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Entbindungsantrag Hauptverhandlung – rechtzeitiger Eingang

KG – Az.: 3 Ws (B) 312/21 – 122 Ss 142/21 – Beschluss vom 26.11.2021

Auf den Antrag des Betroffenen wird die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 29. September 2021 zugelassen.

Auf die Rechtsbeschwerde wird das Urteil aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung — auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde — an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten hat in der für den 29. September 2021 um 13.00 Uhr anberaumten Hauptverhandlung den rechtzeitig eingelegten Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 18. Januar 2021, mit dem gegen den Betroffenen wegen Nutzung eines elektronischen Geräts in vorschriftswidriger Weise in Tateinheit mit fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße in Höhe von 200,00 Euro verhängt worden ist, nach § 74 Abs. 2 OWiG mit der Begründung verworfen, der Betroffene sei der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben.

Zuvor hatte der Verteidiger des Betroffenen mit beim Amtsgericht Tiergarten am 29. September 2021 zwischen 11.22 Uhr und 11.24 Uhr eingegangen Fax Antrag auf Entbindung des Betroffenen von der Präsenzpflicht unter Hinweis darauf, dass der Betroffene die Fahrereigenschaft einräume und sich nicht weiter in der Sache einlasse, und unter Beifügung einer Vertretungsvollmacht gestellt. Über diesen Entbindungsantrag hat das Amtsgericht Tiergarten nicht entschieden. Zu der Hauptverhandlung sind weder der Betroffene noch sein Verteidiger erschienen.

Mit dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde macht der Betroffene die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend, erhebt die allgemeine Sachrüge und beantragt die Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts Tiergarten.

II.

1. Der Senat lässt die Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zu. Das Amtsgericht hat den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt, indem es seinem Antrag, in der Hauptverhandlung nicht persönlich erscheinen zu müssen, nicht entsprochen hat und seinen Einspruch in der Folge ohne Verhandlung zur Sache nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen hat.

2. Die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe den Antrag des Betroffenen, ihn gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, übergangen und daher durch die Verwerfung seines Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, ist in der nach §§ 80 Abs. 3 Satz 3, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Vollständigkeit ausgeführt. Die Verfahrensrüge enthält alle notwendigen Darlegungen (vgl. Senat, Beschluss vom 27. August 2020 – 3 Ws (B) 177/20 -). So hat der Betroffene in der Rechtsmittelschrift vorgetragen, einen Antrag gestellt zu haben, von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden zu werden. Auch wurde dargelegt, wessen der Betroffene beschuldigt wird, dass der Betroffene seine Fahrereigenschaft einräume, keine weiteren Angaben zur Sache machen werde.

Der sonst im Rahmen einer Gehörsrüge erforderlichen Darlegung, was der Betroffene in der Hauptverhandlung vorgetragen hätte, bedarf es hier nicht, weil er nicht rügt, dass ihm eine Stellungnahme zu entscheidungserheblichen Tatsachen verwehrt worden sei, sondern dass das Gericht den Entbindungsantrag seines Verteidigers nicht ausreichend zur Kenntnis genommen hat (vgl. Senat, Beschlüsse vom 5. Juni 2014 3 Ws (B) 288/14 – und vom 8. Juni 2011 – 3 Ws (B) 283/11 -; Brandenburgisches OLG NZV 2003, 432)),

3. Die Rüge ist auch begründet, weil das Amtsgericht den Entbindungsantrag rechtsfehlerhaft übergangen hat.

a) Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG lagen hier vor.

Nach § 73 Abs. 2 OWiG hat das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, er werde sich in der Hauptverhandlung nicht weiter zur Sache äußern, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes nicht erforderlich ist. Der Betroffene hat vorliegend die Fahrereigenschaft eingeräumt und erklärt, keine weiteren Angaben zur Sache zu machen. Die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung ist somit verzichtbar gewesen.

Die Entscheidung über den Entbindungsantrag steht hierbei nicht im Ermessen des Gerichtes, vielmehr ist es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (std. Rechtspr. des Senats, vgl. Beschlüsse vom 1. April 2019 – 3 Ws (B) 103/19 -, vom 11. Dezember 2017 – 3 Ws (B) 310/17 -, und vom 8. Oktober 2012 – 3 Ws (B) 574/12 -, alle juris).

b) Der Entbindungsantrag beruht auch nicht auf missbräuchlichem Verhalten des Verteidigers und ist damit zulässig.

Auch dann, wenn der Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingeht, darf der Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid jedenfalls dann nicht ohne eine vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn der Antrag – wie hier – mit „offenem Visier“, also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht „versteckt“ (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2015, 259) oder „verklausuliert“ (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. April 2017 – IV-2 RBs 49/17 -, juris [Gehörsrügefalle-Rechtsprechung]; OLG Rostock NJW 2015, 1770) eingereicht und bei einer Übermittlung per Telefax an den Faxanschluss der für die betreffende Abteilung des Amtsgerichts und in der gerichtlichen Korrespondenz angegebenen zuständigen Geschäftsstelle und nicht etwa nur an eine zentrale gerichtliche Faxeingangsstelle übersandt worden ist (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Juli 2021 – 3 Ws (B) 194/21- -; BayObLG, Beschluss vom 15. April 2019 – 202 ObOWi 400/19 -; OLG Bamberg, Beschluss vom 23. Mai 2017 – 3 Ss OWi 654/17 -, alle juris).

