Anlage 4 zur FeV bedarf es besonders eingehender Darlegungen, in denen sorgfältig und nachprüfbar aufgezeigt wird, dass und warum die vom Verordnungsgeber vorgenommenen Wertungen, die ihrerseits auf sachverständigen Einschätzungen beruhen, im konkreten Fall nicht zutreffen (BayVGH, B.v. 9.7.2012 – 11 ZB 12.1052 – juris Rn. 33). Insoweit obliegt es dem Betroffenen, durch schlüssigen Vortrag die besonderen Umstände darzulegen und nachzuweisen, die ein Abweichen von der Regelvermutung rechtfertigen sollen (stRspr., vgl. BayVGH, B.v. 1.7.2015 – 11 CS 15.1151 – juris Rn. 14; B.v. 10.6.2014 – 11 CS 14.347 – juris Rn. 8; B.v. 14.2.2012 – 11 CS 12.28 – juris Rn. 9; B.v. 7.1.2009 – 11 CS 08.1545 – juris Rn. 20). Nach den allgemeinen Grundsätzen der Beweislastverteilung trägt derjenige die materielle Beweislast für das Vorliegen der die Ausnahme begründenden Voraussetzungen, der sich auf den Ausnahmetatbestand beruft (BayVGH, B.v. 12.10.2022 – 11 CS 22.1883 – juris Rn. 22 m.w.N.).
(2) Hiervon ausgehend war es im Fall des Klägers zumindest angezeigt, das mögliche Vorliegen einer Ausnahme im Sinne der Vorbemerkung 3 zur Anlage 4 zur FeV gutachterlich überprüfen zu lassen. Nach Aufforderung des Landratsamts hat der Kläger zunächst im Rahmen der Vorabklärung unter dem 12. Juni 2022 einen Befundbericht seines behandelnden Hausarztes vom 9. Juni 2022 vorgelegt, in dem die Diagnose Multiple Sklerose gestellt wurde. Als einzige Residuen bestünden zurzeit neuropathische Schmerzen im Oberschenkelbereich beidseits. Eine Behandlung erfolge hier nicht, sei aber auch nicht erforderlich.
(3) Während das Gericht im Eilbeschluss vom 22. Februar 2023 noch von einer Unvollständigkeit des ärztlichen Gutachtens vom 10. Oktober 2022 ausgegangen ist (vgl. B.v. 22.2.2023, S. 12 ff.) und ausgeführt hat, dass die gutachterliche Schlussfolgerung bezüglich der fehlenden Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 2 nicht überzeugend war, wird in dem ergänzten Gutachten vom 20. März 2023 hinreichend auf das mögliche Vorliegen einer Ausnahme im Sinne der Nr. 3 der Vorbemerkung zur Anlage 4 zur FeV eingegangen und überzeugend verneint.
Im ärztlichen Gutachten vom 20. März 2023 wird zunächst ausführlich dargelegt, welche Voraussetzungen für eine günstige Beurteilung der Fahreignung des Klägers erfüllt sein müssen. Dabei wird insbesondere auf die bereits dargestellten Bewertungen in Nr. 6.1 der Anlage 4 zur FeV und Nr. 3.9.1 der Begutachtungsleitlinien Bezug genommen. Zudem führt die Gutachterin aus, dass die Einordnung von Multipler Sklerose in der medizinischen Fachliteratur kritisch diskutiert und ausdrücklich darauf hingewiesen werde, dass sich die Fahreignung nicht auf die Bewertung der Bewegungseinschränkungen beschränken darf, sondern vor allem auch Beeinträchtigungen der visuellen Wahrnehmung, der kognitiven Leistungsfähigkeit und der Aufmerksamkeit überprüft werden müssten.
Ausweislich der Bewertung der Befunde im ärztlichen Gutachten vom 20. März 2023 liegt beim Kläger seit ca. 2019 eine Multiple Sklerose des schubförmig remittierenden Verlaufstyps (ICD-10 G35.9G) vor. Nach vorübergehenden Symptomen (im Jahr 2019) im Bereich der Beine sei der körperliche Zustand seit 2019 unter Therapie mit einer immunmodulatorischen Substanz zunächst objektiv fast restlos verbessert worden (geringe Missempfindungen im Bereich der Oberschenkel ohne motorische Lähmung) und seitdem subjektiv und objektiv stabil, erneute Schübe seien nicht aufgetreten. Der radiologische Befund spreche nicht für ein fortschreitendes Geschehen, bei bestimmten Untersuchungen der Nerven sei eine leichte Verschlechterung der Werte objektiv feststellbar. Bei einer ärztlichen Untersuchung am 14. Juli 2022 sei ein Fortschreiten der Erkrankung fachärztlich objektiv festgestellt worden (raschere Ermüdbarkeit des linken Beines bei Belastung und verschlechterten somatosensiblen und motorisch evozierten Potentialen), zudem bestünden berichtete Missempfindungen im Bereich der Beine, welche zu Schlafstörungen mit Abgeschlagenheit am Folgetag führten. Die Angaben des Klägers seien durch ärztliche Atteste gestützt. Aus neurologischer Sicht sei das Vorliegen von weiterhin eher nur geringen Symptomen ohne erkennbare Fahreignungsrelevanz erneut bestätigt.
