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Bußgeldverfahren – Ermächtigung Verteidiger zur Rücknahme/Verzicht von Rechtsmittel

LG Saarbrücken – Az.: 8 Qs 71/19 – Beschluss vom 02.12.2019

1. Die sofortige Beschwerde des ehemals Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts St. Ingbert vom 15.10.2019 (Az: 24 OWi 63 Js 806/19 (1340/19)) wird als unbegründet verworfen.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Beschwerdeführer.

Gründe

I.

1.

Die Zentrale Bußgeldbehörde beim Landesverwaltungsamt des Saarlandes erließ gegen den Beschwerdeführer am 14.11.2018 einen Bußgeldbescheid wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h (festgestellte Geschwindigkeit nach Toleranzabzug 116 km/h bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h). Mit dem Bescheid setzte die Behörde – eine vorsätzliche Tatbegehung unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des OLG Hamm vom 10.05.2016 (4 RBs 91/16) annehmend – eine gemäß § 3 Abs. 4a BKatV gegenüber der Regelsanktion aus Ziffer 11.3.7 der Tabelle des Anhangs (zu Nummer 11 der Anlage) der Verordnung über die Erteilung einer Verwarnung, Regelsätze für Geldbußen und die Anordnung eines Fahrverbotes wegen Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr (Bußgeldkatalog-Verordnung – BKatV) verdoppelte Geldbuße in Höhe von 320,00 € sowie ein einmonatiges Fahrverbot fest.

2.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 26.11.2018 legte der Beschwerdeführer gegen den Bußgeldbescheid Einspruch ein. Nachdem das Amtsgericht St. Ingbert in der Hauptverhandlung vom 03.07.2019 die Einholung eines anthropologischen Gutachtens beschloss, nahm der Verteidiger, Rechtsanwalt S., mit Fax vom 04.07.2019 den Einspruch zurück.

Wörtlich heißt es: „[…] wird der Einspruch gegen den Bußgeldbescheid zurückgenommen.“

In der Folge beauftragte der Beschwerdeführer eine andere Verteidigerin, RA´in Z.-G., mit der Wahrnehmung seiner Interessen. Diese beantragte mit anwaltlichem Schreiben vom 07.08.2019 für den Beschwerdeführer die Wiederaufnahme des Verfahrens.

Es lägen „neue Tatsachen bzw. Beweismittel“ vor, welche die Freisprechung des Beschwerdeführers zu begründen geeignet seien. Die Geschwindigkeitsmessung sei seinerzeit mit dem Messgerät „LEIVTEC XV 3“ durchgeführt worden. Seit Einführung der Software-Version 2.0 würden jedoch keine Rohmessdaten vorgehalten werden. Lägen aber keine Rohmessdaten und Werte von Einzelmessungen vor, könne die Messung nachträglich nicht überprüft werden. Eine fotogrammetrische Prüfung sei ungenau.

Der Beschwerdeführer meint, dieser Umstand, dass Rohmessdaten bei dem Gerät „LEIVTEC XV 3“ nicht vorrätig gehalten werden, sei eine „neue Tatsache“. Diese sei auch geeignet, die Freisprechung zu begründen, was sich aus der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 05.07.2019 (Lv 7/17) ergebe. Eine dem Antrag beigefügte Stellungnahme eines Sachverständigen belege, dass die Rohmessdaten, aus welchen der Geschwindigkeitswert errechnet werde, nach Abschluss der Messung vom dem Messgerät gelöscht würden.

3.

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 15.10.2019 verwarf das Amtsgericht St. Ingbert den Antrag als unzulässig. Maßgebend führt das Amtsgericht aus, die (in dem angefochtenen Beschluss kritisierte) Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes, auf welche sich der Beschwerdeführer maßgeblich berufe, stelle keine neue Tatsache dar.

4.

Mit Fax vom 22.10.2019 erklärte die ehemalige Verteidigerin Z.-G., sie verzichte auf Rechtsmittel gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 15.10.2019.

