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Bußgeldverhandlung – krankheitsbedingte Verhinderung – Vorlage ärztlichen Attest

KG Berlin – Az.: 3 Ws (B) 143/21 – 162 Ss 114/20 – Beschluss vom 07.06.2021

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Juli 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Gründe

I.

Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen aufgrund des Bußgeldbescheides vom 12. Februar 2019 wegen der Überschreitung der zulässigen innerörtlichen Geschwindigkeit von 60 Km/h um 32 km/h (nach Toleranzabzug) auf der Bundesautobahn 111 eine Geldbuße von 305 Euro und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Der Betroffene hat rechtzeitig Einspruch eingelegt. Diverse Hauptverhandlungstermine mussten wegen einer psychischen Erkrankung und damit einhergehenden körperlichen Beeinträchtigungen des Betroffenen kurzfristig aufgehoben werden. Das Amtsgericht hat daher am 9. Juni 2020 beschlossen, den für Wohnsitz des Betroffenen zuständigen Amtsarzt mit einem Kurzgutachten zur Klärung der Verhandlungs- und Reisefähigkeit zu beauftragen und dem Betroffenen zugleich aufgegeben, sich amtsärztlich untersuchen zu lassen, „für den Fall, dass er beabsichtigt, an dem anberaumten Hauptverhandlungstermin (Ergänzung durch den Senat: am 27. Juli 2020) wegen Verhandlungs- und/oder Reiseunfähigkeit nicht teilzunehmen“.

Der Betroffene erschien zu dem Hauptverhandlungstermin am 27. Juli 2020 nicht. Das Amtsgericht verwarf den Einspruch, da der Betroffene trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen sei und führte darüber hinaus in den Gründen aus, dass die eingereichte dem Beschuldigten Verhandlungs- und Reiseunfähigkeit attestierende ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 24. Juli 2020 zwar ein Krankheitsbild (gemeint sind wohl die ausgewiesenen Diagnosen F43.2 G und F33.1 G), aber keine (konkrete) Darlegung der Auswirkung der Erkrankung ausweise. Ein solches Attest – so sinngemäß die Urteilsgründe – erfülle auch nicht die erhöhten Anforderungen an seine Entschuldigung, die der Betroffene nach Auffassung des Gerichts nur durch das mit der Ladung erbetene amtsärztliche Attest erfüllen könnte.

Der Verteidiger hat rechtzeitig Rechtsbeschwerde eingelegt, die er auf die Verletzung formellen und sachlichen Rechts stützt.

Zur Begründung trägt er u.a. zur Verhandlungsunfähigkeit des Betroffenen vor:

Der Betroffene sei seit 2019 ernsthaft psychisch erkrankt. Nach der mit dem ärztlichen Attest vom 24. Juli 2020 dem Gericht am selben Tag mitgeteilten Diagnose F 33.1 G leide er an einer rezidivierenden depressiven Störung, die sich durch Angstzustände äußere, die ihm ein Verlassen seines Hauses und das Nutzen seines Fahrzeuges fast unmöglich mache. Die eineinhalbstündige Autofahrt zum Amtsgericht Tiergarten sei ihm nicht zuzumuten. Des Weiteren leide er laut Diagnose F42.2 G an einer Anpassungsstörung als Reaktion auf den Verlust der Lebensgefährtin, die sich dadurch äußere, dass seine Gedanken an das Verlusterleben gebunden seien, welches übrige Lebensereignisse in den Hintergrund treten und bedeutungslos erscheinen lassen. Eine Konzentration auf eine Hauptverhandlung sei dadurch unmöglich. Flankiert werde diese Erkrankung durch eine dauerhafte Schmerzbelastung im Rücken. Bei Berücksichtigung aller Umstände sei dem Betroffenen die Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht zuzumuten gewesen.

Diese Umstände seien mit der Richterin in der Hauptverhandlung auch erörtert worden, die die Erkrankung selbst auch nicht, aber ihre konkreten Auswirkungen auf die Verhandlungsfähigkeit des Betroffenen in Frage gestellt habe.

Der Betroffene habe auch die vom Gericht geforderte amtsärztliche Untersuchung absolvieren wollen. Dazu habe er am 20. Juli 2020 telefonischen Kontakt zu dem Amtsarzt aufgenommen, der unter Hinweis auf den fehlenden Auftrag des Amtsgerichts Tiergarten die Begutachtung abgelehnt habe. Er, der Amtsarzt, habe eine Beschlussabschrift nicht erhalten

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt mit ihrer Zuschrift vom 25. Mai 2021, die Rechtsbeschwerde als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.

Zur Begründung verweist sie u.a. auf die unzureichenden Darlegungen zu den konkreten Auswirkungen auf die Verhandlungs- und Reisefähigkeit des Betroffenen. Es bleibe eine pauschale Behauptung eines Krankheitszustandes, die den Tatrichter weder zu weiteren Ermittlungen genötigt habe noch zu der Annahme der ausreichenden Entschuldigung.

II.

