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Fahrerlaubnisentziehung – Bindung Fahrerlaubnisbehörde an rechtskräftige Ordnungswidrigkeit

VG München – Az.: M 19 S 22.3225 – Beschluss vom 16.08.2022

I. Der Antrag wird abgelehnt.

II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Entziehung seiner Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem und die für sofort vollziehbar erklärte zwangsgeldbewehrte Anordnung zur Abgabe seines Führerscheins.

Der am …. April 1975 geborene Antragsteller ist Inhaber der Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, C1 (171), C1E, CE (79), L (174), M und S.

Nach einer Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 22. Januar 2018 an die Antragsgegnerin ergab sich für den Antragsteller ein Stand von 5 Punkten im Fahreignungsregister:

Datum der – Tat – Entscheidung              Verkehrszuwiderhandlung              Datum der Rechtskraft Datum der – Tilgung – Löschung              Punkte

24.1.2017 10.2.2017      Geschwindigkeitsüberschreitung 25 km/h innerorts           1.3.2017            1.9.2019 1.9.2020          (1)

3.3.2017 29.5.2017        Nichteinhaltung des erforderl. Mindestabstands           24.8.2017          24.2.2020 24.2.2021      (1)

7.3.2017 29.5.2017        Geschwindigkeitsüberschreitung 24 km/h außerorts          27.11.2017        7.5.2020 7.5.2021          (1)

8.8.2017 10.10.2017      Geschwindigkeitsüberschreitung 48 km/h außerorts          10.1.2018          10.1.2023 10.1.2024      2

Daraufhin ermahnte die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Schreiben vom 31. Januar 2018, dem Antragsteller am 3. Februar 2018 zugestellt, auf Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) und wies ihn auf die Möglichkeit zur freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar hin.

Nach einer weiteren Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 25. Juni 2018 an die Antragsgegnerin enthielt das Fahreignungsregister für den Antragsteller folgende neue Eintragung:

Datum der – Tat – Entscheidung              Verkehrszuwiderhandlung              Datum der Rechtskraft Datum der – Tilgung – Löschung              Punkte

3.3.2018 22.5.2018        Geschwindigkeitsüberschreitung 21 km/h außerorts          12.6.2018          12.12.2020 12.12.2021 (1)

Nachdem sich somit für den Antragsteller im Fahreignungsregister 6 Punkte ergaben, verwarnte die Antragsgegnerin ihn mit Schreiben vom 9. Juli 2018, dem Antragsteller am 11. Juli 2018 zugestellt, auf Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG und wies ihn auf die Möglichkeit zur freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar sowie darauf hin, dass bei einem Stand von 8 Punkten die Fahrerlaubnis entzogen werde.

Nach einer weiteren Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 29. April 2021 enthielt das Fahreignungsregister für den Antragsteller neben den vorgenannten, die weiteren folgenden Eintragungen:

Datum der – Tat – Entscheidung              Verkehrszuwiderhandlung              Datum der Rechtskraft Datum der – Tilgung – Löschung              Punkte

13.3.2019 9.4.2019        Verbotswidrige Nutzung eines Mobil- oder Autotelefons     26.4.2019          26.10.2021 26.10.2022 (1)

27.1.2020 13.3.2020      Termin zur Hauptuntersuchung um mehr als 8 Monate überschritten  1.4.2020            1.10.2022 1.10.2023      1

27.8.2020 12.10.2020   Geschwindigkeitsüberschreitung 22 km/h außerorts          30.10.2020        30.4.2023 30.4.2024      1

23.12.2020 22.3.2021   Geschwindigkeitsüberschreitung 43 km/h außerorts          9.4.2021            9.4.2026 9.4.2027          2

Die Antragsgegnerin sprach gegenüber dem Antragsteller mit Schreiben vom 15. Juni 2021, ihm mittels Postzustellungsurkunde am 17. Juni 2021 zugestellt, auf Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG eine erneute Verwarnung aus. Es wird auf einen mit 7 Punkte zu bewertenden Punktestand des Antragstellers im Fahreignungsregister hingewiesen.