Zwar ist vorliegend Entbindungsantrag erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingegangen, nämlich am 29. September 2021 zwischen 11.22 Uhr und 11.24 Uhr nur eineinhalb Stunden vor dem für 13.00 Uhr anberaumten Hauptverhandlungstermin. Jedoch ist die Eilbedürftigkeit dadurch hervorgehoben worden (vgl. Senat, Entscheidung vom 10. November 2011 – 3 Ws (B) 529/11 -, juris), dass dem Schriftsatz durch einen zentrierten Kasten grafisch hervorgehoben vorangestellt worden ist: „EILT SEHR! Gerichtstermin am 29.09.2021, 13:00 Uhr“.

Vor allem ist der Entbindungsantrag insofern „mit offenem Visier“ gestellt worden, als dass es sich bei dem dreiseitigen Fax um einen verhältnismäßig übersichtlichen zweiseitigen Schriftsatz mit angehängter Vertretungsvollmacht gehandelt hat. Nach dem Antrag, durch Beschluss zu entscheiden, befindet sich sogleich der Entbindungsantrag fett gedruckt hervorgehoben an zweiter Stelle.

Zudem ist zu bewerten, dass der Verteidiger den Schriftsatz an die auf der Ladung angegebene Faxnummer (bei der Bezugnahme auf die Ladung des „Amtsgerichts Stendal“ auf Seite 10 der Rechtsmittelbegründungsschrift vom 17. November 2021 handelt es sich offensichtlich um einen Schreibfehler), mithin an das Telefaxgerät der Geschäftsstelle gesendet hat und nicht an eine andere Nummer des Amtsgerichts, bei der gegebenenfalls nicht mit einer sofortigen Weiterleitung an die Geschäftsstelle und den Abteilungsrichter zu rechnen gewesen wäre.

Diese Umstände sprechen entscheidend dagegen, vorliegend ein rechtsmissbräuchliches Handeln im Sinne „Gehörsrügefalle“-Rechtsprechung (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. April 2017 a.a.O.; dem folgend: OLG Oldenburg NJW 2018, 641) anzunehmen (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Juli 2021 a.a.O.).

c) Es kommt schließlich nicht darauf an, wann der vom Verteidiger des Betroffenen verfasste Entbindungsantrag dem Amtsgericht tatsächlich vorgelegen hat und ob dies gegebenenfalls erst nach Urteilserlass erfolgte, mithin der Einspruch des Betroffenen in Unkenntnis des Antrags auf Entbindung ohne Sachprüfung verworfen worden ist. Maßgeblich ist vielmehr allein, dass nach Aktenlage der Antrag das Tatgericht vor Beginn der anberaumten Hauptverhandlung tatsächlich erreicht hatte und deshalb bei gehöriger gerichtsinterner Organisation dem Bußgeldrichter rechtzeitig zugeleitet oder sonst zur Kenntnis hätte gebracht werden können (vgl. BayObLG, Beschluss vom 15. April 2019 a.a.O.). Denn vor einer Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG gebietet es die Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht, dass der Richter sich vor der Urteilsverkündung bei seiner Geschäftsstelle informiert, ob dort eine Entschuldigungsnachricht des Betroffenen vorliegt, zumal entsprechende schriftliche oder auch telefonische Mitteilungen bzw. Gesuche erfahrungsgemäß nicht selten noch am Terminstag bei Gericht eingehen (vgl. Senat, Entscheidung vom 10. November 2011 a.a.O.; BayObLG, Beschluss vom 15. April 2019 a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 23.05.2017 a.a.O.).

Hier ist schon angesichts der auf dem Telefax befindlichen handschriftlichen Verfügung („Z.T.“ mit der Datumsangabe „29/9/21″, Rechtsmittelbegründungsschrift, S. 13) fraglich, ob der Entbindungsantrag dem Bußgeldrichter nicht bereits vor dem Termin vorgelegen hat.

Jedenfalls hätte sich der Abteilungsrichter zwischen Beginn der Hauptverhandlung um 13.00 Uhr und Ende der Hauptverhandlung um 13.14 Uhr auf der Geschäftsstelle erkundigen müssen, ob Mitteilungen von Verteidiger und Betroffenem vorliegen.

4. Auf die (unausgeführte) allgemeine Sachrüge kommt es nicht mehr an. Im Übrigen kann der Betroffene damit nicht durchdringen: Die allgemeine Sachrüge führt bei einem Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG nur zur Prüfung, ob Verfahrenshindernisse vorliegen oder Prozessvoraussetzungen fehlen. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

5. Der Senat hebt daher auf die zugelassene Rechtsbeschwerde das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurück.

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