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

1. Der Betroffene hat die Verfahrensrüge, die von ihm zur Terminverhinderung geltend gemachten Gründe seien zu Unrecht nicht als ausreichende Entschuldigung angesehen worden, den Anforderungen der §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechend und damit zulässig erhoben. Danach hat die Verfahrensrüge die den Mangel enthaltenen Tatsachen so vollständig mitzuteilen, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein aufgrund der Begründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, unterstellt, die behaupteten Tatsachen treffen zu.

Demnach bedarf es des Vortrages von Tatsachen, die die Entschuldigung des Betroffenen begründen, so dass sich dem Rechtsbeschwerdegericht die Unzumutbarkeit der Terminteilnahme konkret erschließt. Zur Beurteilung der Verfahrensrüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG kommt es nämlich darauf an, ob der Betroffene tatsächlich entschuldigt war, ihm also ein Erscheinen in der Hauptverhandlung aus tatsächlichen Gründen unmöglich oder unzumutbar war.

Im Krankheitsfall zählen dazu neben der Art der Erkrankung auch die aktuell bestehenden Beschwerden und die daraus zur Terminzeit resultierenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen (ständige Rspr.: Senat, Beschluss vom 22. Februar 2018 – 3 Ws (B) 22/18 -).

Der Betroffene hat vorgetragen, dass er wegen des Verlustes seiner Lebensgefährtin an einer seit 2019 bestehenden Anpassungsstörung und einer rezidivierenden depressiven Störung leidet, die sich dadurch äußert, dass er Angstzustände hat, seine häusliche Umgebung nur noch gelegentlich verlässt, längere Autofahrten fast nicht möglich sind, seine sozialen Kontakte deutlich eingeschränkt und seine Gedanken auf das Verlusterleben fixiert sind. Diese psychische Symptomatik wird begleitet von einer Schmerzsymptomatik im Rücken.

Auch teilt die Rechtsbeschwerde mit, dass das Amtsgericht sowohl von der Diagnose als auch von der bestehenden Symptomatik unterrichtete worden war.

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

Der Betroffene war am Termintag ausreichend entschuldigt.

Der Betroffene leidet seit 2019 an einer offensichtlich chronifizierten Anpassungsstörung und einer rezidivierenden depressiven Störung (F42.2 G und F 33.1 G).

Der Vortrag zu den konkreten Auswirkungen der Erkrankung ist noch ausreichend, wobei der Senat nicht verkennt, dass sich die Symptomatik bei psychischen Erkrankungen häufig als diffus darstellt und vielfach nur in ihrer Gesamtheit die Schwelle der Unzumutbarkeit der Teilnahme erreicht.

Gegebenenfalls verbleibende Zweifel, ob diese Beschwerden tatsächlich den Betroffenen ausreichend entschuldigen, hätte die Richterin durch freibeweisliche Ermittlungen ausräumen müssen. Ihr lag ein Attest der Hausärztin und der Name der den Betroffenen seit Jahren behandelnden Neurologin vor.

Dieser Aufklärungspflicht ist die Tatrichterin nicht nachgekommen.

Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht aus dem gerichtlichen Beschluss vom 9. Juni 2020, der nach Auffassung des Gerichts „erhöhte“ Anforderungen an eine ausreichende Entschuldigung des Betroffenen begründet. Es kann dahinstehen, ob die tatgerichtliche Veränderung des Maßstabes, der an eine ausreichende Entschuldigung gestellt wird, zulässig ist. Denn im vorliegenden Fall ist der unklare Beschluss jedenfalls keine ausreichende Rechtsgrundlage für „erhöhte“ Anforderungen. Das Amtsgericht hatte angeordnet, dass sich der Betroffene im Falle seines Nichterscheinens in der Hauptverhandlung am 27. Juli 2020 dem Gericht ein amtsärztliches Attest vorzulegen hat und dass der Amtsarzt mit einem Kurzgutachten zur Frage der Verhandlungs- und Reisefähigkeit des Betroffenen beauftragt wird.

Gibt das Gericht ein Gutachten in Auftrag, muss der Sachverständige auch über den ihm erteilten Auftrag vom Gericht in Kenntnis gesetzt werden. Dies hat das Gericht versäumt, obwohl der Verteidiger – was nicht seine Aufgabe gewesen wäre – rechtzeitig das Gericht auf die Notwendigkeit der Übersendung einer solchen Abschrift an den Beauftragten – eine Selbstverständlichkeit – hingewiesen hat. Der Amtsarzt hat eine Begutachtung gegenüber dem Betroffenen am 20. Juli 2020 unter Hinweis auf die fehlende Benachrichtigung abgelehnt.

Kommt das Gericht aber seiner Mitwirkungspflicht nicht nach, verbietet es sich, eine für den Betroffenen nachteilige Entscheidung auf das fehlende amtsärztliche Attest zu stützen.

Aufgrund der fehlenden Nachforschung hebt der Senat gemäß § 79 Abs. 6 StPO das Urteil mit seinen Feststellungen auf und verweist das Verfahren zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurück.

 

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