Wörtlich heißt es: „In der Bußgeldsache […] wird auf Rechtsmittel gegen den Beschluss vom 15.10.2019 verzichtet.“

Gegen den dem Beschwerdeführer per Postzustellungsurkunde am 23.10.2019 zugestellten und der ehemaligen Verteidigerin Z.-G. zudem gegen Empfangsbekenntnis am 28.10.2019 zugestellten Beschluss legt der gegenwärtige Verteidiger K. mit Fax vom 04.11.2019 sofortige Beschwerde ein. Der Verzicht (an anderer Stelle wird irrtümlich von „Rücknahme“ gesprochen) sei unwirksam. Es mangele an einer Ermächtigung durch den Beschwerdeführer. Vielmehr habe vor Abgabe der Verzichtserklärung lediglich eine Rücksprache mit der Mutter des Beschwerdeführers stattgefunden. Im Übrigen vermöge – was ausgeführt wird – die Ansicht des Amtsgerichts nicht zu überzeugen.

5.

Die Kammer hat freibeweislich bei dem im Zwischen- und Hauptverfahren bevollmächtigten Verteidiger, RA S., sowie bei der im Wiederaufnahmeverfahren zunächst bevollmächtigten Anwältin, RA´in Z.-G., Auskünfte zu etwaig bei den entsprechenden Rücknahme- bzw. Verzichtserklärungen vorliegenden Ermächtigungen durch den Beschwerdeführer eingeholt.

Hierbei hat RA S. gegenüber dem Kammervorsitzenden anwaltlich versichert, dass er nach dem Hauptverhandlungstermin vom 03.07.2019 mit dem Beschwerdeführer das weitere Vorgehen beratschlagt habe und dieser ihn zur Rücknahme des Einspruchs ermächtigt habe.

Hingegen hat Rechtsanwältin Z.-G. mitgeteilt und ebenfalls anwaltlich versichert, dass sie nicht mit dem Beschwerdeführer über den Verzicht gesprochen habe, sondern die Verzichtserklärung Resultat einer Information durch den vorher bevollmächtigten Anwalt gewesen sei, der den Verzicht mit der Mutter des Beschwerdeführers besprochen habe.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig (§§ 85 Abs. 1 OWiG i.V.m. 372 S. 1, 311 Abs. 2 StPO), in der Sache jedoch unbegründet.

1.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Dem Wiederaufnahmeverfahren, welches eine „rechtskräftige Bußgeldentscheidung“ (§ 85 Abs. 1 OWiG) zum Gegenstand haben muss, steht nicht entgegen, dass das Amtsgericht bei der Prüfung der Wirksamkeit der Einspruchsrücknahme im Hauptverfahren durch Rechtsanwalt S. ausschließlich und ohne Rückfrage bei dem Rechtsanwalt auf die in der Akte befindliche Vollmachtsurkunde abgestellt hat.

Der Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde steht darüber hinaus die Verzichtserklärung der ehemaligen Verteidigerin nicht entgegen.

a) Die Entscheidung, auf deren Beseitigung das Wiederaufnahmebegehren abzielt, ist rechtskräftig und somit einem Wiederaufnahmeverfahren zugänglich. Dem steht der Umstand, dass das Amtsgericht bei der Prüfung der Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung offenbar ausschließlich auf eine in der Verfahrensakte befindliche Vollmachtsurkunde abgestellt hat, nicht entgegen. Die Einspruchsrücknahme war wirksam.