Nach den weiteren Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 5. und 17. Februar 2022 gehen aus dem Fahreignungsregister für den Antragsteller neben den vorgenannten, die folgenden weiteren Eintragungen hervor:

Datum der – Tat – Entscheidung              Verkehrszuwiderhandlung              Datum der Rechtskraft Datum der – Tilgung – Löschung              Punkte

19.8.2021 2.12.2021      Geschwindigkeitsüberschreitung 22 km/h innerorts           28.12.2021        28.6.2024 28.6.2025      1

14.12.2021 7.1.2022      Rotlichtmissachtung      26.1.2022              26.7.2024 26.7.2025      1

Nach vorheriger Anhörung des Antragstellers mit Schreiben vom 22. Februar 2022, ihm zugestellt am 24. Februar 2022, beantragte der Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 11. März 2022 Akteneinsicht und trug vor, aus der Liste der mitgeteilten Verkehrsverstöße ginge nicht hervor, inwiefern sie alle vom Antragsteller selbst und mit welchem Fahrzeug sie begangen worden seien. Außerdem seien ihm nicht alle Bescheide persönlich zugegangen. Mit Schreiben vom 15. März 2022 gewährte die Antragsgegnerin Akteneinsicht und teilte mit, dass sich der Fahrzeugtyp mit amtlichem Kennzeichen und auch die Zustellnachweise der einzelnen Bußgeldbescheide nur bei der Zentralen Bußgeldstelle in der Bußgeldakte befänden.

Mit Bescheid vom 25. Mai 2022, dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zugestellt am 28. Mai 2022, entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Klassen (Nr. 1) und ordnete die Abgabe des Führerscheins bis spätestens eine Woche nach Bescheidszustellung an (Nr. 2). Hinsichtlich Nr. 2 wurde für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in Höhe von 1.000 EUR angedroht (Nr. 3) und die sofortige Vollziehung angeordnet (Nr. 4). Die Entziehung der Fahrerlaubnis wurde mit dem Erreichen von 8 Punkten begründet (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG), die Anordnung zur Ablieferung des Führerscheins auf § 3 Abs. 2 StVG, § 47 Abs. 1 Fahrerlaubnisverordnung (FeV) gestützt. Alle Eintragungen zur Person des Antragstellers im Fahreignungsregister seien rechtskräftig und zu verwerten.

Gegen diesen Bescheid ließ der Antragsteller am 24. Juni 2022 beim Verwaltungsgericht München Klage erheben (M 19 K …) und gleichzeitig beantragen, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 25. Mai 2022 anzuordnen.

Zur Begründung ließ er im Wesentlichen vortragen, die Bußgeldbescheide vom 9. April 2019, vom 13. März 2020, vom 12. Oktober 2020 und vom 22. März 2021 seien nicht an den Antragsteller zugestellt worden. Wie aus den Personendaten der entsprechenden Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes zu entnehmen sei, seien diese nicht an den in der …straße 20 b wohnhaften Antragsteller zugestellt worden, sondern an die Adresse …straße 20. Die Häuser lägen in etlicher Entfernung; zudem seien der Antragsteller und der Bewohner des Hauses der Nummer 20 verfeindet. Im dortigen Briefkasten eingeworfene Post werde dem Antragsteller regelmäßig nicht weitergeleitet; so sei es jedenfalls mit den dem Antragsteller bis dato unbekannten Bußgeldbescheiden gewesen. Im Übrigen sei die Bußgeldentscheidung vom 9. April 2019 mit dem 26. Oktober 2021 getilgt. Die mit Bußgeldentscheidung vom 12. Oktober 2020 bewehrte Tat vom 27. August 2020 sei zudem nicht vom Antragsteller begangen worden. Dem Antragsteller habe ein Heimservice-Betrieb in Rosenheim, … 1 gehört, der von einem Geschäftsführer geleitet und an den mutmaßlichen Fahrer verpachtet worden sei. Dieser sei regelmäßig mit dem PKW nach Betriebsschluss gegen 23 Uhr von Rosenheim in seine Wohnung nach München gefahren.

Die Antragsgegnerin beantragte mit Schreiben vom 1. August 2022, den Antrag abzulehnen.

Sie bezog sich im Wesentlichen auf die Bescheidsbegründung und führte aus, dass der Antragsteller kraft Gesetzes gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gelte. Die Fahrerlaubnisbehörden seien bei Maßnahmen nach den Nummern 1 bis 3 des § 4 Abs. 5 StVG an die rechtskräftige Entscheidung über die Ordnungswidrigkeit gebunden (§ 4 Abs. 5 Satz 4 StVG). Alle Eintragungen, die zum Erreichen von 8 Punkten beigetragen hätten, seien nach wie vor im Fahreignungsregister eingetragen. Die Antragsgegnerin habe daher die Fahrerlaubnis entziehen müssen, ohne dass ihr dabei ein Ermessen zugestanden habe.

Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Der Antrag bleibt ohne Erfolg.

Nach Auslegung des gestellten Antrags (§§ 122 Abs. 1, 88 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) ist davon auszugehen, dass der Antragsteller hinsichtlich der in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügten und kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Entziehung seiner Fahrerlaubnis die Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 9 StVG), hinsichtlich der in Nr. 2 des Bescheids verfügten und für sofort vollziehbar erklärten Verpflichtung zur Ablieferung seines Führerscheins die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung und hinsichtlich der in Nr. 3 des Bescheids verfügten und ebenfalls kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Zwangsgeldandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 21a Satz 1 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz – VwZVG) ebenfalls die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage begehrt.

Der so verstandene Antrag ist zulässig, aber unbegründet.

1. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 4 des Bescheids vom 25. Mai 2022 genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Nach dieser Vorschrift ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat. An den Inhalt der Begründung sind dabei keine zu hohen Anforderungen zu stellen (Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 55).

Dem genügt die Begründung im streitgegenständlichen Bescheid. Die Antragsgegnerin hat dargelegt, dass sie die sofortige Ablieferung des Führerscheins angeordnet hat, um seiner missbräuchlichen Verwendung nach Entziehung der Fahrerlaubnis entgegen zu wirken. Im Übrigen ergibt sich im Bereich des Sicherheitsrechts das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung bereits aus den Gesichtspunkten, die für den Erlass des Verwaltungsakts maßgebend waren (BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 10 CS 19.180 – juris Rn. 10 ff.).

2. Bei der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht eine eigenständige Interessenabwägung vorzunehmen. Abzuwägen ist das Interesse des Antragstellers, zumindest vorläufig von seiner Fahrerlaubnis weiter Gebrauch machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird. Bei der Prüfung ist in erster Linie von den Erfolgsaussichten des eingelegten Hauptsacherechtsbehelfs, hier der Klage vom 24. Juni 2022, auszugehen. Lässt sich bei summarischer Prüfung eindeutig feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsakts bestehen. Andererseits ist für eine Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers im Regelfall kein Raum, wenn keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen. So liegt die Sache hier.

Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (stRspr, vgl. u.a. BVerwG, U.v. 23.10.2014 – 3 C 3.13 – juris Rn. 13), hier somit derjenige des Bescheidserlasses. Dies gilt auch für den vorliegenden Beschluss.

2.1. Die zulässige Klage vom 24. Juni 2022 gegen die mit Bescheid vom 25. Mai 2022 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis (dort Nr. 1) hat voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg, da die Entziehung rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde dem Inhaber einer Fahrerlaubnis, der sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist, die Fahrerlaubnis zu entziehen. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt dieser als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich aus dem Fahreignungs-Bewertungssystem 8 oder mehr Punkte ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann zwingend die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sie die Maßnahmen der davor liegenden Stufen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 StVG bereits ergriffen hat (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG). Für die Entziehung der Fahrerlaubnis hat die Behörde nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Punkte ergeben sich nach § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (Tattagprinzip).

2.1.1. Am 14. Dezember 2021 – dem Tag der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG) – ergaben sich für den Antragsteller 8 Punkte, sodass die Fahrerlaubnis zu diesem Zeitpunkt zu entziehen war. Zu den einzelnen Punkten des Antragstellers wird auf die unter I. dargestellten Tabellen verwiesen.