Im Vergleich zum Gutachten vom 10. Oktober 2022 setzt sich das ergänzte Gutachten vom 20. März 2023 insbesondere ausführlicher mit dem ärztlichen Attest der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums … vom 14. Juli 2022 (vgl. Gutachten v. 20.3.2023, S. 5) auseinander und legt nachvollziehbar dar, dass beim Kläger gerade kein Fall einer abortiven Multiplen Sklerose vorliegt. Dieses Ergebnis wird damit begründet, dass sich bei der fachärztlichen Untersuchung am 14. Juli 2022 eine Befundverschlechterung gegenüber einer Untersuchung im Vorjahr gezeigt habe und dass der Kläger bereits mindestens zeitweise verkehrsrelevante Defizite (Beinparese links 2019) aufgewiesen habe. Zudem sei ein sogenanntes Fatigue-Syndrom bisher nicht diagnostiziert worden, der Kläger habe jedoch von subjektiv verspürter Abgeschlagenheit nach symptombedingtem Schlafmangel berichtet. Obgleich die Begründung relativ kurz gehalten ist, wird für das Gericht doch hinreichend plausibel dargelegt, dass es sich beim Kläger nicht um einen besonders leichten bzw. abortiven Fall der Multiplen Sklerose handelt. Die Krankheit ist gerade durch ihren progressiven und schubförmigen Verlauf gekennzeichnet und kann auch erst in der weiteren Entwicklung zu schweren Störungen führen (vgl. Nr. 3.9.1 der Begutachtungsleitlinien). Dass eine weitere Verschlechterung der Krankheit auftreten wird, ist im Falle des Klägers keine theoretische Möglichkeit, sondern nach den Feststellungen im Gutachten festgestellt und im weiteren Verlauf unvermeidbar. In diesem Zusammenhang ist besonders nochmals auf die hohen Begründungsanforderungen im Falle der Bejahung einer Ausnahme im Sinne der Vorbemerkung 3 zur Anlage 4 zur FeV zu verweisen (vgl. u.a. BayVGH, B.v. 1.7.2015 – 11 CS 15.1151 – juris Rn. 14). Gerade bei Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 besteht ein erhöhtes Gefährdungspotenzial. Es sind daher hohe Anforderungen an die Bejahung einer Ausnahme zur Regelbewertung nach Nr. 6.1 der Anlage 4 zur FeV zu stellen.
(4) Letztlich hat der Kläger hat auch keine aussagekräftigen medizinischen Dokumente vorgelegt, welche die Feststellungen im Gutachten erschüttern könnten. Die im gerichtlichen Verfahren vorgelegte Entlassungsmitteilung der …-Klinik … vom 25. Januar 2023 umfasst bereits einen Zeitraum (29.12.2022 bis 21.1.2023), der nach dem maßgeblichen Zeitpunkt der Zustellung des Entziehungsbescheides am 6. Dezember 2022 liegt. Das Dokument ist daher nicht berücksichtigungsfähig. Auch kann allein die pauschale Aussage „Fahreignung für Pkw und Lkw gegeben“ die gutachterlichen Feststellungen im ergänzten Gutachten vom 20. März 2023 nicht widerlegen, zumal es sich um eine bloße einseitige Entlassungsmitteilung mit allenfalls eingeschränkter Aussagekraft handelt. Darüber hinaus ist auch nicht erkennbar, dass der unterzeichnende Arzt über eine verkehrsmedizinische Qualifikation verfügt.
dd) Damit steht fest, dass der Kläger nach § 3 Abs. 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV i.V.m. Nr. 6.1 der Anlage 4 zur FeV dem Regelfall entsprechend zum maßgeblichen Zeitpunkt ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 war. Die Fahrerlaubnis war insoweit zwingend zu entziehen. Ein Ermessen stand dem Landratsamt dabei nicht zu.
c) Ausgehend von der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis ist auch die Abgabeverpflichtung hinsichtlich des Führerscheins aus Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids rechtlich nicht zu beanstanden. Diese ergibt sich aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG i.V.m. § 47 Abs. 1 Satz 1 und 2 FeV.
2. Nach alledem ist die Klage abzuweisen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 7.500,– festgesetzt.
Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) i.V.m. der Empfehlung in Nr. 46.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.