Ebenso wie für einen Verzicht auf den Einspruch bedarf der erklärende Verteidiger auch für die Rücknahme des Einspruchs nach §§ 67 Abs. 1 Satz 2 OWiG i.V.m. 302 Abs. 2 StPO einer bereits bei Abgabe der Rechtsmittelerklärung vorliegenden besonderen – jederzeit durch formlose Erklärung widerruflichen – ausdrücklichen Ermächtigung eines Betroffenen.

eingereichten Vollmachtsurkunde vom 19.10.2018 (Bl. 17 d.A.) ergibt, welche eine allgemeine Befugnis zur „Einlegung und Rücknahme von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen sowie Verzicht auf solche“ aufführt und die sich nicht auf einen spezifischen Rechtsbehelf oder ein bestimmtes Rechtsmittel bezieht, kann letztlich dahinstehen (vgl. dazu Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019; Rautenberg/Reichenbach in: Gercke / Julius / Temming / Zöller, StPO, 6. Auflage 2019, § 302 Rn. 19; BGH NStZ 2000, 665).

Denn nach Mitteilung des ehemaligen Verteidigers, Rechtsanwalt S., lag zum Zeitpunkt der Abgabe der Rücknahmeerklärung die gemäß § 302 Abs. 2 StPO erforderliche ausdrückliche, an keine bestimmte Form gebundene Ermächtigung durch den Beschwerdeführer vor, nachdem dieser mit dem ehemaligen Verteidiger nach Durchführung des Hauptverhandlungstermins am 03.07.2019 vor dem Amtsgericht St. Ingbert die Verfahrenssituation erörterte und ausdrücklich die Einspruchsrücknahme wünschte. Dies hat Rechtsanwalt S. gegenüber dem Kammervorsitzenden anwaltlich versichert (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 27. März 2019, 4 StR 597/18). Dass dieser Nachweis der zum Zeitpunkt der Rücknahmeerklärung vorliegenden Ermächtigung erst nachträglich erfolgte, ist ohne Bedeutung (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019, § 302 Rn. 33 m.w.N.).

b) Der Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde gegen den Verwerfungsbeschluss des Amtsgerichts St. Ingbert steht nicht entgegen, dass die ehemalige Verteidigerin, RA´in Z.-G., mit Fax vom 22.10.2019 gegenüber dem Amtsgericht ausdrücklich erklärte, dass „auf Rechtsmittel gegen den Beschluss vom 15.10.2019 verzichtet“ wird. Die Verzichtserklärung war unwirksam.

Ebenso wie für die Zurücknahme bedarf die Verteidigerin – über den Wortlaut des § 302 Abs. 2 StPO hinaus – auch für den Verzicht einer ausdrücklichen Ermächtigung (BGH, NStZ – RR 2007, 151; Allgayer in Münchener Kommentar zur StPO, § 302 Rn. 40 m.w.N.). Über eine solche verfügte die ehemalige Verteidigerin des Beschwerdeführers indes nie. Zum einen reichte sie keine vom Amtsgericht St. Ingbert am 22.10.2019 angeforderte Vollmachtsurkunde zur Akte, aus der sich eine solche Ermächtigung unter Umständen hätte ergeben können. Darüber hinaus hat sie gegenüber der Kammer anwaltlich versichert, es sei lediglich mit der Mutter des volljährigen Beschwerdeführers über die Verzichtserklärung gesprochen worden. Somit steht fest, dass die ehemalige Verteidigerin entgegen der Vorschrift des § 302 Abs. 2 StPO operiert hat (zur ggf. rechtsmissbräuchlichen Nutzung in ähnlich gelagerten Konstellationen vgl. Krenberger, jurisPR-VerkR 9/2019 Anm. 5 zu OLG Bamberg, Beschluss vom 3. April 2018, 3 Ss OWi 330/18).