Nach § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 StVG werden Zuwiderhandlungen nur dann berücksichtigt, wenn deren Tilgungsfrist zu dem in Satz 5 genannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war. Spätere Verringerungen des Punktestandes auf Grund von Tilgungen bleiben nach § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG unberücksichtigt. Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt am 14. Dezember 2021 war die Tilgungsfrist für die im Bescheid berücksichtigten Taten vom 8. August 2017 (Tilgungsfrist am 10.1.2023), vom 27. Januar 2020 (Tilgungsfrist am 1.10.2022), vom 27. August 2020 (Tilgungsfrist am 30. April 2023), vom 23. Dezember 2020 (Tilgungsfrist am 9.4.2026), vom 19. August 2021 (Tilgungsfrist am 28.6.2024) und vom 14. Dezember 2021 (Tilgungsfrist am 26.7.2024) noch nicht abgelaufen (vgl. insoweit § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchst. a und Buchst. b, Abs. 4 Nr. 3 StVG). Infolge des erst späteren Ablaufs der jeweiligen Tilgungsfrist finden daher alle in den unter I. dargestellten Tabellen aufgeführten Taten, deren Punktestand ohne Klammer dargestellt ist, Berücksichtigung für den Punktestand des Antragstellers am 14. Dezember 2021.

2.1.2. Die Antragsgegnerin hat die beiden nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 StVG vor der Entziehung der Fahrerlaubnis liegenden Stufen des Maßnahmensystems rechtsfehlerfrei gegen den Antragsteller ergriffen.

Bei der Berechnung des Punktestandes zum Ergreifen der Maßnahmen ist auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der letzten (zur Maßnahme führenden) Straftat oder Ordnungswidrigkeit (Tattagprinzip) ergeben hat (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG), wobei nur die Verstöße berücksichtigt werden dürfen, deren Tilgungsfrist in diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war. § 4 Abs. 5 Satz 6 StVG stellt ausdrücklich klar, dass spätere Verringerungen des Punktestandes aufgrund von Tilgungen unberücksichtigt bleiben. Damit wird klargestellt, dass es ausreicht, wenn die jeweilige Maßnahmenstufe einmal erreicht wurde (BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 3 C 21.15 – juris Rn. 22). Anders als bei der vorbeschriebenen Unbeachtlichkeit einer zwischenzeitlich erfolgten Tilgung für den maßgeblichen Punktestand liegt es bei der Löschung der Eintragung nach § 29 Abs. 6 StVG (Rückschluss aus § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG). Im Falle einer Löschung überlagert und begrenzt das absolute Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG das Tattagprinzip nach § 4 Abs. 5 Sätze 5 bis 7 StVG (BVerwG, U.v. 18.6.2020 – 3 C 14/19 – juris Rn. 20).

Der Antragsteller wurde bei einem Punktestand von 5 Punkten mit Schreiben vom 31. Januar 2018 ermahnt und bei einem Punktestand von 6 Punkten mit Schreiben vom 9. Juli 2018 verwarnt. Zu diesem Zeitpunkt unterlagen die 5 einbezogenen Taten (24.1.2017, 3.3.2017, 7.3.2017, 8.8.2017 und 3.3.2018) weder einer Tilgung noch einer Löschung.

Richtigerweise hat die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Schreiben vom 15. Juni 2021 erneut verwarnt. Hierbei wurde den vorliegend im Raum stehenden Löschungen (Taten vom 24.1.2017, 3.3.2017, 7.3.2017 und 3.3.2018) Rechnung getragen, wodurch sich das Punktekonto des Antragstellers um 4 Punkte (von 11 auf 7 Punkte) verringert hatte. Denn aufgrund des erst am 29. April 2021 vom Kraftfahrt-Bundesamt an die Antragsgegnerin übermittelten aktualisierten Standes des Fahreignungsregisters waren bei dem seit der letzten Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes eigentlich um 4 Taten (und 5 Punkten) angewachsenen Punktekonto die zwischenzeitlich erfolgten Löschungen zu berücksichtigen. Diese spätere Verringerung des Punktestandes resultierte nicht (nur) aus einer Tilgung – für diesen Fall hätte es keiner erneuten Verwarnung bedurft –, sondern aus einer Löschung der Zuwiderhandlungen (Rückschluss aus § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG). Die neuerliche Verwarnung vom 15. Juni 2021 wurde damit auch in korrekter Weise auf den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Punktestand von 7 Punkte gestützt.

2.1.3. Sämtliche Maßnahmeerklärungen des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG wurden dem Antragsteller an seine jeweilige Wohnanschrift per Postzustellungsurkunde ordnungsgemäß zugestellt. Die Ermahnung und die Verwarnung vom 9. Juli 2018 wurden an die vormalige Adresse des Antragstellers in die …straße 56, … München zugestellt. Das maßgebliche 2. Verwarnungsschreiben vom 15. Juni 2021 wurde an die korrekte Adresse des Antragstellers, nämlich die …straße 20 b in … München adressiert (vgl. Bl. 25 der Behördenakte). Die Entziehung wurde dem Antragsteller über seinen Prozessbevollmächtigen zugestellt. Im Übrigen bezieht sich der Einwand des Antragstellers der fehlenden Zustellung nicht auf die Maßnahmen nach § 4 StVG, sondern allein auf die den Maßnahmen zugrundegelegten Bußgeldbescheide.