c) Letztlich scheitert die Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde auch nicht daran, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers erst am 04.11.2019 das – fristgebundene (vgl. § 311 Abs. 2 StPO) – Rechtsmittel eingelegt hat, der Beschluss jedoch dem Beschwerdeführer persönlich bereits am 23.10.2019 zugestellt worden war. Denn das Amtsgericht hat aus nicht aktenkundigen Gründen den angefochtenen Beschluss vom 15.10.2019 sowohl dem Beschwerdeführer als auch der ehemaligen Verteidigerin förmlich zugestellt. Maßgebend für den Fristenlauf ist in diesem Fall die zuletzt bewirkte Zustellung (§ 37 Abs. 2 StPO), die bei der ehemaligen Verteidigerin ausweislich des unterzeichneten Empfangsbekenntnisses (Bl. 88 d.A.) – trotz zeitgleicher Versendung durch das Amtsgericht wie an den Beschwerdeführer am 21.10.2019 (Bl. 82 d.A.) – nach einwöchiger Postlaufzeit und fünf Tage nach der Zustellung bei dem Beschwerdeführer dort erst am 28.10.2019 erfolgte.

2.

In der Sache ist der sofortigen Beschwerde der Erfolg zu versagen. Im Ergebnis zu Recht hat das Amtsgericht mit dem angefochtenen Beschluss den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens als unzulässig zurückgewiesen. Die Voraussetzungen des – von dem Beschwerdeführer reklamierten und einzig in Betracht kommenden – Wiederaufnahmegrundes des § 359 Nr. 5 StPO, der für die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftige Bußgeldentscheidung abgeschlossenen Verfahrens gemäß § 85 Abs. 1 OWiG entsprechend Geltung beansprucht, sind nicht gegeben.

Dieser für das Ordnungswidrigkeitenverfahren entsprechend geltende Wiederaufnahmegrund nach § 359 Nr. 5 StPO liegt (im Strafverfahren) dann vor, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind.

Hier liegen weder neue Tatsachen noch neue Beweismittel vor, die geeignet sind, die Freisprechung des ehemaligen Betroffenen zu begründen.

a) Sofern sich der Beschwerdeführer mit seinem Antrag vom 07.08.2019 im Ergebnis auf die vom Verfassungsgerichtshof des Saarlandes in seinem Urteil vom 05.07.2019 angenommene Unverwertbarkeit eines Messergebnisses bei fehlender Speicherung von Rohmessdaten beruft (dort zu dem Gerät „TraffiStar S350“ der Fa. Jenoptik, ablehnend hierzu OLG Karlsruhe, Beschluss vom 06.11.2019, 2 Rb 35 Ss 808/19; OLG Köln, Beschluss vom 27.09. 2019, 1 RBs 339/19; OLG Oldenburg, Beschluss vom 09.09.2019, 2 Ss (OWi) 233/19 = VRR 2019 Nr. 10, 3; KG Berlin, Beschluss vom 02.10.2019, 3 Ws (B) 296/19 – 162 Ss 122/19; kritisch zur Entscheidung des VerfGH des Saarlandes auch Peuker, NZV 2019, 443; Krenberger, NZV 2019, 421) ist hierin keine „neue Tatsache“ im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO zu sehen, sondern eine Änderung der rechtlichen Bewertung, auf die ein Wiederaufnahmeantrag nicht gestützt werden kann.

Unter Tatsachen versteht man in diesem Zusammenhang die in der rechtskräftigen Entscheidung als existierend festgestellten oder die der Entscheidung zugrundeliegenden tatsächlichen Vorgänge, Verhältnisse und Zustände (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019, § 359, Rn. 22f. m.w.N.). Hierbei muss sich die beigebrachte „neue Tatsache” unmittelbar auf die Tat beziehen, also auf den Lebensvorgang, der im Urteil oder der rechtskräftigen Bußgeldentscheidung festgestellt worden ist und der die tatsächliche Grundlage der rechtlichen Bewertung darstellt. Die „neue Tatsache” darf nicht nur die rechtliche Subsumtion selbst betreffen (LG Hannover, Beschluss vom 24.11.69 – 38 Qs 249/69, NJW 1970, 288). Deshalb werden „Rechtstatsachen“, also Rechtsgrundlagen, rechtliche Bewertungen oder Rechtsfolgen, die eine bestimmte Beurteilung von Tatsachen enthalten oder zu einer solchen führen, gerade nicht erfasst (vgl. BGH, Beschluss vom 03.12.1992 – StB 6/92, BGHSt 39, 7587, Rn. 13; LG Hannover, a.a.O. m.w.N.). So rechtfertigen eine bloß fehlerhafte Rechtsanwendung, Änderungen der Rechtslage, beispielsweise bedingt durch Änderung oder Wegfall einer Norm, sowie Änderungen der rechtlichen Bewertung damit ebenso wenig die Wiederaufnahme eines Verfahrens, wie sachlich-rechtliche Fehler der angefochtenen Entscheidung (Schmitt, a.a.O., Rn. 24f. m.w.N.; Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage 2012, § 359 Rn. 75; Seitz in Göhler, OWiG, § 85 Rn. 9 m.w.N.).

Vorliegend stützt der Beschwerdeführer sein Wiederaufnahmeersuchen jedoch auf eine solche „Rechtstatsache“, welche den festgestellten tatsächlichen Vorgang nicht erschüttert. Der Beschwerdeführer beruft sich auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes (SVerfGH, Urteil vom 05. Juli 2019 – Lv 7/17 –, juris), in welcher der Verfassungsgerichtshof die Rechtsauffassung vertritt, Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät „TraffiStar S350“ der Fa. Jenoptik verletzten aufgrund der fehlenden Speicherung von Rohmessdaten das Grundrecht auf ein faires (gerichtliches) Verfahren, welches ein Grundrecht auf effektive Verteidigung einschließe. Ergebnisse eines solchen Messverfahrens seien wegen der verfassungswidrigen Beschränkung des Rechts auf wirksame Verteidigung unverwertbar und die angegriffenen Entscheidungen aufzuheben.

Maßgebend für die Beurteilung des Wiederaufnahmegrundes ist jedoch, dass es sich hierbei ausschließlich um eine Rechtsauffassung zur Verwertbarkeit eines Beweismittels (hier des standardisierten Geschwindigkeitsmessverfahrens mittels „TraffiStar S350“) handelt.

Solche Rechtsprechungsänderungen zur Verwertbarkeit von Beweismitteln im Verkehrsrecht sind aber gerade keine neuen Tatsachen im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO (Krumm, Fahrverbot in Bußgeldsachen, § 23 Wiederaufnahme des Verfahrens Rn. 12, beck-online). Eine „revisionsähnliche Überprüfung“ kann mit dem Rechtsbehelf der Wiederaufnahme nicht erreicht werden (Gössel in Löwe-Rosenberg, a.a.O.). Tatsachen, die allein die rechtliche Bewertung des über Vorwerfbarkeit und Rechtsfolgen entscheidenden Sachverhalts betreffen, erschüttern vielmehr die tatsächliche Urteilsbasis bzw. die Basis der rechtskräftigen Bußgeldentscheidung nicht und scheiden deshalb aus dem Kreis der nach § 359 Nr. 5 StPO berücksichtigungsfähigen Tatsachen aus (Gössel, a.a.O., Rn. 79), was die Kammer bereits mit Beschluss vom 19.11.2019 (8 Qs 70/19) für Verfahren entschieden hat, welche mit dem o.a. Messgerät „TraffiStar S350“ der Fa. Jenoptik durchgeführt worden sind. Nichts Anderes hat für das hier verwendete Messverfahren mit dem Messgerät „LEIVTEC XV3“ des Herstellers LEIVTEC Verkehrstechnik GmbH zu gelten.