2.1.4. Eine inhaltliche Überprüfung, ob der Antragsteller die jeweilige Ordnungswidrigkeit oder Straftat tatsächlich begangen hat, findet jedoch im Rahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems nicht statt. Die Fahrerlaubnisbehörde ist nach § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG an die rechtskräftige Entscheidung gebunden.

Die im behördlichen und gerichtlichen Verfahren von seinem Bevollmächtigten geäußerten Einwände bezüglich der Wirksamkeit der Bußgeldbescheide vermögen daher nichts am Punktestand des Antragstellers zu ändern.

(1) Der Einwand bezüglich der Bußgeldentscheidung vom 9. April 2019 verfängt schon deshalb nicht, weil die Punktebewehrung dieser Tat nicht bei den im Bescheid für die 8 Punkte maßgeblichen Taten eingeflossen ist. Dies ist der dem Bescheid anliegenden Aufstellung der Zuwiderhandlungen zu entnehmen. Hiernach setzen sich die insgesamt 8 Punkte aus den Taten vom 8. August 2017 (Entscheidung vom 10.10.2017), vom 27. Januar 2020 (Entscheidung vom 13.3.2020), vom 27. August 2020 (Entscheidung vom 12.10.2020), vom 23. Dezember 2020 (Entscheidung vom 22.3.2021), vom 19. August 2021 (Entscheidung vom 2.12.2021) und vom 14. Dezember 2021 (Entscheidung vom 7.1.2022) zusammen, nicht dagegen aus der Entscheidung vom 9. April 2019 (Tat vom 13.3.2019). Zur Last gelegt werden ihm – anders als im Vortrag des Antragstellers dargestellt – 8 und nicht 9 Punkte, was im Übrigen aber nicht entscheidungserheblich wäre, da 8 Punkte bereits zur Entziehung ausreichen.

(2) Die von Antragstellerseite vorgetragene Argumentation bezüglich einer fehlenden Zustellung der Bußgeldbescheide vom 13. März 2020, vom 12. Oktober 2020 und vom 22. März 2021 finden aufgrund der vorgenannten Bindung der Fahrerlaubnisbehörden an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder Ordnungswidrigkeit keine Berücksichtigung (§ 4 Abs. 5 Satz 4 StVG). Eine Überprüfung der eingetragenen und mit Punkten bewerteten Verstöße bzw. Entscheidungen findet innerhalb des Fahrerlaubnisverfahrens nicht mehr statt (Hühnermann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 27. Aufl. 2022, StVG § 4 Rn. 28). Der Betroffene muss daher eine Entscheidung über eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit so lange gegen sich gelten lassen, wie die Rechtskraft der Entscheidung besteht (BayVGH, B.v. 9.12.2020 – 11 CS 20.2039 – juris Rn. 17 f.; B.v. 6.3.2007 – 11 CS 06.3024 – juris Rn. 11; B.v. 10.7.2019 – 11 CS 19.1081 – juris Rn. 12; vgl. auch OVG NW, B.v. 9.6.2020 – 16 B 1223/19 – juris Rn. 4 ff.; OVG SH, B.v. 27.1.2017 – 4 MB 3/17 – juris Rn. 9; OVG Berlin-Bbg, B.v. 28.5.2015 – OVG 1 S 71.14 – juris Rn. 7 f.). Denn nach dem durch die Gesetzesmaterialien belegten Willen des Gesetzgebers sowie dem auf Verwaltungsvereinfachung zielenden Sinn und Zweck der Vorschrift soll die Fahrerlaubnisbehörde gerade nicht mehr prüfen müssen, ob der Betroffene die Tat tatsächlich begangen hat (vgl. BT-Drs. 13/6914 S. 69 zu § 4 StVG und S. 67 zu § 2a StVG). Diese gesetzlich angeordnete Bindungswirkung gilt auch für die Verwaltungsgerichte, die die Entscheidung der Behörde nicht beanstanden können, weil diese die für sie geltende Bindungswirkung beachtet hat (VG Gelsenkirchen, U.v. 24.1.2017 – 9 K 6775/16 – juris Rn. 35, 36 m.w.N.; BayVGH, B.v. 19.6.2009 – 11 CS 09.470 – juris Rn. 2).

Anhaltspunkte für eine Wiederaufnahme der Verfahren bezüglich der Entscheidungen vom 13. März 2020, vom 12. Oktober 2020 und vom 22. März 2021 liegen nicht vor. Es steht daher keine im Strafverfahren gewährte Wiedereinsetzung im Raum, die aufgrund des damit verbundenen rückwirkenden Wegfalls der Rechtskraft im Verwaltungsverfahren beachtlich sein könnte. Auch wurde nicht vorgetragen, dass ein Wiederaufnahmeantrag gestellt worden sei, der – der obergerichtlichen Rechtsprechung folgend – die Rechtskraft ohnehin nicht beseitigen könnte (vgl. dazu Stieber in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., Stand: 1.12.2021, § 4 StVG Rn. 60 m.w.N. unter Fn. 89; Hühnermann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl. 2022, § 4 Rn. 28).

Selbst bei evidenter Unrichtigkeit einer im Straf- oder Bußgeldverfahren ergangenen Entscheidung ist weder durch das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG) noch das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) eine Ausnahme von der strikten Bindungswirkung des § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG geboten (vgl. ausführlich BayVGH, B.v. 11.1.2022 – 11 ZB 21.164 – juris Rn. 14 ff.; B.v. 9.12.2020 – 11 CS 20.2039 – juris Rn. 18). Vorliegend könnte im Übrigen auch im Wege der Einzelfallprüfung von der Bindungswirkung mangels Glaubhaftmachung einer evidenten inhaltlichen Unrichtigkeit nicht abgewichen werden. Hinsichtlich des Einwands der fehlenden Zustellung trägt der Antragsteller bereits nichts zur inhaltlichen Unrichtigkeit der Bußgeldbescheide im engeren Sinn, also betreffend die (Nicht-) Begehung der geahndeten Tat vor. Der diesbezügliche Vortrag bezieht sich allein auf einen formellen Gesichtspunkt, nämlich die fehlende Zustellung des Bescheids (VG Gelsenkirchen, U.v. 24.1.2017 – 9 K 6775/16 – juris Rn. 70). Im Übrigen hatte der Antragsteller jedenfalls nachweislich der ihm zugestellten Verwarnung vom 15. Juni 2021 Kenntnis über die ihm vorgeworfenen Zuwiderhandlungen, sodass er der Rechtmäßigkeit der Bußgeldbescheide auch frühzeitig hätte nachgehen können. Auch der weitere Einwand, die mit einem Punkt bewehrte Tat vom 27. August 2020 (Bußgeldentscheidung vom 12.10. 2020) nicht selbst begangen zu haben, wäre allein im Rahmen des Wiedereinsetzungsverfahrens zu würdigen. Es kann somit dahinstehen, dass der Vortrag darüber hinaus nicht näher substantiiert wurde.

Der Fahrerlaubnisbehörde ist bei der Ergreifung von Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG kein Ermessen eingeräumt, so dass sie bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigen konnte, dass der Antragsteller beruflich und privat auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist.

2.2. Da die sofortige Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis der summarischen gerichtlichen Überprüfung standhält, verbleibt es auch bei der Verpflichtung zur unverzüglichen Abgabe des Führerscheins aus Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids (§ 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 FeV). Die Zwangsgeldandrohung im Fall der Zuwiderhandlung beruht auf Art. 36 und Art. 31 VwZVG und ist nicht zu beanstanden, ebenso wenig wie die Kostenentscheidung in Nr. 5 des Bescheids.

3. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.

Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, wobei die Klassen B und C1 maßgebend sind. Die Fahrerlaubnisklasse CE (Schlüsselzahl 79) wird nicht streitwerterhöhend berücksichtigt (vgl. Anlage 9 zur FeV Nr. 121). Die Fahrerlaubnisklasse L ist von der Klasse B umfasst, § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV. Der nach Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs in Antragsverfahren zu halbierende Gesamtstreitwert von 10.000 EUR ergibt einen Streitwert von 5.000 EUR.

 

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