b) Soweit der Beschwerdeführer in seinem Beschwerdeschriftsatz ausführt, die „Tatsache der Datenlöschung [sei] nicht Gegenstand im gegen den Betroffenen geführten Ordnungswidrigkeitenverfahren [gewesen] und wurde weder dem Betroffenen noch seinem damaligen Verteidiger Rechtsanwalt S. bekanntgegeben“ übersieht er, wann eine Tatsache, eine solche Tatsachenqualität unterstellt, „neu“ ist. Eine Tatsache ist neu, wenn sie der zur Ahndung berufenen Bußgeldbehörde bei Erlass des Bußgeldbescheides nicht bekannt war und daher nicht berücksichtigt werden konnte. Ob der Beschwerdeführer sie gekannt hat, ist unerheblich (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 359 Rn. 30 m.w.N.). Tatsachen, die bereits vor der angefochtenen Entscheidung tatsächlich bekannt und berücksichtigt wurden, können grundsätzlich nicht als neu angesehen werden.

Der Umstand, dass das Messgerät „LEIVTEC XV 3“ keine Rohmessdaten speichert, war der Zentralen Bußgeldbehörde zum Zeitpunkt des Erlasses des Bußgeldbescheides jedoch bekannt.

Das Amtsgericht St. Ingbert, welches in dem damaligen Verfahren noch als Gericht des Begehungsortes nach den Vorschriften einer im Saarland aufgrund von § 68 Abs. 3 OWiG erlassenen „Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit bei Einsprüchen gegen Bußgeldbescheide wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten nach dem Straßenverkehrsgesetz und wegen Ordnungswidrigkeiten nach dem Personenbeförderungsgesetz“ vom 27. November 2007 zuständig war und erst seit 01.01.2018 gemäß § 68 Abs. 1 OWiG für Entscheidungen über Einsprüche gegen Bußgeldbescheide der Zentralen Bußgeldbehörde mit Sitz in St. Ingbert zuständig ist, hatte mit Urteil vom 26.04.2017 – mehr als ein Jahr vor der hiesigen Tatbegehung – u.a. in dem Verfahren 2 OWi 379/16 (abrufbar u.a. bei juris) im Sinne des Wiederaufnahmebegehrens entschieden und Messungen mit dem Gerät „LEIVTEC XV 3“ in der Softwareversion 2.0 für unverwertbar erklärt. Diese im Saarland vereinzelt gebliebene (so auch die Entscheidung desselben damals zuständigen Abteilungsrichters des AG St. Ingbert in 2 OWi 378/16) Entscheidung war der Bußgeldbehörde – und davon ausgehend auch der, wie der Kammer bekannt ist, seit Jahren dort beschäftigten Sachbearbeiterin M. J. – aufgrund ihrer etwaigen Tragweite natürlich bekannt. Gleichwohl hat die Behörde die Ergebnisse des betroffenen standardisierten Messverfahrens mit dem Messgerät „LEIVTEC XV 3“ (vgl. zuletzt Saarländisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 14.11.2019, SsRs 32/2019 (65/19)) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung der Obergerichte (vergl. u.a. OLG Celle, Beschluss vom 17.05.2017, 2 Ss OWi 93/17; OLG Stuttgart, Beschluss vom 23.05.2018, B4 Rb 16 Ss 380/18; KG Berlin, Beschluss vom 12. Juli 2017, 3 Ws (B) 166/17; OLG Köln, Beschluss vom 26. Februar 2019, 1 RBs 69/19 = DAR 2019, 399) weiterhin als verwertbar angesehen und die Sachbearbeiter gerade nicht dahingehend instruiert, solche Verfahren nicht mehr zu verfolgen.

Soweit der Beschwerdeführer vorträgt, die Tatsache der Datenlöschung sei „weder dem Betroffenen noch seinem damaligen Verteidiger bekanntgegeben worden“, konstruiert er zudem eine gesetzlich nicht vorgesehene und sich auch außerhalb der Grenzen der Hinweispflicht des § 265 StPO bewegende Informations- und Fürsorgepflicht der Behörde für uninformierte Betroffene und Verteidiger über Umstände, die im Ergebnis unerheblich sind.

3.

a) Sofern der Beschwerdeführer mit seinem Antrag die Einholung eines Sachverständigengutachtens begehrt und als Sachverständigen den Dipl.-Ing. W. benennt, der die Löschung der „Rohmessdaten“ oder „Simulationsdaten“ belegen werde, fehlt es an der „Eignung“ im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO, allein oder in Verbindung mit den früher zur Ahndung beanspruchten Beweisen die Freisprechung des Beschwerdeführers zu begründen.

Zwar ist der erstmals benannte Sachverständige, der bislang im Verfahren nicht gehört wurde, ein „neues Beweismittel“ im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO (vgl. Engländer/Zimmermann, StPO, § 359 Rn. 52 m.w.N.) – auch wenn Kern des Vortrags die gewünschte Übertragbarkeit der der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes zum Messgerät „TraffiStar S350“ zugrundeliegenden, jedoch nicht durch einen technischen Sachverständigen zu beantwortende Rechtsfrage zur Verwertbarkeit einer Messung bei fehlenden Rohmessdaten ist –, dieses ist aber nicht geeignet, eine günstigere Entscheidung im Sinne des Wiederaufnahmeziels zu begründen.

Eine Wiederaufnahme kommt nur in Betracht, soweit bei gedanklicher Einfügung der als richtig unterstellten und bewerteten Tatsachen in die Entscheidungsgründe die den Schuldspruch tragenden Feststellungen ernstlich erschüttert werden. Die neuen Tatsachen oder Beweismittel müssen hierbei imstande sein, durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit der Bußgeldentscheidung in tatsächlicher Hinsicht begründen zu können. Dabei hat das Wiederaufnahmegericht eine schon im Zulassungsverfahren vorzunehmende Wahrscheinlichkeitsprognose anzustellen, die nach Wertungsgesichtspunkten zu treffen ist und bei der im Wege einer hypothetischen Schlüssigkeitsprüfung unter Beurteilung der Zuverlässigkeit eines als neu bewerteten Beweismittels und dessen Beweiskraft zu fragen ist, ob der in Rechtskraft erwachsene Bußgeldbescheid bei deren Berücksichtigung anders ausgefallen wäre. In diesem Prüfungszusammenhang verlangt das Wiederaufnahmerecht schon nach dem Wortlaut der §§ 359 Nr. 5, 368 StPO bereits im Additionsverfahren eine konkrete Geeignetheitsprüfung dahingehend anzustellen, ob eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht, um aus Gründen der Prozessökonomie eine Prüfung der Begründetheit bei offenkundig erfolglosen Wiederaufnahmeanträgen entbehrlich zu machen.

Im Rahmen dieser konkreten Geeignetheitsprüfung, ob die beigebrachte „neue Tatsache“ oder das „neue Beweismittel“ die Bußgeldentscheidung ernstlich zu erschüttern vermögen, ist in gewissem Umfang eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung zulässig. Neue Tatsachen und Beweismittel können daher auf ihre Beweiseignung und ihren Beweiswert im Wege der Beweisantizipation überprüft werden. Dabei hat sich das für das Wiederaufnahmeverfahren zuständige Gericht auf den in der angegriffenen Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Standpunkt der Person zu stellen, welche die frühere Bußgeldentscheidung getroffen hat (Seitz in Göhler, OWiG, § 85 Rn. 9), wobei das Gericht an die Beweiswürdigung, hierin implementiert die angenommene Verwertbarkeit der Messung durch die Bußgeldbehörde, von deren Standpunkt aus die Prüfung vorzunehmen ist, gebunden ist. Das zur Prüfung der Wiederaufnahme berufene Gericht hat daher zu prüfen, ob die Entscheidung bei Berücksichtigung der „neuen Tatsachen“ oder der „neuen Beweise“ anders ausgefallen wäre. Zweifelt das Gericht daran, dass das neue Vorbringen geeignet ist, die Grundlagen der in Rechtskraft erwachsenen Bußgeldentscheidung zu erschüttern, so ist der Antrag als unzulässig zu verwerfen. Der Grundsatz in dubio pro reo hat in diesem Zusammenhang keine Bedeutung (Schmitt, a.a.O., § 368 Rn. 10).

Ein Wiederaufnahmegesuch ist nach diesen Grundsätzen folglich unzulässig, wenn die erstrebte Beweiserhebung nach dem bisherigen Erkenntnisstand als nicht erfolgversprechend oder nutzlos erscheint und die in Rechtskraft erwachsene Entscheidung dadurch offensichtlich nicht zu erschüttern ist.

b) Auch unter Beachtung dieser Grundsätze ist das Vorbringen nicht geeignet, die Feststellungen des rechtskräftigen Bußgeldbescheides zu erschüttern. Zu Recht hat das Amtsgericht darauf verwiesen, dass der Grad der Speicherung der Zentralen Bußgeldbehörde bei dem Messverfahren mit dem Messgerät „LEIVTEC XV 3“ bekannt ist (und zum Zeitpunkt des Erlasses des in Rechtskraft erwachsenen Bußgeldbescheides bekannt war) und diese trotz der dort bekannten fehlenden Speicherung die Messergebnisse für verwertbar erachtete.

Der neue Sachverständigenbeweis könnte (und würde) daher lediglich zu dem allgemeinkundigen und nicht neuen, weil seit spätestens 2017 auch der Bußgeldbehörde bekannten und tatsächlich unbestrittenen Ergebnis führen, dass „Rohmessdaten“ von dem Messgerät „LEIVTEC XV 3“ in der zum Vorfallzeitpunkt benutzten Softwareversion nicht vollständig vorrätig gehalten wurden und damit nur das wiederholen, was bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Bußgeldbescheides bekannt war – ohne, dass dies Einfluss auf die Entscheidung hatte und auch nicht haben würde.

Wie der Kammer für Bußgeldsachen aus der Presseberichterstattung sowie aus Rücksprachen mit der Bußgeldbehörde im Vor- und Nachgang der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes bekannt ist, war die Unsicherheit über die Auswirkungen der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs freilich maßgebend dafür, dass zwischenzeitlich zwar Messungen mit dem hier durchgeführten Verfahren „LEIVTEC XV 3“ (sowie mit dem Gerät „PoliScan Speed“ der Fa. Vitronic) rein vorsorglich ausgesetzt waren, nunmehr jedoch wegen unverändert angenommener Verwertbarkeit der Messergebnisse aufgrund hinreichender nachträglicher Überprüfungsmöglichkeiten wiederaufgenommen wurden. Von einer solchen Verwertbarkeit der Messergebnisse geht auch das nunmehr für Einsprüche gegen Bußgeldbescheide der Zentralen Bußgeldbehörde sachlich zuständige Amtsgericht St. Ingbert – im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung – aus (vgl. AG St. Ingbert, Urteil vom 29. Oktober 2019, 25 OWi 66 Js 1919/19 (2968/19) [juris]).

Die unter Würdigung der im Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens sowie in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Einwände würden daher auch mangels Geeignetheit zu keiner anderen Bewertung durch die Bußgeldbehörde führen.

4.

Letztlich berechtigt auch § 46 SVerfGHG i.V.m. §§ 359 ff. StPO nicht zur Wiederaufnahme des abgeschlossenen Verfahrens, da vorliegend nicht der Fall einer gemäß § 45 SVerfGHG als nichtig festgestellten Rechtsvorschrift gegeben ist.

Auch ein Fall des § 79 BVerfGG, wonach die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der StPO zulässig ist, wenn ein rechtskräftiges Strafurteil (nach h.M. auch auf rechtkräftige Bußgeldentscheidungen anwendbar, vgl. Lutz in KK-OWiG, 5. Auflage 2018, § 85 Rn. 21 m.w.N.; a.A. BayObLG, NJW 1962, 2166) auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist, liegt nicht vor.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.

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